FOCUS-Online-Redakteur Benjamin Hirsch
Montag, 22.03.2021, 17:33
In Taichung, der drittgrößten Stadt Taiwans, herrscht munteres Treiben. "Restaurants, Geschäfte, Bars, alles hat hier ganz normal geöffnet", berichtet Wolfgang Pauler im Gespräch mit FOCUS Online. Seit Ende letzten Jahres arbeitet der Deutsche als Online-Redakteur aus dem Home-Office in der Millionenmetropole an der Westküste der asiatischen Insel.
Corona ist hier, wie auch im Rest des Landes, quasi besiegt - tatsächlich scheint es so, als wäre das Virus zu keinem Zeitpunkt ein ernstzunehmender Gegner für die dichtbesiedelte Region und seine 23 Millionen Bürger gewesen. Nach mehr als einem Jahr Pandemie verzeichnete das Land vor drei Tagen seinen 1000. Coronafall: insgesamt. Lokale Übertragungen sind seit Monaten äußerst selten geworden und werden - wenn sie denn vorkommen - rasch eingedämmt.
Als Corona-Primus gilt Taiwan daher schon länger, manche Gründe für das erfolgreiche Pandemie-Management sind mittlerweile auch wissenschaftlich belegt. Wie in anderen Inselregionen konnten Virus-Importe durch strenge Kontrollen an Flughäfen und Häfen frühzeitig gestoppt werden. Das Virus wurde einfach ausgesperrt. Auch das in asiatischen Ländern gängige Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit half bei der Virusbekämpfung. Und doch ist der taiwanesische Erfolg mehr als glückliche Insellage und kulturell bedingter Hygiene-Eifer.
Dabei profitiert das Land vor allem von seinen Erfahrungen mit Seuchen:
Aus diesen chaotischen Zuständen hat die Politik gelernt. "Im Grunde haben wir schon 2004 reagiert", sagt Tang.
Als die Insel im Dezember 2019 erste Meldungen von einem neuartigen Coronavirus aus Wuhan erreichten, übernahm nur wenige Wochen später das Central Epidemic Command Center (CECC) in Taipei das Krisenmanagement und adressierte Maßnahmen an die Bevölkerung. Unklarheiten über Hygiene-, Test- oder Quarantänevorschriften blieben dadurch aus.
Als durchaus umstritten gilt in der ausländischen Betrachtung Taiwans ultra-strikte Quarantäne-Verordnung. Doch was der westlichen Welt als orwellsche Überwachungs-Dystopie anmutet, trifft in Taiwan selbst auf breite Zustimmung in der Bevölkerung; "die Menschen sehen ja, dass es funktioniert", sagt Wolfgang Pauler dazu.
Wer nach Taiwan einreist oder sich tatsächlich mit Corona infiziert hat, muss sich ausnahmslos 14 Tage in häusliche Quarantäne begeben, sei es in einem der Quarantäne-Hotels oder im eigenen Zuhause. Auch der Standort des Betroffenen wird über das Handy überwacht, um mögliche Quarantäne-Verstöße und damit auch eine Ausbreitung des Virus zu verhindern.
"Jeden Tag habe ich vom CEEC eine SMS bekommen, in der ich gefragt wurde, ob alles in Ordnung sei", erinnert sich Pauler an seine eigene Quarantäne. Eine Antwort mit 0 signalisierte "alles ist in Ordnung", eine 1 hätte Symptome wie Fieber angezeigt. Zudem habe alle zwei bis drei Tage ein Mitarbeiter der lokalen Gesundheitsbehörde angerufen, um sich nach dem Gesundheitszustand zu erkundigen: "unaufgeregt und sehr höflich." Wer sich für eine Quarantäne im Hotel entscheidet, bekommt von der Regierung als Entschädigung zusätzlich 30 Euro pro Tag.
Dass es sich dabei um einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit handelt, weiß auch Taiwans Digitalministerin Tang. Für ein "fast normales Leben" seien die Menschen allerdings bereit, die Quarantäne auf sich zunehmen. Zudem würden die Daten der Überwachung spätestens nach 28 Tagen wieder gelöscht werden, sagt die Ministerin der "Zeit".
Die mitunter harten Quarantäne-Regeln bringen bisher den gewünschten Erfolg. In einen Lockdown musste Taiwan angesichts der kaum vorhandenen Infektionen bisher nicht.
Obwohl das Virus in Taiwan im Alltag der Menschen kaum eine Rolle spielt, bleibt die Gesellschaft weiterhin wachsam, "jeder hält sich an die geltenden Anstandsregeln und die Maskenpflicht", beschreibt Pauler das Leben auf den Straßen Taichungs. Der Gemeinsinn sei bei den Allermeisten sehr stark ausgeprägt. Demonstrationen gegen Maßnahmen der Politik gebe es kaum. Taiwans Erfahrungen mit früheren Epidemien, seine geografische Lage sowie ein kollektives Gesundheitsbewusstsein haben es dem Inselstaat und seinen Bewohnern ermöglicht, mitten in der Pandemie ein nahezu normales Leben zu führen.
Taiwans Digitalministerin Audrey Tang glaubt: ja.
Quelle: focus vom 22.03.2021