Erfahrungen eines Studienteilnehmers Geimpft - und ausgesperrt

Von Lukas Kissel

22.12.2021, 15.33 Uhr - aus DER SPIEGEL 52/2021

Eigentlich wollte der Student Julius Hege nur helfen, als er sich für eine Impfstoffstudie meldete. Nun darf er weder in die Uni noch ins Kino, auf dem Papier gilt er als ungeimpft. Warum ist er nicht wütend? Impfstudienteilnehmer Julius Hege: Gutes tun, aber effektiv
Foto: Vera Drebusch / DER SPIEGEL

Wer Julius Hege in diesen Tagen treffen will, muss zu ihm nach Hause kommen, in seine Studierenden-WG in der Münchner Innenstadt. In Cafés und Restaurants darf Hege nicht. Er darf auch nicht ins Kino, nicht in Klamottenläden, nicht in die Uni. In Bayern gilt fast überall 2G.

Hege ist geimpft, mit MVA-SARS-2-ST, einem optimierten Vektorimpfstoff. Das Problem: Noch ist das nur ein Impfstoffkandidat, kein zugelassenes Mittel. Anstatt wie Millionen andere Arztpraxen abzutelefonieren oder sich bei Impfaktionen in lange Schlangen zu stellen, hat Hege an einer Impfstudie teilgenommen. Den Verantwortlichen zufolge bilden die Probandinnen und Probanden zwar durchaus Antikörper gegen Sars-CoV-2. Aber weil der Impfstoff noch nicht zugelassen ist, bekommen sie kein Impfzertifikat, keinen Aufkleber im gelben Pass, keinen QR-Code für die Corona-Warn-App.

Auf dem Papier ist Hege ungeimpft. Also verbringt er viel Zeit in seiner WG, in seinem Zimmer oder in der Küche, die zugleich das Wohnzimmer ist. Er ist 23 Jahre alt, Mathematikstudent. Ein hagerer junger Mann, die braunen Haare sind an den Ohren etwas zu lang - auch beim Friseur gilt 2G, sagt er entschuldigend.

Wie viele Menschen in den vergangenen Monaten an Impfstudien teilgenommen haben, ist schwer zu sagen. Fest steht: Die Gesellschaft, die Welt, hat sie gebraucht - und tut das noch immer. Laut dem Coronavirus Vaccine Tracker der "New York Times" werden derzeit weltweit mehr als 100 Impfstoffe in klinischen Studien getestet. In Deutschland zählt der Verband Forschender Arzneimittelhersteller 15 laufende Impfstoffprojekte. Sind sie erfolgreich, könnte es schon bald sogenannte Impfstoffe zweiter Generation geben: Sie könnten womöglich besser gegen neue Mutationen wie Omikron schützen, Menschen mit geschwächtem Immunsystem helfen, bei denen die bisherigen Impfstoffe nicht optimal wirken, oder gar verhindern, dass Geimpfte andere anstecken.

Hege bei Kontrolltermin: "Durchweg gute Antikörperantworten"
Foto: Vera Drebusch / DER SPIEGEL

Weitere Studien können also helfen, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Und dafür braucht es Menschen, die sich einen Impfstoff spritzen lassen, der noch nicht zugelassen ist. Menschen wie Julius Hege.

Warum erklärt sich jemand bereit, das zu tun? Und wie fühlt es sich an, wenn man sich so für die Gesellschaft einsetzt und dann vom gesellschaftlichen Leben ausgesperrt wird? In seiner Münchner WG-Küche hat Hege den Laptop vor sich aufgebaut, Dokumente und Notizen herausgesucht, um seine Geschichte zu erzählen.

I. Die Idee

Frühjahr 2020, Großbritannien. Nach einigem Zögern verhängt die britische Regierung am 23. März doch einen Lockdown: Geschäfte schließen, Versammlungen von mehr als zwei Personen werden verboten. Die Queen hält eine Fernsehansprache, Premierminister Boris Johnson infiziert sich.

Julius Hege studiert da gerade an der University of Warwick in Coventry. Nach dem Abi wollte er raus aus Kassel, wo er aufgewachsen ist. Es ist sein drittes Jahr in England, er hat den Brexit miterlebt und nun den ersten Corona-Lockdown. Anders als in Deutschland darf man in Großbritannien die Wohnung nur in Ausnahmefällen verlassen. Hege findet sich damit ab, so sagt er es heute. Er lässt sich einen Bart stehen und fängt an zu joggen, nachts, um möglichst wenige Menschen zu treffen.

Hege mit T-Shirt der Organisation 1Day Sooner
Foto: Vera Drebusch / DER SPIEGEL

In dieser Zeit liest er in sozialen Medien zum ersten Mal von der Organisation 1Day Sooner. Gegründet im April 2020, zu Beginn der Pandemie, versammelt die NGO Freiwillige, die bei medizinischen Tests mitmachen und so zum Beispiel bei der Entwicklung von Impfstoffen helfen wollen. "In irgendeinem Zoom mit meiner Hochschulgruppe kam das Gespräch darauf, und da standen die meisten schon auf der Mailingliste", sagt Hege. Auch er trägt sich ein.

