Corona-Not in Ostmitteleuropa :
Wenn die Ärzte alt oder emigriert sind

Von Niklas Zimmermann

-Aktualisiert am 29.10.2020

In der Tschechischen Republik kollabiert wegen den Covid-19-Patienten das Gesundheitssystem. Wie in der Slowakei sind junge Ärzte in westlichere Länder ausgewandert. Die Älteren, die geblieben sind, gehören zur Risikogruppe. Mit Hilfe der Armee: In der Tschechischen Republik fehlen angesichts der europaweit höchsten Infektionszahlen die Ärzte.
Bild: AP

Drei Ausrufezeichen setzte Milan Kubek hinter seinen Aufruf. Schnellstmöglich sollten tschechische Ärzte, die im Ausland arbeiteten, nach Hause zurückkehren, schrieb der Präsident der tschechischen Ärztekammer auf Facebook. In der Tschechischen Republik wurden zuletzt mehr als 1400 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen 14 Tagen gemeldet. Noch dramatischer sieht es bei den Corona-Toten aus. Vom vergangenen Mittwoch bis Montag starben jeden Tag zwischen 108 und 139 an Covid-19 erkrankte Menschen. Laut der europäischen Infektionsschutzbehörde ECDC hat die Tschechische Republik europaweit die mit Abstand höchste Todesfallinzidenz.

Der Kammerpräsident Kubek musste sich dennoch schnell eingestehen, dass sein Aufruf fehlschlug. Nur 25 Mediziner seien ihm gefolgt, sagte Kubek jüngst der Tschechischen Presseagentur. Das sind verschwindend wenige: Der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge arbeiten allein in Deutschland 908 und in Großbritannien 776 Ärzte, die in der Tschechischen Republik ausgebildet wurden.

Glücksfall für deutsche Kliniken

Doch wer sich umhört, begreift schnell, warum das Interesse an einer Heimkehr gering ist. Die tschechischen Ärzte und Pflegekräfte hätten den Aufruf erhalten, bestätigt etwa eine Kliniksprecherin in der Arberlandklinik in Zwiesel im Bayerischen Wald. Man sei zur Hilfe bereit, bisher habe aber keiner der Angesprochenen darum gebeten, freigestellt zu werden. "Zuerst wurden die Pendler ausgesperrt, jetzt sollen sie das Land retten", schildert die Sprecherin den Ärger der tschechischen Mitarbeiter darüber, dass sie im Frühling, als Prag die Grenze schloss, als potentielle Infektionsherde dargestellt wurden. Zwiesel ist nur wenige Kilometer von der deutsch-tschechischen Grenze entfernt.

Im Übrigen gehe es nicht um "irgendwelche Auswärtigen". Dutzende tschechische Klinikmitarbeiter seien seit Jahren "fest integriert" und würden in Zwiesel gebraucht. Die Ärzte aus der Tschechischen Republik seien in Zeiten, in denen Deutschland zu wenig medizinische Fachkräfte ausbilde, ein Glücksfall. "Von der Mentalität her sind uns die tschechischen Ärzte sehr nahe", sagt die Sprecherin.

Jan Alexa geht nicht so hart mit dem Aufruf ins Gericht wie viele Ärzte. "Es hilft nicht wirklich, aber schadet sicher nicht", sagt der Analyst, der früher in der staatlichen Gesundheitsverwaltung der Tschechischen Republik gearbeitet hat. In einer Lage wie der gegenwärtigen stünde jedes Gesundheitssystem unter "Stress". Doch die Krise enthüllt auch Strukturprobleme. Von den Absolventen der medizinischen Fakultäten wandere jedes Jahr rund ein Fünftel ins Ausland ab, sagt Alexa. Der Trend sei stabil. Mittlerweile ziehe es junge Ärzte stärker nach Großbritannien als nach Deutschland.

Höhere Gehälter sind kein Allheilmittel

Wenn so viele Mediziner fortgehen, führt das zu Überalterung. Laut einer Statistik sind vierzig Prozent der Ärzte in der Tschechischen Republik älter als sechzig. Auch ohne Corona ist das ein Problem, nun ist der Umstand aber umso brisanter. Ärztekammerpräsident Kubek sagte am Montag, dass derzeit 13.000 Ärzte und Pflegekräfte infiziert seien.

