Post-Vac-Syndrom Unerklärliche Symptome nach der Coronaimpfung - und alle ducken sich weg

Von Katherine Rydlink
12.06.2022, 13.44 Uhr

Sie wollten sich und andere schützen, nun leiden einige Geimpfte offenbar an diffusen Symptomen. Die Betroffenen fühlen sich von der Politik im Stich gelassen. Unter manchen Ärzten scheint das Thema ein Tabu zu sein. Die meisten Betroffenen fühlen sich mit ihren Beschwerden alleingelassen (Symbolbild)
Foto: Basak Gurbuz Derman / Getty Images

Das Taubheitsgefühl kommt und geht. Heute sind es der kleine und der Ringfinger der linken Hand. Manchmal ist es einer der anderen Finger oder der ganze Arm. Das linke Bein und der Fuß kribbeln permanent. Wie tausend Nadelstiche fühle sich das an, so beschreibt es Martina Wirth*. Sie spielt gern Klavier, jetzt hat sie oft Schwierigkeiten, ihre Finger so flink zu bewegen, die Tasten zu erfühlen, den richtigen Druck auszuüben. "Es ist mal schlimmer, mal besser und kommt in Wellen", sagt sie. "Aber es ist nie ganz weg."

Wirth, 56, lebt in Berlin und arbeitet in der Verwaltung des Bundestags. Die Taubheit in ihrer linken Körperhälfte begann vor mehr als einem Jahr: drei Tage nach ihrer Coronaimpfung.

Als Martina Wirth sich am 8. Mai 2021 endlich impfen lassen kann, ist sie erleichtert. Sie leidet an Colitis ulcerosa, einer chronischen Darmentzündung, und hat damit ein erhöhtes Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf. "Das erste Pandemiejahr haben mein Mann und ich uns quasi eingeschlossen, hatten kaum soziale Kontakte", erzählt sie. "Ich hatte solche Angst, mich anzustecken." Bei ihrem Impfarzt habe sie noch gescherzt, dass sie am Tag der Befreiung geimpft werde, sei ein gutes Zeichen: "Für mich war es wie eine Befreiung vom Virus, die Impfung erschien mir wie die Rettung."

Doch statt der Rettung kam das Kribbeln. Sie bekam den mRNA-Impfstoff des Herstellers Moderna. "Schon kurz nach der Impfung hat es angefangen, da habe ich noch gedacht, ich bilde mir das ein", sagt W. Nach dem Termin fuhr sie in ihre Datsche, um dort das Wochenende zu verbringen. Das Kribbeln ließ ihr keine Ruhe, breitete sich weiter aus, zuerst im Fuß, dann in der gesamten linken Körperhälfte. "Als mein Gesicht linksseitig taub war, bekam ich Angst", erinnert sie sich. "Auch das Ohr war taub, mein Unterkiefer fing an, wahnsinnig zu schmerzen, ich konnte kaum kauen." In der Nacht schlief sie schlecht, hatte Panikattacken. Wirth glaubte zunächst, sie habe einen Schlaganfall. Sie fuhr in die Notaufnahme der Berliner Charité. Die Ärzte fanden weder Anzeichen für einen Schlaganfall noch andere Ursachen für das Kribbeln.

Auch die Neurologin, die sie danach aufsuchte, fand nichts. "Aber sie sagte mir, ich sei nicht die erste Patientin mit solchen Symptomen nach der Impfung", erzählt Wirth.

"Wie in einem Blubberbad"

Im Forum "Nebenwirkungen der Covid Impfungen" finden sich Dutzende Berichte über ähnliche Erfahrungen. Von Sehstörungen, Muskelzuckungen, Herz- und Lungenbeschwerden, Schwindel, Stechen in Kniekehlen und Waden oder Brainfog wird dort berichtet. Eine Nutzerin schreibt: "Ich habe in den Beinen und Armen das Gefühl, dass in meinem Körper Gefäße zerplatzen. Es ist, als wenn man in einem Blubberbad liegt." Unter dem Posting reihen sich die "So ist es bei mir auch"-Kommentare. Die diffusen Symptome fingen bei den Betroffenen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung an und können, so wird es beschrieben, nicht durch andere Ursachen erklärt werden.

Das Phänomen hat sogar einen Namen: "Post-Vac-Syndrom", Nach-Impfung-Syndrom. Die andauernden kognitiven und neurologischen Störungen erinnern an eine Krankheit, über die ebenfalls noch wenig bekannt ist, an der aber mittlerweile Hunderttausende Menschen in Deutschland leiden: Post Covid, die Langzeitbeschwerden nach einer Covid-19-Infektion.

