Zweifelhafte Belegung Mit Intensivbetten Kasse machen? Wir müssen bei den Kliniken jetzt genau hinschauen

FOCUS-Online-Redakteur Matthias Hochstätter

Samstag, 06.11.2021, 20:00

Die Intensivbetten werden wieder knapp, warnen die deutschen Kliniken. Wichtige Operationen müssten deswegen verschoben werden. Doch diese Aussagen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn für ihre Intensivbetten kassierten und kassieren die Kliniken in der Pandemie viele Milliarden Euro zusätzlich. Waltraud Grubitzsch/dpa-Zentralbild/dpa
Covid-19-Station in der Uniklinik Leipzig Ende März

"Auf den Intensivstationen würden weniger Corona-Patienten liegen, wenn sich mehr Personen impfen lassen würden", sagt der geschäftsführende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Mittwoch. Doch der Impffortschritt lahmt in Deutschland.

Unterdessen grassiert das Virus weiter. Gerade in der kalten Jahreszeit steigen die Inzidenzen wieder. Die Intensivstationen füllen sich wie vergangenes Jahr mit Covid-Patienten. Überwiegend Senioren, die noch nicht geimpft sind oder noch keine Auffrischungsimpfung erhalten haben. Gerade wegen der aggressiveren Delta-Variante des Coronavirus empfehlen Gesundheitsexperten solch einen "Booster".

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) schlägt bereits Alarm. Immer mehr Betten auf den Intensivstationen seien gesperrt, warnt die Divi. Nur rund 22.000 Intensivbetten stünden für Erwachsene zur Verfügung, rechnet die Divi vor - etwa 4000 weniger als noch vor einem Jahr. Auf etwa 2200 lägen derzeit Covid-Patienten.

Die Aussagen der Divi sind mit Vorsicht zu genießen. Immerhin handelt es sich bei dem Verein auch um eine Interessengemeinschaft der Intensivmedizin, also auch ein Stück weit um Lobbyisten im Dienst der Krankenhäuser. Und in der Vergangenheit gab es schon einmal Wirbel um angeblich zu wenig gemeldete Intensivbetten.

Divi-Statistik: "Deutschlandweit muss man die Zahlen vorsichtiger interpretieren"

Erstens: Es gibt keine flächendeckende Überlastung. Jonas Schreyögg, Gesundheitsmanager von der Uni Hamburg und Mitglied des Sachverständigenrates beim Bundesgesundheitsministerium, sagt: "Das Divi-Register ist in der Corona-Pandemie ein Fortschritt. Vorher wussten wir nicht, wie viele Intensivbetten in Deutschland zur Verfügung stehen. Die Meldungen sind zwar verpflichtend, bieten aber nur ein ungefähres Bild der Lage. Vor allem regional gibt das Register wertvolle Hinweise zu Überlastungen. Deutschlandweit muss man die Zahlen vorsichtiger interpretieren."

Auf Anfrage von FOCUS Online konnte selbst die Divi nicht gänzlich ausschließen, dass die Krankenhäuser inkorrekte Zahlen melden, obwohl Falschnennungen strafbar sind. Und kleinere Kliniken würden aus Angst vor Überforderung eher "zurückhaltender bei der Meldung sein", so Schreyögg.

Zweitens: Im internationalen Vergleich verfügt Deutschland über sehr, sehr viele Intensivbetten. Alle OECD-Länder kommen mit wesentlich weniger Betten aus. Deutschland hat derzeit rund 30 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Norwegen etwa acht, Dänemark sieben, Großbritannien sieben und die Niederlande etwa sechs Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Schweden hatte vor der Pandemie nur rund sechs Betten und verdoppelte in der Pandemie auf elf pro 100.000 Einwohner. Die rund 22.000 dem Divi gemeldeten Betten sind auch alle mit Personal unterfüttert: Ein Bett ist derzeit nach Gesetzeslage der Pflegepersonaluntergrenzen betriebsbereit, wenn der Schlüssel 2:1 am Tag und 3:1 in der Nacht eingehalten werden kann.

