Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin
Stand: 23.11.2021 | 09:51 Uhr | Lesedauer: 7 Minuten
WELT: Im November 2020 sah sich Deutschland kurz vor der Triage. Jetzt ist wieder November, und erneut ist von Triage die Rede. Was ist schiefgelaufen, Herr Kekulé?
Alexander Kekulé: In diesem November ist vieles völlig anders als vor einem Jahr. Bei gleichen Fallzahlen gibt es dank der Impfungen nicht mehr so viele Krankenhaus-Einweisungen und Todesfälle.
Wir haben heute eine Inzidenz über 300, vor einem Jahr sind wir bei 50 in den Lockdown gegangen, und ich würde sagen, dieses Jahr sind wir allerspätestens bei 500 in dieser Situation. In diese Richtung steuern wir aber, und es stellt sich dringend die Frage: Wo ist der kurzfristige Notfallplan für die nächsten Wochen?
WELT: Klar ist, das strategische Kernstück sollen situationsgebundene 2G-, 2G-plus- und 3G-Regeln sein - am Arbeitsplatz, bei Veranstaltungen und in Restaurants.
Kekulé: Das allein wird nicht funktionieren.
Sie ist deshalb so gefährlich, weil diese Menschen glauben, sie seien geschützt.
WELT: Hat man die Wirkung der Impfstoffe überschätzt?
Kekulé: In den USA ist tatsächlich die Rede vom falschen Versprechen der Impfung. Ich schließe mich da ungern an, weil die Impfungen ja gegen schwere Verläufe weiterhin gut schützen. Ich würde eher von einem falschen Versprechen der Bundesregierung reden.
Es gab einen Werbeclip zur Primetime mit Menschen ohne Maske auf Konzerten, Massenveranstaltungen, alle dicht an dicht. Das Motto lautete: Impfen für die Freiheit. Als der Spot lief, war jedoch schon klar, dass es so nicht funktioniert, weil es keine Herdenimmunität bei Coronaviren gibt. Auch können Geimpfte weiterhin ansteckend sein.
Trotzdem gab es diese Vorstellung, oder vielleicht war es auch Wunschdenken, und da stellt sich schon die Frage:
WELT: Die Wirksamkeitsdaten zumindest der mRNA-Impfstoffe waren überwältigend
Kekulé: Man hätte sie längst an die Delta-Variante anpassen können. Dass die weltweit vorherrschend werden würde, war spätestens seit März klar, und da stellt sich mir die Frage, warum das nicht geschehen ist.
Der Chef von Pfizer hat vor einigen Wochen gesagt, dass der an Delta angepasste Impfstoff bereits im Regal steht. Da stellt sich die Frage, warum wir mit dem gegen die ursprüngliche Wuhan-Variante entwickelten Impfstoff boostern, statt die neu angepassten Vakzine zu verimpfen.
WELT: Warum können die nicht produziert und ausgeliefert werden?
Kekulé: Es ist keineswegs geklärt, ob ein abgewandelter Impfstoff unter derselben Zulassung weiterlaufen kann. Eigentlich müssten die Hersteller dann neue Wirksamkeitsstudien vorlegen. Ob noch einmal die fantastische Effektivität von 95 Prozent herauskäme, ist nicht vorhersehbar.
Zudem ist die Durchführung solcher Studien nicht trivial und kann teuer werden. Deshalb drängen Pfizer und Moderna darauf, für die Boosterung noch einmal die alten Produkte zu verwenden.
WELT: Hat Sie die Vielzahl der Impfdurchbrüche überrascht?
Kekulé: Das habe ich anfangs nicht erwartet. Als im November letzten Jahres die Wirksamkeitsdaten der Impfstoffe vorgestellt wurden, dachte ich, der Schutz vor schweren Verläufen ist so gut, dass wir die Inzidenz in Deutschland in wenigen Monaten unter Kontrolle bekommen. Dann kam die Delta-Variante, und es wurde klar, dass wir dieses Ziel mit diesen Impfstoffen nicht erreichen werden.
