Medien über Corona Unsicherheiten wurden nicht ausreichend transparent gemacht

Stand: 08.11.2021 | Lesedauer: 8 Minuten

Von Christian Meier

Medienredakteur

Wie Medien über die Corona-Pandemie berichten, ist Gegenstand scharfer Debatten. Zu sehr an der Regierungslinie, zu fokussiert auf einzelne Experten, zu apokalyptisch - alle diese Vorwürfe gibt es. Eine wissenschaftliche Auswertung liefert nun interessante Einsichten. Corona in den Medien: Sicherheit geht vor?
Quelle: picture alliance/dpa

Gerade hat sich mal wieder Christian Drosten zu Wort gemeldet. Der bekannteste Virologe der Republik hat eine Laudatio bei der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises gehalten. "Wir werden noch lange zu knabbern haben an der Aufarbeitung der Pandemie", hat er dort gesagt. Und weiter: "Eine Nachbesinnung ist nicht nur in der Politik und der Wissenschaft, sondern unbedingt auch im Journalismus nötig." Und noch weiter, in Abwandlung eines Luhmann-Zitats: "Unsere Realität ist das, was die Medien uns spiegeln."

Drosten hat recht: Die immer noch nicht besiegte Corona-Epidemie findet für die allermeisten Menschen am Bildschirm, vor dem Radio oder auf Papier statt. Selbst, wenn sie selbst oder Angehörige und Freunde am Virus erkranken, bekommen sie immer nur einen winzigen Ausschnitt der Epidemie mit - für das "größere Bild" benötigen sie Informationen, die in erster Linie von Medien verbreitet werden.

Es ist darum keine Frage, dass die Entwicklung der Pandemie, der Einstellung der Bevölkerung zur Covid-Krise und die entsprechenden Konsequenzen, die sich daraus ergeben, von Medien beeinflusst werden. Genauso wie Medien umgekehrt in ihrer Berichterstattung auf Entwicklungen in der Bevölkerung reagieren. Die Medien tragen - wie natürlich sonst auch - eine Verantwortung, die in diesem Fall aber sogar noch größer ist als ohnehin schon.

Breit angelegte Studie

Eine breit angelegte Studie der Medienwissenschaftler Marcus Maurer, Carsten Reinemann und Simon Kruschinksi, die am Montag auf einer Konferenz der Rudolf Augstein Stiftung vorgestellt wird, will nun fundamentale Fragen zur bisherigen Corona-Berichterstattung klären. Analysiert wurden von einem Team Beiträge in elf Leitmedien, darunter sieben Onlineangebote ("FAZ", "Süddeutsche", "Bild", "Spiegel", "Focus", "t-online", WELT) und vier Fernsehformate ("Tagesschau", "heute", "RTL Aktuell", "ARD Extra"), im Zeitraum zwischen Januar 2020 und April 2021. Vom Team codiert (also inhaltlich ausgewertet) wurden rund 5200 Beiträge.

Zu Beginn ihrer empirischen Studie "Einseitig, unkritisch, regierungsnah?" (hier zum Download bei der Augstein-Stiftung) konstatieren die Medienforscher, die an der Gutenberg-Universität Mainz und der LMU München forschen und lehren, ein hohes Maß an Unsicherheit in der Berichterstattung, vor allem in der Anfangsphase der Pandemie im Frühjahr 2020. Hier hätten sich viele Medien sehr an offiziellen und etablierten Quellen orientiert. Das ist einerseits nachvollziehbar, andererseits spiele aber auch der Effekt der "Koorientierung" eine Rolle, wenn sich Medien an anderen Medien orientieren und deren Position quasi übernehmen. Damit sei auch die Gefahr verbunden, dass ein zu großer Gleichklang unter den Medien entsteht, was wiederum die Abhängigkeit von offiziellen Quellen eher noch verstärkt.

Als negativ vermerken die Medienwissenschaftler, dass die Unsicherheiten von Prognosen zur Entwicklung von Corona in der Regel nicht ausreichend transparent gemacht wurden. Stattdessen seien Prognosen häufig als gesichert dargestellt worden. Bemerkenswert sei daran auch, dass zunächst unsichere Zukunftsprognosen aufgestellt wurden, ohne dies ausreichend kenntlich zu machen - und im Nachhinein kritisch berichtet wurde, dass diese Prognosen nicht eingetroffen sind.