An Intensivbetten mit bereitstehendem Pflegepersonal mangelt es Deutschland also nicht. Doch in diesen liegen allzu oft Patienten, die eine lukrative, aber keinesfalls dringend notwendige Operationen erhalten haben. Diese sogenannten "elektiven" Operationen müssen nun verschoben werden. Sie binden im Anschluss an die OP Intensivbetten, aber auch Pflegepersonal. Um wie viele Patienten handelt es sich, und welche Operationen sind das genau? Ein Sprecher der Deutschen Krankenhausgesellschaft zu FOCUS Online: "Genaue Zahlen gibt es nicht, aber es sind vor allem massenhaft Hüftoperationen, die verschoben werden müssen."

Immer informiert: News zur Corona-Pandemie - Briten lassen vielversprechende Anti-Covid-Pille Molnupiravir zu - die EU prüft noch

Das bestätigt auch eine Umfrage des Marburger Bundes vom März: An erster Stelle der aufzuschiebenden OPs stehen bei Deutschlands Kliniken die "Endoprothesen" - künstliche Hüft- und Kniegelenke. Deutschland ist übrigens Weltmeister bei Hüftoperationen. Nirgendwo auf der Welt werden laut OECD so viele Hüften generalüberholt wie in Deutschland: rund 400.000 Stück im Jahr, davon sind etwa die Hälfte Hüftprothesen.

Und jedes Jahr müssen rund 35.000 Kunstgelenke wieder ausgewechselt werden, weil sie nicht so lange halten wie geplant. Künstliche Hüft- und Kniegelenke, aber auch Bandscheiben-OPs, von denen viele Hausärzte abraten, gehören im harten Überlebenskampf der deutschen Kliniken zum Brot-und-Butter-Geschäft. Der anschließende Aufenthalt auf der Intensivstation - gerade bei den älteren Hüftgelenkspatienten - ist nun wegen Covid-Belegungen oft nicht möglich.

Gesundheitsexperte Schreyögg bestätigt gegenüber FOCUS Online: "Es werden demnächst wieder verstärkt elektive - also terminierbare - Operationen verschoben, die einen Aufenthalt auf der Intensivstation nach sich ziehen können. Beispielsweise Hüftgelenksoperationen bei älteren Menschen. Dies geht dann mit Einnahmeverlusten der Krankenhäuser einher."

15 Milliarden Euro Entschädigung vom Spahn-Ministerium für die Kliniken

Covid verdirbt also das Geschäft der Klinik-Manager. Daher muss der Bund einspringen. Für die verschobenen Operationen gab es in der Vergangenheit milliardenschweren Ersatz: Rund 15 Milliarden Euro zahlt Minister Spahns Bundesamt für Soziale Sicherung den Kliniken aufgrund der Pandemie. Diese Ausgleichszahlungen gibt es jedoch nur, wenn die Kapazität der freien Intensivbetten in Stadt oder Landkreis unter 25 Prozent sinkt.

In der ersten Jahreshälfte kam daher im Zuge eines Berichts des Bundesrechnungshofs der Verdacht auf, dass Krankenhäuser absichtlich zu wenige freie Intensivbetten melden würden. Auf valide Daten wird jedoch weiterhin verzichtet. Die Divi fragt nur bei auffälligen Betten-Meldungen im Krankenhaus nach.

Fazit: Noch-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat es versäumt mit einer Krankenhausreform den ruinösen Wettbewerb zwischen zu vielen Krankenhäusern einzudämmen. Die laut Bundesrechnungshof und OECD maßlose Operationswut deutscher Krankenhäuser sichert den Kliniken das Überleben. Die dafür benötigten Intensivbetten werden nun teils durch Pandemie-Patienten belegt. "Elektive" Operationen werden verschoben. Die Einnahme-Ausfälle wiederum bezahlt dann der Bund. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Viele Operationen werden nachgeholt. Kliniken können so doppelt kassieren. Ein Irrsinn.

Um auf das Zitat von Jens Spahn eingangs zurückzukommen: Auf den Intensivstationen würden ebenfalls weniger Patienten liegen, müssten die Krankenhäuser nicht so viele Hüftgelenke einsetzen, um sich über Wasser zu halten. Das deutsche Gesundheitssystem gerät auf alle Fälle nicht erst wegen Corona an seine Grenzen. Es liegt schon seit Jahrzehnten am Tropf der Beitrags- und Steuerzahler. Ausbaden müssen es zudem die Pflegekräfte.


Quelle: focus.de