Mehr zum Thema

Langzeitfolgen nach Covid-Infektion: Hundert Symptome, Hunderttausende Kranke Von Milena Hassenkamp

Medikament BC 007 bei Spätfolgen: Gibt es bald ein Mittel gegen Long Covid? Von Katherine Rydlink

Coronafolgen: Freedom Day oder nicht, Long Covid ist ein ernstes Problem Eine Kolumne von Margarete Stokowski

Während es für Long- und Post-Covid-Patienten mittlerweile eigene Ambulanzen gibt, haben die Post-Vac-Patienten kaum Anlaufstellen. Nur zwei Unikliniken in Deutschland nehmen derzeit Verdachtsfälle auf, die nach ihrer Coronaimpfung unerklärliche Symptome entwickelt haben, die Charité in Berlin und die Uniklinik in Marburg.

Bernhard Schieffer, Klinikdirektor der Kardiologie in Marburg, leitet die dort eigens eingerichtete Spezialsprechstunde "Post-Vax" . Er wirkt besorgt und ein wenig hilflos, wenn er über diese Patientengruppe spricht. "Es sind meist junge Menschen, die aus ihrem Alltag herausgerissen werden, wir sehen mehrheitlich Frauen", sagt er. "Ob ihre Symptome tatsächlich von der Impfung kommen, wissen wir nicht. Es scheint aber, dass zumindest bei einem Teil der Patienten etwas durch die Impfung getriggert wurde, etwa in Form einer Reaktivierung früherer Viruserkrankungen oder einer Autoimmunreaktion. Das könnte zu Gefäßproblemen führen, die wiederum für die Symptome verantwortlich sind." Zwei Thesen, die auch als mögliche Ursachen für Post oder Long Covid gehandelt werden.

Bernhard Schieffer, Kardiologe in Marburg: "Bei einem Teil der Patienten durch die Impfung getriggert"
Foto: UGKM

"Es kann schon sein, dass es sich dabei um ähnliche Prozesse handelt", sagt Schieffer. Aber man könne das nur herausfinden, wenn die Beschwerden systematisch erhoben würden. Die Hersteller der Impfstoffe sind per Gesetz dazu verpflichtet, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Verdachtsfälle von Impfkomplikationen zu erfassen. Moderna gibt auf SPIEGEL-Nachfrage an, dass auf Grundlage der aktuellen Daten nicht bekannt sei, dass die Impfung Ursache für gesundheitliche Langzeitfolgen ähnlich denen bei Long Covid sein könnte.

Für die Gesamtüberwachung der Arzneimittelsicherheit ist in Deutschland das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) zuständig. Es sammelt die Meldungen von Verdachtsfällen von Impfkomplikationen, um die Sicherheit der Impfstoffe zu überwachen. Im aktuellen Sicherheitsbericht vom 31. März tauchen tatsächlich einige Nebenwirkungen auf, die auch im Post-Vac-Forum genannt werden: Kopfschmerzen, Ermüdung, Schwindel, Herzrasen. Parästhesien, etwa Taubheit und Kribbeln, wie Martina Wirth sie beschreibt, wurden im Berichtszeitraum bei rund 7 von 100.000 Geimpften gemeldet. Bezogen auf die Gesamtzahl der rund 65 Millionen Geimpften in Deutschland wären das insgesamt rund 4500 Betroffene - allein mit Kribbeln und Taubheitsgefühlen.

Einige Betroffenenberichte deuten auf ein Beschwerdebild hin, das ebenfalls häufig bei Long-Covid-Patienten, aber auch nach anderen Viruserkrankungen vorkommt: ME/CFS, eine komplexe Erkrankung, die unter anderem mit chronischer Schwäche einhergeht. Dem PEI seien wenige Fälle von ME/CFS in unterschiedlichem zeitlichen Abstand zu einer Covid-Impfung gemeldet worden, berichtet das Institut auf Anfrage. Das Problem ist, dass die Diagnose ME/CFS nicht einfach zu stellen ist, da es an spezifischen Biomarkern fehlt: Wenn es keine eindeutige Diagnose gibt, kann auch die Krankheit nicht als solche ans PEI gemeldet werden. Eine deutlich höhere Anzahl von Meldungen erhielt das Institut demnach über "lange andauernde Müdigkeit nach Covid-19-Impfungen". Doch auch diese Symptomatik sei nur bei einem geringen Teil medizinisch bestätigt - damit fehlt dem PEI die Grundlage für eine abschließende Beurteilung.