Warum? Um das im Nachhinein zu erklären, holt Hege aus. Er beschäftige sich viel mit Utilitarismus, mit effektivem Altruismus. Effektiver Altruismus? Hege erzählt, wie er mit 17 ein Buch des Philosophen Peter Singer gelesen habe, wie er zuerst niemanden gekannt habe, der sich auch für so was interessierte. In der Hochschulgruppe an seiner Uni, der "Effective Altruism Society", habe er schließlich Gleichgesinnte gefunden. Ihr Ziel: Gutes tun, aber effektiv. Zeit und Geld so einsetzen, dass maximal vielen Menschen damit geholfen ist.

"Es ist schon unangenehm, wenn man der einzige Ungeimpfte ist."
Impfstudienteilnehmer Julius Hege

Auch Hege möchte helfen. Und er tut das mit der Kosten-Nutzen-Kalkulation eines Mathematikers: Ist der Nutzen größer, wenn ich mich gegen Covid-19 impfen lasse, sobald es geht? Oder wenn ich ungeimpft bleibe, um an einer Studie teilzunehmen? Und wie groß sind die Kosten, wie groß ist in diesem Fall also das Risiko, ungeimpft sich selbst oder andere anzustecken? All das habe er mit Überschlagsrechnungen kalkuliert, sagt Hege. Und sei zum Ergebnis gekommen: Er will warten mit der Impfung - auf eine Studie, für die sich sein Einsatz lohnt. Auch wenn das dauert.

II. Die Studie

August 2021, Deutschland. Anfang des Monats liegt die Quote der vollständig Geimpften bei knapp über 50 Prozent. Laut einer Umfrage will sich nur noch etwa jeder vierte Ungeimpfte impfen lassen. Das RKI schreibt in seinem Bericht vom 19. August, dass sich nun der Beginn der vierten Welle abzeichne.

Seit über einem Jahr ist Julius Hege zurück in Deutschland, jetzt studiert er in München. Vorlesungen und Seminare finden online statt, deshalb wohnt er bei seinen Eltern in Kassel. Die sind inzwischen geimpft, genauso wie seine Freunde und Bekannten.

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Nur er ist es nicht. Noch vor Kurzem fiel es leicht, die anderen vorzulassen, als der Impfstoff knapp war und die Termine begehrt - das ist jetzt anders. Langsam wird es peinlich: "Es ist ja schon unangenehm, wenn man der einzige Ungeimpfte ist", sagt Hege. "Diese Ausrede: ›Ich warte, bis es die nächste klinische Studie gibt‹, die klingt im Nachhinein auch überzeugender, weil es am Ende ja tatsächlich geklappt hat. Damals klang das nach Gerede."

Wenn er mit Kommilitoninnen und Kommilitonen spricht, die er nicht so gut kennt, hat Hege das Gefühl, sich erklären zu müssen. "Vielleicht dachten sie auch, sie hätten einfach einen besonders kreativen Querdenker vor sich."

Dann endlich, Mitte August, liest Hege den Aufruf im Internet. Mehrere Teams des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung arbeiten an einem Impfstoff gegen das neue Coronavirus, MVA-SARS-2-ST. Er basiert auf einem Pockenvirus, in das die genetischen Informationen des Spikeproteins von Sars-CoV-2 eingebaut wurden. In ersten Tests hat sich der Impfstoffkandidat als nicht wirksam genug erwiesen, also haben ihn die Forschenden weiterentwickelt. Jetzt suchen sie erneut nach Probandinnen und Probanden, um ihn zu testen.

Nur 30 Personen werden für Phase Ib gesucht, umso mehr kommt es auf jeden Einzelnen, jede Einzelne an. Gesucht werden Menschen mit bestimmtem Profil: impfwillige Ungeimpfte, von denen es immer weniger gibt. Also: ein großer Nutzen, wenn Hege nun hilft. Darauf hat er gewartet. Eine Stunde nachdem er von der Studie liest, so erinnert er sich, schickt er das Anmeldeformular ab.

III. Die Impfung

September 2021. In seinem Podcast sagt der Virologe Christian Drosten, dass Deutschland allein durch Impfangebote kaum eine gute Impfquote erreichen werde. Auch eine "Impfaktionswoche" bringt nur wenige Erstimpfungen.

"Nichts, was man bei einem anderen Impfstoff nicht auch hätte."
Impfstudienteilnehmer Julius Hege

Einen Tag vor der Impfung, Tag -1 in seiner Terminübersicht, ist Hege das erste Mal am Uniklinikum in Hamburg. Er gibt Urin- und Blutproben ab, wird auf Hepatitis B und C getestet, auf HIV und Sars-CoV-2. Mit der Einwilligungserklärung unterschreibt er, dass er aus freier Entscheidung teilnimmt und die Studie jederzeit abbrechen kann. Aufwandsentschädigung: 2050 Euro plus Fahrtkosten.