Jetzt ist es eine Tatsache, dass in den Krankenhäusern fast jeder zweite Patient über 60 Jahren vollständig geimpft ist. Bei den Verstorbenen ist die Quote ähnlich. 37 Prozent der Intensivpatienten über 60 sind doppelt geimpft. Es ist einfach so, dass der Impfstoff gegen die Delta-Variante nicht gut genug schützt.
WELT: Wieviel Resteffekt bleibt da übrig?
Kekulé: Für die besonders gefährdeten Menschen ab 60 Jahren liegt der Schutzfaktor bezüglich schwerer Erkrankungen bei etwa eins zu zehn. Wenn sie geimpft sind, haben sie eine etwa zehnmal höhere Chance, nicht wegen Covid-19 ins Krankenhaus zu müssen. Umgekehrt bedeutet es, dass von 100 Leuten, die eigentlich im Krankenhaus gelandet wären, jetzt trotzdem noch zehn eingeliefert werden müssen.
Das ist eine Quote, mit der wir uns nicht beliebig viele Infizierte leisten können. Zumal wenn sich die momentan 57 Millionen Geimpften in Deutschland auch noch unvernünftig verhalten, weil die Bundesregierung ihnen mit 2G eine falsche Sicherheit einredet. Die andere Hälfte des Problems sind die über drei Millionen Ungeimpften, die 60 oder älter sind. Die sollten wir dringend überzeugen, sich impfen zu lassen.
WELT: Dazu kommen etwa sieben Millionen Impfverweigerer. Haben Sie für manche von Ihnen Verständnis?
Kekulé: Es gibt viele, die aus persönlichen Gründen zurückhaltend sind. Schwangere zum Beispiel oder jene, die auf konventionelle Impfstoffe warten, die nicht auf mRNA-Basis gründen. Interessante Studien zeigen, dass die Ansteckungsgefahr bei vorsichtigen Ungeimpften geringer ist als bei denjenigen Geimpften, die glauben, ihnen könne nichts passieren.
WELT: Momentan eskaliert der Umgangston. Die Rede ist von der "Tyrannei der Ungeimpften"
Kekulé:
WELT: Dort brachte Boostern das Geschehen unter Kontrolle. Könnte das auch bei uns funktionieren?
Kekulé: Diese Herbstwelle lässt sich durch Impfungen nicht mehr einfangen, dafür ist es jetzt zu spät. Voraussichtlich lassen sich auch viele junge Menschen impfen, wenn man, wie jetzt geplant, ohne Priorisierung boostert. Aber das ist zur Vermeidung schwerer Krankheitsverläufe nicht notwendig und wird auch keinen kurzfristigen Effekt auf die Infektionszahlen haben.
Entscheidend ist die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Geimpften über 60 von Anfang an nicht richtig immun war. Weil sie mit AstraZeneca oder Johnson & Johnson geimpft wurden, die anfangs besser verfügbar waren. Viele Ältere waren nur scheinimmun, weshalb man auch nicht sechs Monate mit der dritten Spritze warten sollte.
Besser sind vier Monate, die US-Gesundheitsbehörde CDC prüft sogar eine Auffrischung schon nach zwei Monaten. Die Boosterung der über 60-Jährigen und der Schutz der Risikogruppen müssen jetzt Vorrang haben.
WELT: Der Virologe Christian Drosten warnt vor bis zu 100.000 Toten zusätzlich im Winter. Wie sehen Sie das?
Kekulé: Diese Zahl kann ich nicht unterschreiben. Aber letztlich ist es nicht wichtig, ob ich vor 20.000 zusätzlichen Toten in diesem Winter warne oder Christian Drosten vor 100.000. Wir können Opferzahlen in dieser Größenordnung einfach nicht riskieren.
WELT: Statt der Inzidenz soll jetzt der Hospitalisierungs-Index der neue Maßstab sein. Ist es richtig, die Inzidenz abzuschreiben?
Kekulé: Nein, das ist ein Fehler. Wir dürfen nicht beliebig viele Menschen sterben lassen, nur weil die Krankenhäuser noch nicht voll sind. Der Hospitalisierungs-Index ist für sich alleine ein gefährlicher Gradmesser, weil er im Vergleich zur Inzidenz nur verzögert reagiert.
Quelle: welt.de