Tabu unter Ärzten?

Mehr zum Thema
Chronisches Fatigue-Syndrom: "Man kann sein Leben verlieren, ohne zu sterben" Von Nina Weber

Und genau da liegt die Krux: Das PEI kann nur mit Daten arbeiten, die ihm entweder von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten oder den Patientinnen und Patienten selbst gemeldet werden (hier geht es zum Meldeformular von Impfnebenwirkungen ). Doch in den meisten Fällen ist ein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und Symptomen nicht nachweisbar.

Christian Bogdan ist Direktor des Instituts für Klinische Mikrobiologie, Immunologie und Hygiene der Uniklinik Erlangen und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko). Die Stiko hatte vor allem im zweiten Pandemiejahr viel damit zu tun, die Coronaimpfstoffe wissenschaftlich zu bewerten und Impfempfehlungen auszusprechen. Sollte es begründete Bedenken hinsichtlich der Sicherheit eines Impfstoffs für eine bestimmte Gruppe geben, hätte die Stiko einschreiten müssen. So wie sie es etwa nach dem Auftreten der Sinusvenenthrombosen nach der Impfung mit AstraZeneca oder den Herzmuskelentzündungen (Myokarditis) nach der Impfung mit mRNA-Impfstoffen getan hat.

"Bislang sind mir keine wissenschaftlichen Erhebungen bekannt, dass nach einer Covid-Impfung gehäuft immunologische Langzeitnebenwirkungen auftreten", sagt er. "Grundsätzlich kann jede Impfung, auch die Impfung gegen Covid-19, unerwünschte Immunantworten entweder auslösen oder verstärken. Dieses Risiko ist jedoch sehr gering im Vergleich zu möglichen unerwünschten Immunreaktionen nach einer Sars-CoV-2-Infektion, wo der Körper mit viel höheren Antigenmengen konfrontiert wird". Doch der reine Verdacht helfe nicht weiter, man könne aus der prinzipiellen Möglichkeit nicht einfach eine Kausalität ableiten. "Wir haben zum Höhepunkt der Impfkampagne in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen täglich geimpft. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen täglich eine Krankheit oder zunächst unerklärliche Symptome entwickeln, ist es sehr wahrscheinlich, dass bei vielen der Betroffenen auch ohne die Impfung die Beschwerden aufgetreten wären", so Bogdan. "Da die Menschen im Rahmen der Impfkampagne gegen Corona geimpft wurden, gehen jedoch manche automatisch davon aus, dass ihre Beschwerden ursächlich mit der Impfung zusammenhängen. Hier muss man unbedingt aufklären und andere, wahrscheinlichere Ursachen zwingend ausschließen."

"Wenn man bedenkt, wie viele Menschen vor der Pandemie täglich erkrankt sind oder unerklärliche Symptome entwickelt haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass viele der Betroffenen auch ohne die Impfung Beschwerden entwickelt hätten."
Christian Bogdan

Ein weiteres Problem, das in Gesprächen mit Ärztinnen und Ärzten schnell deutlich wird: Selbst wenn die Mediziner einen Verdacht haben, dass es sich um Impfnebenwirkungen handeln könnte, melden sie ihn offenbar nicht immer. Eine Hausärztin, die sich an den SPIEGEL wandte, sagt, es sei ein Tabuthema in ihrer Zunft, negative Auswirkungen der Impfung zu thematisieren. Außerdem habe gerade während der Coronakrise oft die Zeit gefehlt, mögliche Nebenwirkungen zu melden, zumal der Zusammenhang mit der Impfung nicht eindeutig nachgewiesen werden könne.

"Es ist ein riesengroßes Tabuthema in der Ärzteschaft, obwohl viele die Nebenwirkungen beobachten", glaubt Bernhard Schieffer. "Gestandene Kollegen wollen mit dem Thema nichts zu tun haben, es ist ihnen zu heiß." Kaum ein Arzt wolle den Impfgegnern in die Hände spielen. Es sei extrem heikel: "Alles, was mit der Impfung zu tun hat, ist emotional aufgeheizt. Negative Berichte über die Coronaimpfung sind ja auch juristisch nicht ganz unproblematisch."

