Corona und Krankenhäuser "Ein Patient wird unter Umständen doppelt gezählt"

Veröffentlicht am 16.06.2021 | Lesedauer: 7 Minuten

Von Elke Bodderas
Verantwortliche Redakteurin

Zumindest finanziell sei 2020 ein "goldenes Jahr" für deutsche Krankenhäuser gewesen, sagt Gesundheitsökonom Reinhard Busse mit Blick auf die Intensivstationen. Der Hauptskandal liegt für ihn jedoch nicht darin, dass sehr viele leere Betten vom Steuerzahler bezahlt worden seien. Mediziner und Gesundheitsökonom Reinhard Busse
Quelle: Getty Images, pa; Montage/Jörn Baumgarten

Der Mediziner und Gesundheitsökonom Reinhard Busse ist Professor an der Technischen Universität Berlin. Er berät das Bundesgesundheitsministerium als Mitglied des Fachbeirats, der Maßnahmen zur Unterstützung der Krankenhäuser in der Pandemie überprüfen soll. Busse hat für einen Untersuchungsbericht für das Ministerium die Finanzen der Krankenhäuser begutachtet.

WELT: Herr Busse, Krankenhäuser stehen im Verdacht, sie hätten sich an der Pandemie bereichert. Sie sagen: Es gebe Beweise, dass sie zu den Corona-Gewinnlern zählen.

Reinhard Busse: 2020 war ein goldenes Jahr für die Krankenhäuser, zumindest finanziell gesehen. Im Schnitt hatten sie deutlich weniger Patienten und zugleich viel höhere Erlöse als 2019. Überraschen tut mich das nicht.

WELT: Die Krankenhaus-Kette Helios meldet laut Ver.di 600 Millionen Euro Gewinn vor Steuern. Zeitgleich beanstandet der Bundesrechnungshof Millionenzahlungen für Corona-Intensivbetten, die bis heute unauffindbar sind. Leere Betten, volle Kassen: Lässt sich das Pandemiejahr auf diesen einfachen Nenner bringen?

Busse: So könnte man es sagen. Der erste Rettungsschirm sah für jedes gegenüber 2019 zusätzlich leere Bett pro Tag 560 Euro vor. Das ist sehr großzügig. Das Geld gab es quasi konditionslos. Es reichte, wenn mehr Betten frei blieben. Diese Leerstandpauschale - vom Gesetzgeber "Freihaltepauschale" genannt - entsprach fast dem, was die Kliniken eingenommen hätten, wenn die Betten belegt gewesen wären.

Das ist in etwa so, wie wenn man einem Restaurantbetreiber vorrechnet: Bei 50 Kunden am Tag mit je 50 Euro Rechnungssumme gibt es eine Entschädigung von 2500 Euro, und das zahlen wir jetzt. Man könnte dagegen einwenden, das Restaurant habe doch keine Kosten gehabt. Aber auf dieser Basis haben wir in Deutschland die Krankenhäuser kompensiert.

Es war der Sektor mit den großzügigsten Ausgleichszahlungen. Zwischen März und dem Auslaufen der Regelung im September sind dafür mehr als neun Milliarden Euro berechnet worden, wesentlich mehr als ursprünglich veranschlagt.

WELT: Im November änderte sich das Verfahren: Nun gab es nur noch Geld bei weniger als 25 Prozent ungenutzter Intensivbetten in einer Region. Zufall oder nicht - aber ab da nahm die Zahl der freien Betten im im Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) deutlich ab. Denken Sie, dass die Auslastung mehr mit staatlichen Subventionen zu tun hatte als mit Covid-19?

Busse: Hier geht in der Debatte einiges durcheinander: Die Divi spricht von "freien und betreibbaren" Betten, also freien Intensivbetten, die personell adäquat ausgestattet sind. Darauf wurde ab dem Herbst bei den Meldungen stärker geachtet, wodurch sich die Zahl der gemeldeten "freien und betreibbaren" Intensivbetten zwischen Oktober und Januar - bei gleichbleibender Zahl belegter Betten - in etwa halbierte.