Angelockt werden die tschechischen Ärzte vor allem von höheren Gehältern in Westeuropa. Alexa spricht sich deshalb dafür aus, dass junge Ärzte mehr verdienen sollten. Doch Geld ist kein Allheilmittel. Mit Blick auf das tschechische Durchschnittsgehalt von umgerechnet rund 1250 Euro im Monat sei die mittlere Vergütung eines Arztes mit etwa 3000 Euro "nicht besonders niedrig", sagt der Analyst. Wichtiger sei es, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. "Die Ärzte verbringen zu viel Zeit mit administrativer Arbeit."

Eine Lösung könnte also eine zeitgemäßere Arbeitskultur sein. Eine andere, ausländische Ärzte anzuwerben. Während 2014 nur 28 in der Ukraine ausgebildete Ärzte in der Tschechischen Republik arbeiteten, waren es 2019 laut der OECD bereits 564. Doch ihr Einsatz ist umstritten. Gerade die Ärztekammer tritt auf die Bremse. Sie fürchtet neuen Druck auf die Gehälter. Kammerpräsident Kubek stellte die Ukrainer gar wiederholt als Gesundheitsrisiko für Patienten dar.

Vorbehalte gegen ausländische Ärzte

Ähnlich verläuft der Konflikt in der benachbarten Slowakei. Weil die dortige Ärztekammer ebenfalls versucht, ausländische Mediziner fernzuhalten, hat Manuchekhr Burkhanov einen alternativen Ärzteverband gegründet, die "Internationale Vereinigung von Ärzten in der Slowakei". Laut dem Chirurgen aus Tadschikistan verlassen jedes Jahr zwanzig bis dreißig Prozent der Medizinabsolventen das Land in Richtung Westen. "Der Slowakei fehlen mindestens 5000 Ärzte", sagt Burkhanov. Er wirft den Regierenden in Bratislava vor, sie unternähmen dagegen "keine Schritte".

Burkhanov spricht von einer "guten medizinischen Ausbildung" in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Zugleich versteht er, dass die Diplome nicht einfach so anerkannt werden. Rückständig sei aber, dass es in der Slowakei "keinen normalen Vorbereitungskurs" auf das verpflichtende Examen für ausländische Ärzte gebe. Also hat Burkhanovs Vereinigung selbst einen Kurs entwickelt. Hoffnung setzt der Chirurg auf die seit März amtierende konservativ-liberale Regierung. Er habe ein "besseres Gefühl", wenn ein Staatssekretär im Gesundheitsministerium als Arzt in Deutschland gearbeitet habe. Dagegen habe die sozialdemokratische Vorgängerregierung "mit uns geredet wie mit kleinen Kindern".

Personalintensiv: Die Slowakei lässt, wie hier in einer Roma-Siedlung im Osten des Landes, flächendeckend auf Corona testen.
Bild: dpa

Dennoch sieht Burkhanov die Corona-Strategie des slowakischen Ministerpräsidenten Igor Matovi? kritisch. Dieser lässt derzeit alle Bewohner des Landes auf das Virus testen. Dafür braucht es rund 20.000 Helfer, die dann in den Krankenhäusern und Arztpraxen fehlen. Für den Chirurgen ist klar, dass die Slowakei Hilfe aus dem Ausland braucht. Sie müsse nur danach rufen.

In der Tschechischen Regierung will sich die Regierung schon helfen lassen. Nachdem der Aufruf zur Heimkehr der Ärzte nicht fruchtete, verhandelte Prag mit angrenzenden deutschen Bundesländern. Schlimmstenfalls sollen in Bayern und Sachsen Betten bereitstehen. Noch versucht man, dieses Szenario abzuwenden. Denn deutsche Krankenhäuser können dem Nachbarn nur dann helfen, wenn die Kapazitäten nicht für die eigene Bevölkerung gebraucht werden.


Quelle: FAZ vom 29.10.2020