"Gestandene Kollegen wollen mit dem Thema nichts zu tun haben, es ist ihnen zu heiß."
Bernhard Schieffer

Dabei, so Schieffer, müsse man die möglichen Nebenwirkungen nüchtern und rein wissenschaftlich betrachten: "Es scheint einige Menschen zu geben, bei denen nach der Impfung gewisse Symptome auftreten. Ob die tatsächlich von der Impfung kommen oder von etwas ganz anderem, das muss man erforschen, ohne es zu politisieren." Trotz der Berichte ist davon auszugehen, dass die Mehrheit der Ärzte Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen sorgfältig ans PEI meldet, so wie es ihre Pflicht ist. Dennoch befindet sich die Ärzteschaft in einer unangenehmen Gemengelage: Sie müssen die von der Bundesregierung beworbene Impfkampagne umsetzen und möglichst viele ihrer Patientinnen und Patienten von der Impfung überzeugen. Gleichzeitig sehen sie diejenigen, die danach Beschwerden entwickeln, meist erst Wochen oder Monate nach der Impfung - es ist kaum möglich, so spät einen Zusammenhang herzustellen.

Langzeitnebenwirkungen können nach jeder Impfung auftreten, nicht nur nach den Coronaimpfungen. Die nach den mRNA-Impfungen beobachteten Herzmuskelentzündungen etwa treten Studien zufolge in ähnlicher Häufung auch nach Grippeimpfungen auf. Nach der Impfung gegen die Schweinegrippe erkrankten auffällig viele Menschen an Narkolepsie, einer unheilbaren Schlafkrankheit. Dem Hersteller des Impfstoffs GlaxoSmithKline (GSK) wird bis heute vorgeworfen, dass er frühe Warnsignale ignorierte.

Doch die Covid-Impfstoffe gehören zu den weltweit am besten überwachten Arzneimitteln, die es je gegeben hat. Eine Häufung bestimmter Nebenwirkungen bedeutet nicht automatisch, dass die Mittel für alle riskant sind. "Wir wollen einfach nur verstehen, warum das Immunsystem bei manchen falsch abbiegt und wie wir sie am besten therapieren können", sagt Schieffer. Sein Team sammle daher derzeit die Daten der Patienten, um eine demografische Erhebung zu machen. Auch das PEI will eine "robuste epidemiologische Studie" aufsetzen.

Martina Wirth hat keinen Arzt, der sich für ihre Beschwerden zuständig fühlt. In eine spezielle Post-Vac-Sprechstunde wie etwa in Marburg ist sie bisher nicht gegangen: "Dafür sind meine Symptome nicht schlimm genug, ich möchte den Wartelistenplatz nicht für solche besetzen, denen es viel schlechter geht." Tatsächlich sind die nächsten freien Termine in Marburg derzeit erst im März 2023. Wie viele andere Betroffene fordert Wirth, dass die Long-Covid-Ambulanzen auch für Menschen mit ähnlichen Symptomen ohne vorherige Covid-Infektion geöffnet werden sollten. Der Marburger Chefarzt Schieffer hat das in seiner Ambulanz bereits gemacht. "Man könnte das bundesweit so festlegen, aber das würde voraussetzen, dass die Politik dieses Thema anerkennt", sagt er.

Fragt man das Bundesgesundheitsministerium, warum das Thema Langzeitnebenwirkungen nach Covid-Impfungen politisch nicht transparenter und größer diskutiert wird oder ob es Erwägungen gibt, die Long-Covid-Ambulanzen auch für Post-Vac-Betroffene zu öffnen, verweist ein Sprecher auf das PEI als nachgeordnete Behörde. Auch zur Frage, inwiefern Post-Vac-Betroffene entschädigt werden sollen, sollte man tatsächlich einen Zusammenhang ihrer Beschwerden mit der Impfung herausfinden, will das BMG keine Stellung beziehen.

Martina Wirth ist enttäuscht. Schließlich habe sie sich nicht nur zum eigenen Schutz impfen lassen, sondern auch weil die Regierung propagierte, die Impfung sei das wichtigste Mittel im Kampf gegen die Pandemie. Wirth wollte sich solidarisch verhalten, ihren Teil beitragen. Und jetzt? "Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass die Impfung ein wichtiges Mittel ist, um das Coronavirus zu besiegen", sagt sie. "Aber es ist eben nicht für alle ein gutes Mittel." Ob sie sich noch einmal impfen lassen würde, sollte im Herbst eine neue Coronawelle anrollen? "Im Moment kann ich mir das nicht vorstellen", sagt sie. "Lieber schließe ich mich wieder mehr oder weniger zu Hause ein und reduziere meine Kontakte." Ihre Angst vor den Folgen der Impfung ist mittlerweile größer als die Angst vor den Folgen der Infektion.

* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir den Namen der Protagonistin geändert.


Quelle: spiegel.de