Stand: 09.02.2022 | Lesedauer: 5 Minuten
Von David Jiménez
WELT: Frau Coetzee, in welchem Stadium der Pandemie befinden wir uns gerade?
Angelique Coetzee: Wenn ich auf die vorherigen Wellen schaue, bewegen wir uns in Südafrika auf ein Ende zu. Aber gegenwärtig können wir noch nicht von einem Übergang in ein endemisches Stadium sprechen. Es gibt ein klares Muster, denn zwischen jeder Welle hatten wir eine Schonzeit von etwa drei Monaten mit einer sehr geringen Infektionsrate. Aus dieser Erfahrung heraus können wir sagen, dass uns die fünfte Welle etwa im Mai oder Juni erwartet. Nehmen wir an, sie kommt: Dann entspräche das dem bekannten Muster. Wenn wir jedoch bis Ende des Jahres keine fünfte Welle haben, dann ist der Zeitpunkt gekommen, um zu sagen: Nun sind wir in der Endemie.
WELT: Haben die Regierungen bei Omikron angesichts der niedrigeren Krankheitslast überreagiert?
Coetzee: Ich denke ja - sie haben definitiv überreagiert. Als wir darzulegen versuchten, dass es eine milde Erkrankung sei, sagten aufgrund der Anzahl von Mutationen alle, das stimme nicht. Die Leute wollten nicht glauben, dass es mild verlaufen kann. Man muss auf die Wissenschaft hören, aber man muss dabei das Krankheitsbild berücksichtigen, das die Ärzte beschreiben - das, was sie sehen, denn sie sind die erste Anlaufstelle. Und dann muss beides in Einklang gebracht werden. Sie müssen immer die Balance zwischen dem klinischen Bild und der Wissenschaft halten - das ist hier nicht passiert.
Lesen Sie auch
Endemische Phase
Wie Europa Corona hinter sich lässt - außer Deutschland
WELT: Denken Sie, dass es an der Zeit ist, die Maßnahmen zu lockern, oder ist es zu früh?
Coetzee: Zunächst müssen wir lernen, mit diesen Varianten zu leben - egal ob endemisch, ob es eine neue Welle gibt oder eine Welle mit neuen Varianten. Zweitens müssen wir lernen, unseren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen, wenn wir uns und die Menschen um uns herum schützen wollen. Wir müssen impfen, aber wir können uns nicht aus einer Pandemie herausimpfen.
WELT: Nein?
Coetzee: Die Lösung ist eine Kombination von Maßnahmen. Ja, das Impfen ist wichtig, aber wenn Sie eine Welle kommen sehen, ist die wichtigste Maßnahme zu Beginn, dass Menschen Masken tragen und Abstand halten, also nicht-pharmazeutische Maßnahmen. Das muss durchgesetzt werden. Es wird einem Staat nicht helfen, die Grenzen zu schließen, denn das Virus macht an Grenzen nicht Halt.
WELT: Aber in manchen Ländern wird immer noch genau so gehandelt.
Coetzee: Man macht sich damit selbst etwas vor. Man glaubt, man tut etwas Gutes für die Allgemeinheit, aber tatsächlich schafft man keinen Mehrwert.
Lesen Sie auch
Japan
Wenn selbst die härtesten Maßnahmen gegen Omikron chancenlos sind
WELT: Es heißt, Sie wurden angehalten, Omikron als genauso schwerwiegend darzustellen wie die vorherigen Varianten. Stimmt das?
Coetzee: Mir wurde gesagt, ich solle öffentlich nicht erklären, dass es eine milde Erkrankung sei. Ich wurde gebeten, von derartigen Äußerungen Abstand zu nehmen und zu sagen, es sei eine ernste Erkrankung. Das habe ich abgelehnt.
WELT: Was bedeutet das?
Coetzee: Ich bin Klinikerin und dem Krankheitsbild zufolge bestehen keine Anzeichen dafür, dass wir es mit einer sehr ernsten Erkrankung zu tun haben. Der Verlauf ist überwiegend mild. Ich sage nicht, dass man bei einem milden Verlauf nicht krank wird. Die Definition einer milden Covid-19-Erkrankung ist eindeutig, und das ist eine WHO-Definition: Patienten können zu Hause behandelt werden, und eine Versorgung mit Sauerstoff oder Hospitalisierung ist nicht erforderlich. Eine schwere Erkrankung ist eine, in deren Verlauf wir akute Lungen-Atemwegsinfektionen sehen: Die Menschen brauchen Sauerstoff, vielleicht sogar eine künstliche Beatmung. Das haben wir bei Delta gesehen - aber nicht bei Omikron. Ich habe den Leuten also gesagt: "Ich kann das so nicht sagen, denn es ist nicht das, was wir sehen."