Ob für die anderen Betten kein Personal zur Verfügung stand oder nicht eingeteilt war, wurde nicht erfasst. Gezahlt wurde dann wieder für die nicht belegten Betten - insbesondere denjenigen auf Normalstation. Ich hatte übrigens schon damals vorgeschlagen, statt für leere Betten zu bezahlen, lieber den Krankenhäusern mit gegenüber 2019 zusätzlich belegten Intensivbetten mehr Geld zukommen zu lassen.

WELT: Seit Dezember sind 3000 betreibbare Intensivbetten aus dem Divi-Register verschwunden. Die Divi sagt, das seien Kinderintensivbetten gewesen: Man habe "sich ehrlich gemacht und die entfernt", weil Kinderintensivbetten in der Pandemie kaum nützlich seien. Manche Experten sagen in Hintergrundgesprächen, sie könnten es kaum glauben, dass es 3000 Kinderintensivbetten in Deutschland geben soll. Gibt es sie?

Busse: Das weiß niemand. Ebenso weiß niemand, wie viele Intensivbetten es tatsächlich gibt. Zu Beginn der Pandemie hat sich die Politik gefragt: Wie viele Betten haben wir überhaupt? Und wie viele davon sind mit Beatmungsgeräten ausgestattet? Wir wussten Letzteres überhaupt nicht, Ersteres nur ungefähr.

Und wenn wir nicht wissen, wie viele Betten es gibt, kann man auch nicht wissen, wie viele neu geschaffen wurden oder wie viele verschwunden sind. Zum Vergleich: In Dänemark gibt es deutlich weniger Betten und Intensivbetten, jedes Beatmungsgerät ist aber erfasst und dank RFID-Code (RFID = radio-frequency identification, ein System mit Funketikett, d. Red.) jederzeit klar, wo es sich gerade befindet.

WELT: Wie sieht es mit der Zahl der Covid-Intensivpatienten aus? Kennt man die?

Busse: Das Divi-Register dokumentiert tagesgenau die Zahlen. Aber erfasst wurden dort keine Patienten, sondern Fälle. Das führt dazu, dass die Divi-Zahlen eine Überschätzung sind. Um 30 Prozent.

WELT: Was bedeutet das?

Busse: Das bedeutet, dass ein Patient unter Umständen doppelt gezählt wird, wenn er etwa von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt wird oder von einer Klinik in die andere. Die tatsächlichen Patientenzahlen liegen etwa ein Drittel tiefer.

WELT: Viele Kliniken klagen über Personalmangel. Dennoch will Helios etwa Stellen abbauen. Die Rede ist von 150 Stellen für Ärzte, die nicht neu besetzt werden sollen. Wie passt das zusammen?

Busse: Die Krankenhäuser behaupten, im Jahr 2019 alle Patienten ordnungsgemäß versorgt zu haben, und die Politik erkennt das an. Und es gibt ja bei uns nach Finnland am zweitmeisten Pflegepersonal pro Kopf der Bevölkerung. Das Problem war, dass es sich auf extrem viele Patienten verteilt hat - wir haben ja 50 Prozent mehr Krankenhausfälle als unsere Nachbarländer.

Wenn dann aber, wie 2020 geschehen, die Fallzahlen um 13 Prozent sinken, dann sollte pro Patient entsprechend mehr Personal zur Verfügung gestanden haben. Ob deswegen gleich Personal abgebaut werden sollte, steht auf einem anderen Blatt.

WELT: Für eine Covid-Behandlung im Krankenhausbett auf der Normalstation zahlen die Kassen im Durchschnitt 5000 Euro für die Behandlung; eine Intensivbeatmung liegt bei 38.500 Euro, wie Krankenkassendaten zeigen. Jedes leere Intensivbett bedeutet also für jede Klinik einen hohen finanziellen Verlust, oder umgekehrt ausgedrückt: Intensivbetten lohnen sich nur, wenn sie belegt sind.