Während die Medien zu einem Thema informieren, es analysieren und kommentieren, bildet sich die Öffentlichkeit dazu eine Meinung. Berichterstattung und Meinungsbildung bedingen sich gegenseitig. Hier diagnostizieren die Medienforscher anhand der kontinuierlich erhobenen Meinungsumfragen eine "überraschend große Stabilität des persönlichen Bedrohungsempfindens" in der Bevölkerung. Heißt: zu keiner Zeit habe es eine "Corona-Panik" gegeben, die Akzeptanz der Corona-Maßnahmen sei hoch gewesen - auch wenn der Anteil der Stimmen, die Maßnahmen für übertrieben gehalten haben, über den Verlauf der Pandemie hinweg stieg. Mit der Entstehung der sogenannten Querdenker-Bewegung gab es zudem auch eine ausgeprägte Gegenbewegung zur Regierungslinie.

Doch der Anteil der Befragten, die die Corona-Berichterstattung grundsätzlich positiv bewertete, überwog demnach deutlich die negativen Stimmen. Hier weisen die Forscher darauf hin, dass ein Anteil von rund 20 Prozent Kritikern in etwa dem Anteil der Bevölkerung entspricht, der klassischen Medien generell nicht vertraue. Es gebe einen "deutlichen Zusammenhang zwischen Medienvertrauen in traditionelle Nachrichtenmedien und der Meinung zu Corona und den Maßnahmen". Womit, das stellen die Forscher auf Nachfrage klar, nicht jede kritische Stimme zur Corona-Berichterstattung mit einer grundsätzlichen Ablehnung von klassischen Medien gleichzusetzen sei.

Was nun ist bei der Analyse der Berichterstattung herausgekommen? Einige der wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

Relevanz: Der absolute Höhepunkt der medialen Berichterstattung lag laut der Auswertung, gemessen an der Menge der veröffentlichten Beiträge, in der ersten Welle. Obwohl die Zahl der an Corona gestorbenen Menschen in der zweiten und dritten Welle größer war als in der ersten Welle - die Pandemie so gesehen darum letztlich an Relevanz über die Monate zugenommen hat. Dies sei möglicherweise so zu begründen, dass gerade am Anfang mehr zu erklären war - und eine Steigerung der massiven medialen Fokussierung auf Corona auch nicht mehr denkbar gewesen wäre.

Vielfalt: Unter allen in der Berichterstattung handelnden Personen dominierten die Politiker mit einem Anteil von 47 Prozent um Längen vor Wissenschaftlern und Ärzten, die auf einen Anteil von 19 Prozent kamen. Dramatisch niedriger fiel laut der Auswertung der Anteil der von einer Corona-Infektion betroffenen Personen aus - er habe nur bei 1,2 Prozent gelegen. Sogar knapp darüber lagen die "Corona-Skeptiker" mit einem allerdings ebenfalls nur knappen Anteil von 1,6 Prozent.

Corona-Experten im Wandel der Pandemie
Quelle: Infografik WELT

Von den Politikern wurden vor allem Regierungsmitglieder und hier vor allem Unionspolitiker genannt und zitiert. Politiker von FDP, Grünen, Linke und AfD kamen demnach weitaus seltener vor. Bei den Wissenschaftlern, die als Corona-Erklärer besonders häufig in Beiträgen auftauchten, dominierten vor allem zwei Personen. In der ersten Phase der Virologe Christian Drosten, der mehr Aufmerksamkeit bekam als alle anderen Experten zusammen, darunter auch Hendrik Streeck und Alexander Kekulé. Spätestens Anfang 2021 löste der SPD-Politiker und Epidemiologe Karl Lauterbach den Charité-Professor Drosten als "Cheferklärer" in den Medien ab. Lauterbach, folgern die Medienforscher, "war wohl deshalb ein gern zitierter Experte, weil viele Medien dessen harte Linie im Kampf gegen die Pandemie kannten und schätzten."

Ein Ungleichgewicht ergab sich laut Auswertung auch bei der Auszählung der in Medien beschriebenen Folgen von Corona. Während sich die Beschreibung gesundheitlicher und wirtschaftlicher Folgen in der ersten Welle in etwa die Waage hielten, wurde später vor allem über die gesundheitlichen Folgen berichtet. Die wirtschaftlichen Folgen, aber auch die sozialen Folgen und die Folgen für die Bildung von Schülern und Studenten, fielen dahinter stark ab, bzw. kamen fast nicht vor.

Und auch bei der Analyse der gesundheitlichen Folgen fiel auf, dass die positiven Auswirkungen von politischen Maßnahmen in den ausgewerteten Beiträgen weitaus häufiger angeführt wurden als negative gesundheitliche Folgen - vor allem keine negativen gesundheitlichen Folgen als Folge der Corona-Maßnahmen, beispielsweise Depressionen.

