Artikel von: RALF SCHULER veröffentlicht am 12.01.2022 - 20:36 Uhr
"Herr Bundespräsident, lassen Sie mich nur noch ganz kurz..."
"Impfpflicht bedeutet Debattenpflicht", so Steinmeier in seiner Vorrede. Er selbst werde sich da nicht einmischen, auch, weil er letztlich ein mögliches Gesetz darüber ja ausfertigen müsse. Aber natürlich gebe es keine "Corona-Diktatur". Das sei "bösartiger Unsinn".
Wie schwierig die nüchterne Lagebewertung ist, versuchte der Modellierer, Prof. Kai Nagel von der TU Berlin, zu erklären. Zwar würden die Corona-Wellen ähnlich aussehen, die innere Mechanik sei aber durchaus verschieden.
Habe die Impfung gegen die Delta-Variante noch gut gewirkt, sei das jetzt bei Omikron anders. Bei den Auffrischungsimpfungen (Booster) gegen Delta sei Deutschland zu spät in die Gänge gekommen, was sich jetzt gegenüber Omikron wieder als Vorteil erweise, weil mehr Leute einen vergleichsweise frischen Booster-Status hätten.
Er könne verstehen, dass junge Menschen mit meist leichten Verläufen das Risiko der Impfung im Vergleich zur Infektion anders bewerten würden. Nagel erinnerte aber an die Solidarität, die man gegenüber anderen mit der Impfung zeige.
Prof. Cornelia Betsch, die an der Uni Erfurt zu psychologischen Aspekten der Corona-Pandemie forscht, wies darauf hin, dass 60 bis 70 Prozent der Ungeimpften zu Protokoll geben, sich auf gar keinen Fall impfen lassen zu wollen. Viele hätten einfach Angst vor der Impfung. "Angst und Pflicht löst ein Gegengefühl aus", so Betsch. Sie plädierte vor allem für eine ganz andere Kommunikation mit den Menschen und vor allem mit den Skeptikern.
Es müsse Schluss sein mit der polarisierenden Unterteilung zwischen Geimpften und Ungeimpften ("Wir sitzen doch alle im selben Boot"), sagte Lehrerin Gudrun Gessert, die aus dem heimischen Wohnzimmer per Video-Konferenz in den Großen Saal des Bellevue zugeschaltet war.
Ihr Votum: "Impfen ja, Zwang nein."
Gessert weiter: "Die Frage ist doch: Können wir mit der Impfpflicht die Pandemie besser überwinden? Ich sage: Nein! Impfen war nicht der Game-Changer, wie die Beispiele Bremen (mit hoher Impfquote) und Dänemark beweisen."
"Da muss ich Ihnen leider widersprechen, Herr Bundespräsident..."
Ruhig, aber bestimmt ging Gessert immer wieder dazwischen, wenn von der Solidarität mit den Mitmenschen die Rede war. Die Geimpften seien sehr wohl Träger des Virus und gäben es weiter, sodass dieses Argument eben nur begrenzt tauge.
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
Schützenhilfe für ihren Standpunkt erhielt Gessert von Oliver Foeth, Assistent der Geschäftsleitung in einem mittelständischen Betrieb bei Bamberg. Er sei nicht gegen die Impfung, aber gegen die Pflicht.
Alle Beteiligten waren sich am Ende einig, dass der sachliche Austausch und die ernsthafte Debatte einen Gewinn darstellen. Dass einer der Beteiligten durch das Gespräch seine Meinung geändert hätte, war nicht zu erkennen. Dass die Argumente der Gegner einer Impfpflicht gewichtig und nicht aus der Luft gegriffen erscheinen, wurde bei diesem Gespräch aber doch deutlich.
Quelle: Lehrerin geigt Bundespräsident Steinmeier die Meinung - Politik Inland - Bild.de