Busse: Das ist bei allen Krankenhausbetten unabhängig von Covid der Fall. Wir haben extrem viele Kapazitäten im deutschen Gesundheitssystem - und vor Einführung der Leerstandpauschalen floss nur Geld für belegte Betten. Der Skandal ist doch nicht primär, dass seit 2020 so viele leere Betten vom Steuerzahler bezahlt worden sind.

Der Hauptskandal ist, dass wir immer schon über die Krankenkassen viel zu große Bettenkapazitäten finanzieren. Der Sektor ist so groß, dass die Krankenhäuser angereizt sind, dort Patienten hineinzulegen, auch wenn es oft nicht notwendig ist. Fest steht: Es gibt sicherlich keinen Engpass an Betten, auch nicht an Intensivbetten.

WELT: Das Argument "Die Intensivstationen arbeiten am Anschlag" war ein wirkungsvolles. Es half, immer neue Lockdowns zu begründen. Divi-Präsident Gernot Marx, Karl Lauterbach (SPD) und Markus Söder (CSU) etwa haben noch im Mai damit gewarnt. Was haben Sie da gedacht?

Busse: Dass das Argument Quatsch ist, um die Maßnahmen zu begründen. Die Zahl der Intensivbetten war nie der Engpass, und offensichtlich war die Lage außer im März/April 2020 nicht so angespannt, dass Krankenhäuser auf Wahloperationen verzichten mussten.

WELT: Wo liegt für Sie die Grenze zwischen geschickter Nutzung an Fördergeldern und Subventionsbetrug?

Busse: Wenn in der ersten Welle das Geld allein für leer stehende Betten floss, müsste man - um einem Betrug nachzugehen - fragen, wie es Krankenhäuser geschafft haben, Patienten fernzuhalten. Natürlich wurden, wie von der Politik gewünscht, Operationen abgesagt. Hauptfaktor war aber, dass viele Patienten von sich aus nicht ins Krankenhaus gekommen sind, da sie Nutzen und Risiko anders als vorher bewertet haben.

Grenzwertiger ist es sicherlich schon, wenn, wie in Havelberg (Sachsen-Anhalt) geschehen, die schon für Frühsommer 2020 geplante Schließung des Krankenhauses durch die verantwortliche KMG-Gruppe auf September verschoben wird, vermutlich um noch für die freien Betten bezahlt zu werden.

Wenn es für jedes leere Bett Geld gibt, warum soll man da ein Krankenhaus schließen? Verboten ist das nicht, und es gab ja keine Vorgaben. Nicht einmal die, dass alle Betten mit Personal ausgestattet sein müssen. Ich scheue deshalb davor zurück, von Betrug zu reden. Es war, sagen wir, eine großzügige Regelung.

WELT: Während der zweiten und dritten Welle, als die Zahlen auf den Intensivstationen möglicherweise künstlich, weil sehr gewinnbringend nach unten gerechnet wurden - sehen Sie auch da alles im Lot?

Busse: An dieser Stelle muss man die Länder ins Spiel bringen: Die Krankenhäuser sind auf kommunaler Ebene wichtige Arbeitgeber, zum Teil die wichtigsten. Die Länder haben ein hohes Interesse an ihnen.

Wir hatten im Beirat (des Gesundheitsministeriums, d. Red.) besprochen, die Konditionen für Ausgleichszahlungen deutlich enger zu fassen, also nur in Regionen mit hohen Inzidenzen, nur bei einem wirklichen Engpass an Intensivbetten - definiert als 15 Prozent, nicht 25 Prozent, was ja der durchschnittliche Leerstand auch in normalen Zeiten ist, und drittens nur für Krankenhäuser mit entsprechenden Intensivstationen.

Aber da sind die Grenzen im Sinne der Länder verschoben worden, und ihnen wurden mehr Freiräume zugestanden; etwa bei der Frage, welche Krankenhäuser Ausgleichzahlungen erhalten können. Manche Länder haben da praktisch jedes Krankenhaus auf die Liste gesetzt, andere sogar Reha-Krankenhäuser. Warum? Das Geld für die Ausgleichszahlungen kam schließlich vom Bund.


Quelle: welt.de vom 16.06.2021