Veröffentlicht am 23.10.2020
Von Byung-Chul Han
Auf die Frage, warum Japan im Vergleich mit dem Westen die Pandemie so erfolgreich bekämpft habe, antwortet der nationalistisch gesinnte japanische Finanzminister Taro Aso knapp mit dem Wort "mindo", das wörtlich "Niveau der Menschen" bedeutet. Der Ausdruck ist nicht ganz unproblematisch, denn in Japan wird er auch verwendet, um auf seine nationale Überlegenheit hinzuweisen. "Mindo" lässt sich mit "kulturelles Niveau" übersetzen. Die Äußerung des Finanzministers hat selbst in Japan Kontroversen ausgelöst.
Ihm wurde vorgeworfen, in einer Zeit, in der eine weltweite Solidarität notwendig sei, dürfe er nicht den nationalen Chauvinismus verbreiten. Gegenüber seinen Kritikern verteidigt Aso jedoch seine Position, Japaner hätten die strengen Hygienemaßnahmen beherzt befolgt, obwohl die Regierung keine Strafen gegen die Verstöße vorsah. Menschen in anderen Ländern könnten das nicht, so Aso weiter, selbst wenn sie dazu gezwungen würden.
Angesichts so auffälliger Unterschiede hinsichtlich der Infektionszahlen drängt sich die Frage förmlich auf: Inwiefern macht es Asien anders als Europa? Chinas erfolgreiche Eindämmung der Pandemie lässt sich zu einem Teil auf die für den Westen unvorstellbare rigorose Überwachung des Individuums zurückführen.
Südkorea und Japan sind aber eine Demokratie. Ein digitaler Totalitarismus a la China ist in diesen Ländern nicht möglich. In Korea wird allerdings die digitale Kontaktverfolgung konsequent angewendet. Sie ist in Korea nicht die Aufgabe der Gesundheitsämter, sondern der Polizei. Mit kriminaltechnischen Methoden werden Kontaktpersonen aufgespürt. Auch die Corana-App, die, obwohl kein Zwang besteht, ausnahmslos jeder auf seinem Smartphone geladen hat, arbeitet sehr präzis und zuverlässig. Wenn normale Kontaktverfolgungen nicht mehr greifen, werden auch Kreditkartenzahlungen und unzählige öffentliche Überwachungskameras ausgewertet.
Verdankt Asien die erfolgreiche Eindämmung der Pandemie also, wie viele im Westen vermuten, dem rigoros agierenden Hygieneregime mit digitaler Überwachung? Dem ist es offenbar nicht so. Corona wird bekanntlich durch enge Kontakte übertragen, die jeder Infizierte auch ohne digitale Überwachung von sich aus angeben kann. Wer wo wann sich kurzzeitig aufgehalten hat, wer über welche Straßen gelaufen ist, ist, wie wir inzwischen wissen, nicht so relevant für das Infektionsgeschehen.
Wie lässt sich dann erklären, dass in Asien die Infektionszahlen unabhängig vom politischen System des jeweiligen Landes so niedrig bleiben? Was verbindet China mit Japan oder Südkorea? Was machen Taiwan, Hongkong oder Singapur anders als Deutschland? Virologen rätseln über die Gründe für die geringen Infektionszahlen in Asien. Der japanische Nobelpreisträger für Medizin, Shin'ya Yamanaka, spricht von einem nicht einfach zu erklärenden "Faktor X".
Außer Frage steht, dass der westliche Liberalismus die individuelle Überwachung a la China nicht durchsetzen kann. Das ist auch gut so. Das Virus darf den Liberalismus nicht untergraben.
Angesichts der digitalen Überwachung, die ohnehin überall stattfindet, wäre die anonymisierte Kontaktverfolgung per Corona-App etwas komplett Harmloses. Aber die digitale Kontaktverfolgung ist höchstwahrscheinlich nicht der Hauptgrund für den Erfolg der Asiaten in der Pandemie-Bekämpfung.
Nimmt man dem Wort des japanischen Finanzministers die unangemessene nationalistische Spitze, so offenbart es doch ein Quäntchen Wahrheit. Es weist auf die Wichtigkeit des Gemeinsinns, des Zusammenhandelns in einer pandemischen Krise hin.
Während der Flutkatastrophe von 1962 soll Helmut Schmidt als Hamburgs Polizeisenator gesagt haben: "Charakter zeigt sich in der Krise." Charakter zeigen gelingt Europa offenbar nicht angesichts der Krise.
Gerade die Pandemie zeigt, wie wichtig der Gemeinsinn ist.
Paradoxerweise haben die Asiaten mehr Freiheit, weil sie sich freiwillig an die strengen Hygieneregeln halten.
Weder in Japan noch in Korea wurden Lockdown und Ausgangssperre verhängt. Auch wirtschaftliche Schäden sind viel geringer ausgefallen als in Europa. Das Paradox in der Pandemie ist, dass man am Ende mehr Freiheit hat, indem man sich freiwillig einschränkt. Wer etwa das Maskentragen als Eingriff in die Freiheit ablehnt, hat am Ende weniger Freiheit.
Asiatische Länder sind nicht sehr vom Liberalismus geprägt. So haben sie wenig Verständnis und Toleranz für individuelle Abweichungen. Entsprechend groß sind soziale Zwänge. Das ist auch der Grund, warum ich als gebürtiger Koreaner weiterhin im VirusHotspot Berlin leben möchte als im virusfreien Seoul.
Hohe Infektionszahlen in der Pandemie sind jedoch, das ist besonders hervorzuheben, keine natürlichen Folgen der liberalen Lebensform, die wir einfach hinzunehmen hätten. Gemeinsinn und Verantwortung sind eine wirksame liberale Waffe gegen das Virus. Der Liberalismus führt nicht notwendig zu einem Vulgär-Individualismus und Egoismus, der dem Virus in die Hände spielt.
Neuseeland hat als ein liberales Land schon zum zweiten Mal die Pandemie besiegt. Der Erfolg der Neuseeländer besteht auch in der Mobilisierung des Gemeinsinns. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardem sprach emphatisch vom "Fünf-Millionen-Team". Ihr leidenschaftlicher Appell an Gemeinsinn kam in der Bevölkerung sehr gut an. Das US-amerikanische Desaster hingegen lässt sich darauf zurückführen, dass Trump aus purem Egoismus und Machtstreben den Gemeinsinn untergraben und das Land gespalten hat. Seine Politik verhindert jedes Wir-Gefühl.
Liberalismus und Gemeinsinn müssen einander nicht ausschließen. Gemeinsinn und Verantwortung sind vielmehr eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende liberale Gesell-schaft. Je liberaler eine Gesellschaft ist, desto mehr Gemeinsinn ist notwendig. Die Pandemie lehrt, was Solidarität ist. Die liberale Gesellschaft benötigt ein starkes Wir. Sonst zerfällt sie zu einer Ansammlung von Egoisten. Da hat es das Virus sehr leicht.
Wenn wir auch im Westen von einem medizinisch unerklärbaren "Faktor X" sprechen würden, der dem Virus das Leben schwer macht, dann ist er nichts anderes als Gemeinsinn, gemeinsames Handeln und Verantwortung gegenüber Mitmenschen.
Der Philosoph Byung-Chul Han lehrt an der Universität der Künste in Berlin. Sein jüngstes Buch "Palliativgesellschaft. Schmerz heute" ist bei Matthes & Seitz erschienen.
Quelle: welt.de vom 13.10.2020