Lesen Sie auch
Corona-Pandemie
Das Omikron-Missverständnis
WELT: Aus welchem Grund hat man verhindert, dass Sie die Wahrheit sagen?
Coetzee: Sie haben es versucht, aber sie haben es nicht geschafft. Was ich irgendwann einmal gesagt habe - weil ich es einfach leid war -, war: In Südafrika sei dies eine milde Erkrankung, aber in Europa sei es eine sehr ernste. Das war es ja, was Ihre Politiker hören wollten.
WELT: Woher kam dieser Druck?
Coetzee: Es ist doch nur eines wichtig: Ich habe mich geweigert. Man wird mich nicht zum Schweigen bringen. Ich hatte recht. Hätte ich unrecht, würde ich um Verzeihung bitten.
WELT: Kam der Druck von westlichen Regierungen oder südafrikanischen Behörden?
Coetzee: Nicht von südafrikanischen Behörden.
WELT: Also von Staaten der westlichen Welt?
Coetzee: Ich beteilige mich nicht an politischen Kämpfen. Aber ja, von einigen Ihrer (der europäischen, Anm. d. Red) Länder wurde ich kritisiert. In den Niederlanden, in Großbritannien fragten Wissenschaftler: "Wie können Sie erklären, dass es eine milde Erkrankung ist? Es ist eine schwere Erkrankung. Schauen Sie sich die Mutationen an." Meine Berichte haben sie aus der Spur gebracht. Dabei muss man sich in einer Pandemie nun mal auch ansehen, was an der Basis passiert. Bei den Hausärzten, die täglich Erkrankte behandeln, muss nachgefragt werden, was sie erleben, wie sich das Krankheitsbild darstellt.
WELT: Die Politik trifft also Entscheidungen, ohne auf die Mediziner zu hören, die an der Basis arbeiten?
Coetzee: Wie viele Ärzte, die wirklich nah an den Patienten dran sind, wurden bei Ihnen nach ihrer Meinung gefragt? Immer zählt die Meinung des Wissenschaftlers oder der Professorin, die nie mit einem Patienten in Berührung kommen. Niemand fragt, was an der Basis passiert.
Lesen Sie auch
Krankenhausinzidenz
Wie die Politik mit verzerrten Klinik-Zahlen Corona-Maßnahmen begründet
Lesen Sie auch
Thomas Voshaar
"Wer jetzt nicht öffnen will, sollte sich fragen, was eigentlich noch fehlt"
WELT: Haben wir im Blick auf die Balance zwischen Gesundheitsschutz und Schutz der Wirtschaft falsche Entscheidungen getroffen?
Coetzee: Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir vieles falsch gemacht haben. Es gibt viel Not da draußen. Es gibt viele Vorschriften, die keinen Sinn ergeben.
WELT: Besteht Hoffnung, dass wir unsere Lektion lernen?
Coetzee: Wir sind dabei, zu lernen, aber wir sind keine schnellen Lernenden. Wir lernen langsam. Es hängt alles von der politischen Lage ab und davon, wie einige innerhalb der Wissenschaft ihre eigene Agenda voranbringen wollen.
WELT: Einige Wissenschaftler hätten nicht das Gemeinwohl im Sinn, sondern sich selbst - das ist eine gravierende Aussage. Glauben Sie das wirklich?
Coetzee: Ja, ich denke schon. Man muss sichergehen, dass sämtliche Wissenschaftler erklären, ob sie Verbindungen zu Pharmaunternehmen haben und ob sie finanziell belohnt werden, wenn sie bestimmte Produkte fördern. Man muss wissen, welche Interessen sie verfolgen. Dem Ziel, dass die Gesundheit der Bevölkerung an erster Stelle steht, muss alles untergeordnet werden.
Lesen Sie auch
"Stufenpläne"
Deutschlands kriechender Corona-Ausstieg hat einen hohen Preis
Quelle: welt.de