Am 14. September dann, Tag 0, die erste Impfung. Und vier Wochen später, im Oktober, die zweite. Körpertemperatur und Impfreaktionen hält Hege in einem Tagebuch fest.

"Nichts, was man bei einem anderen Impfstoff nicht auch hätte", sagt Hege.

Über die Vakzinen von Biontech, Moderna und Co. - klinisch getestet, zugelassen, milliardenfach verimpft - sagen Impfverweigerinnen und Impfverweigerer gern, dass sie ihnen nicht gut genug erprobt seien. Und Hege hat sich keine Gedanken gemacht, als er sich einen nicht zugelassenen Impfstoff spritzen ließ? "Natürlich gibt es immer Risiken", antwortet er. "Aber statistisch sind schwere Nebenwirkungen bei solchen Studien viel seltener, als man denken würde." Hege hat die Statistiken auf seinem Laptop gespeichert: Seit 2004 haben laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Deutschland mehr als eine Million Menschen bei klinischen Arzneimittelstudien mitgemacht. Ohne schwerwiegende Zwischenfälle.

Hege vor dem Hamburger Universitätsklinikum: "Natürlich gibt es immer Risiken"
Foto: Vera Drebusch / DER SPIEGEL

Neben der Voruntersuchung und den beiden Impfungen stehen zehn Kontrolltermine auf Heges Zeitplan, verteilt über einen Zeitraum von einem halben Jahr. Immer wieder muss er in diesen Wochen von München nach Hamburg fahren. Die Wissenschaftler machen Abstriche, untersuchen sein Blut. So können sie prüfen, wie verträglich der Impfstoff ist, wie man ihn am besten dosiert - und ob die Teilnehmenden der Studie Antikörper bilden. Das scheint zu funktionieren: "Erste Auswertungen der ja noch laufenden Studie zeigen durchweg gute Antikörperantworten der Probanden", so Marylyn Addo, die Studienleiterin.

IV. Die Probleme

November 2021. Anfang des Monats liegt die Inzidenz bei 155. In Bayern gilt 2G, zuerst nur für Theater, Kinos, Schwimmbäder, dann auch im Handel und in der Gastronomie. Ministerpräsident Markus Söder sagt, es handle sich "natürlich um einen De-facto-Lockdown für Ungeimpfte". Ende des Monats liegt die Inzidenz bei 452. "Was muss eigentlich noch geschehen, um Sie zu überzeugen?", fragt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ungeimpften.

Julius Hege fühlt sich davon nicht angesprochen. Er sei ja geimpft, sagt er. Nur offiziell eben nicht.

"Es gibt Leute mit echten Problemen."
Impfstudienteilnehmer Julius Hege

Ob es einen Moment gab, in dem er das Impfzertifikat schon richtig vermisst habe? Hege denkt nach. Bevor 2G kam, sei er einmal im Kino gewesen, getestet. Nun kann er nicht mal mehr in Klamottenläden oder Elektronikgeschäfte, "ein Nachteil" - "aber es gibt Leute mit echten Problemen".

Das einzige Problem für Hege: Seit dem 24. November gilt auch an bayerischen Hochschulen 2G. Ein paar Übungsgruppen träfen sich noch offline, sagt er, da könne er nicht mehr hin. "Ich habe mich mit meinen Kommilitonen abgesprochen, einer schickt mir seine Notizen. So komme ich schon mit."

Und dann lacht er. Eigentlich sei es doch ironisch: sich erst nicht impfen zu lassen, dann schon, aber keinen Impfnachweis dafür zu bekommen. "Irgendwie ist es auch eine lustige Geschichte. Ich habe das selbst so gewählt, wahrscheinlich kann ich es deshalb besser wegstecken."

Nicht jeder dürfte das so locker sehen. "Es ist nicht ganz leicht, unter diesen Bedingungen bereitwillige Probanden zu finden oder diese in den Studien zu halten", erklärt Studienleiterin Addo. Man habe sich deshalb an die zuständige Sozialbehörde gewandt und kläre gerade, wie man mit den Teilnehmenden umgehen könne, damit sie keine Nachteile erfahren müssten.

Und jetzt?

Dezember 2021. Einen letzten Kontrolltermin muss Julius Hege noch absolvieren, im März 2022, 24 Wochen nach seiner ersten Impfung. Bereits sechs Wochen nach der zweiten Dosis dürfte er sich mit einem zugelassenen Impfstoff impfen lassen, so steht es in seinen Unterlagen.

Für die Impfung spricht, dass Hege ein Impfzertifikat bekommen würde, dass er wieder zur Uni könnte. Und dass er mit einem zugelassenen Impfstoff recht sicher geschützt wäre. Gegen die Impfung spricht, dass seine Antikörperwerte bei der letzten Probennahme verfälscht wären. Die Forscherinnen und Forscher könnten das berücksichtigen, für die Studie wäre es also kein großes Problem.

Wieder wägt Hege Kosten und Nutzen ab, kalkuliert Vorteile und Risiken, und entscheidet: Er will sich erst impfen lassen, wenn die Studie abgeschlossen ist.


Quelle: spiegel.de