Berichte über Folgen von Corona
Quelle: Infografik WELT

Sachlichkeit: Im Vergleich zwischen sachlicher und emotionaler Berichterstattung dominierte über die untersuchten Medien hinweg die sachliche. Allerdings gab es Abstufungen, so erzielte die "Tagesschau" der ARD die höchsten Werte bei Sachlichkeit, den geringsten Überhang an Sachlichkeit hatte die Sendung "Corona-Extra", ebenfalls von der ARD. Auf einen vergleichsweise geringeren Überhang kam demnach auch WELT. Ein als "emotional" gewerteter Bericht habe nichts mit der Einordnung "richtig" oder "falsch" zu tun, erklären die Medienforscher auf Nachfrage. "Emotional" bedeute, dass ein Beitrag eine emotionale Sprache verwende, Formulierungen wie beispielsweise "Killer-Virus" oder "Leichenberge" verwendet wurden, oder auch kommentierende Einordnungen wie "Es ist ärgerlich…".

Die Medienforscher weisen in ihrem Bericht auch auf die Grenzen der Sachlichkeit hin, so habe sich Corona in den Medien "von einer Katastrophe mit menschlichem Leid zu einer eher sachlich abgehandelten Zahlenschlacht" entwickelt.

Richtigkeit: Auffällig war demnach, dass sich nur 9 Prozent der ausgewerteten Beiträge mit dem Virus selbst und den Krankheitsbildern beschäftigt haben. "Es wurde zu wenig über das Virus selbst, seine Eigenschaften und den Vergleich zur Grippe berichtet", heißt es im Bericht. Der eingeforderte Vergleich meint hier, dass dadurch eine stärkere Abgrenzung des Coronavirus zum Grippevirus angemessen gewesen wäre. Rund 90 Prozent der Beiträge, die sich mit den Erkenntnissen der Wissenschaft beschäftigten, hätten den wissenschaftlichen Konsens hervorgehoben, nur in 10 Prozent sei es um den wissenschaftlichen Dissens gegangen.

Ausgewogenheit: Den öfter gehörten pauschalen Vorwurf, Medien hätten zu unkritisch über die Akteure der Krise und die Corona-Maßnahmen berichtet, entkräften die Medienwissenschaftler anhand ihrer Auswertung. Allerdings ging die Kritik in beide Richtungen. In rund 26 Prozent der Beiträge, in denen Corona-Maßnahmen bewertet wurden, war der Tenor, dass die Maßnahmen zu weit gingen. Allerdings war der Tenor in rund 31 Prozent solcher Beiträge, dass die Maßnahmen gerade nicht weit genug gingen. Rund 44 Prozent dieser Beiträge bewerteten die Maßnahmen als angemessen.

Einordnung der Corona-Maßnahmen in Medien (gerundete Zahlen)
Quelle: Infografik WELT

Die stärkste Positionierung für strengere Maßnahmen fanden sich demnach bei den Angeboten von "t-online", "heute" und "ARD Corona Extra". Am anderen Ende des Spektrums lagen "faz.net" und "Bild.de", also mit einem Überhang von Beiträgen, in denen die Maßnahmen als zu weitreichend gewertet wurden.

In allen untersuchten Medien überwogen die negativen Urteile über die Politik, hier fielen die Urteile bei WELT und "Spiegel" im Vergleich besonders häufig negativ aus (aus welchem Grund sie negativ ausfielen, spielt bei diesem Punkt keine Rolle). Was die einzelnen Akteure angeht, kamen Olaf Scholz und Markus Söder mit jeweils etwa ausgeglichenen positiven und negativen Wertungen gut weg. Der Anteil negativer Wertungen überwog in Berichten über Angela Merkel (70%), Armin Laschet (79%) und der Bundesregierung insgesamt (81%).

Zuletzt ein Blick auf die Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit - einem Topos, der sich durch die gesamte Pandemiezeit zieht und zunehmend heftig debattiert wurde. Im Vergleich dominierten bei den untersuchten Medien die Beiträge mit einer sicherheitsorientierten Perspektive. Besonders ausgeprägt war die Pro-Sicherheit-Bewertung demnach bei ARD, ZDF und RTL. Deutlich mehr Beiträge, die die Freiheit als wichtigstes Gut werteten und entsprechend Corona-Maßnahmen auch kritisierten, erschienen bei "Bild" und WELT.

Damit zurück zu Christian Drosten, dem Virologen, der sich gelegentlich auch als Medienkritiker betätigt. Drosten kann geholfen werden: Die Aufarbeitung von Corona hat in der Medienwissenschaft begonnen - und die Auseinandersetzung mit der Berichterstattung über das Virus wird längst geführt, nicht zuletzt in den Redaktionen selbst.


Quelle: welt.de