Sterblichkeit Corona in Schweden: Der lockere Sonderweg ist gescheitert

24.08.2021 06:10

Von Mirko Schmid

Im Vorjahr hat sich Schweden entschieden, Corona-Lockdowns zu vermeiden: Die Sterblichkeitsrate ist deutlich höher als in den Nachbarstaaten. Fachleute ziehen Bilanz. Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven sieht den Grund für das Scheitern des Sonderwegs im Verhalten der Menschen.
© Fernvall Lotte/Aftonbladet/Imago

Stockholm - Schweden wollte alles anders machen. Als die weltweite Corona-Welle auch nach Skandinavien schwappte, entschied man sich in Stockholm dafür, einen anderen Weg zu gehen als andere europäische Staaten. Lockdowns sollten vermieden werden, die Geschäfte offen bleiben, das Leben im Land sollte möglichst frei von Restriktionen seinen gewohnten Gang nehmen.

Begründet wurde der vergleichsweise lockere Umgang mit der Corona-Pandemie auch mit der Hoffnung auf eine möglichst schnell eintretende Herdenimmunität. Würde eine Durchseuchung nur schnell genug durchs Land gehen, würde eine hohe Quote von Genesenen schon dazu beitragen, dass das Schreckgespenst Corona schnell an Bedrohlichkeit verlieren würde. Ein Feldexperiment nannten es andere, europäische Staatsoberhäupter blickten mit Sorge auf das, was sich im hohen Norden tat.

Corona: Sterblichkeit in Schweden deutlich höher als in den Nachbaarstaaten

Heute weist Schweden eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate als seine Nachbarländer auf. 145 je 100.000 Menschen in Schweden verloren ihr Leben an das Coronavirus, das sind rund dreimal mehr als in Dänemark, achtmal mehr als in Finnland und fast zehnmal mehr als in Norwegen. Und auch die Zahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus ist hoch in Schweden. In den stark gebeutelten Ländern Italien und Großbritannien liegt die Inzidenz über den gesamten Zeitraum der Pandemie bei jeweils 9,4 und 7,4 Ansteckungen je 100.000 Menschen, in Schweden bei 11.

Dass es so weit kommen konnte, kam nicht aus dem Nichts. Monate bevor die ersten Corona-Fälle in Schweden auftraten, stuften Experten des öffentlichen Gesundheitswesens das Land als eines der am besten vorbereiteten Länder auf den Umgang mit einer Pandemie ein. Im März 2020 jedoch überraschten die schwedischen Gesundheitsbehörden die Welt mit einem unorthodoxen Ansatz: Anstatt wie viele Länder Lockdowns zu verhängen und eine Maskenpflicht einzuführen, überließ Schweden seiner Bevölkerung individuell, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Oder eben nicht.

Claudia Hanson etwa, Professorin am schwedischen Karolinska-Institut, bilanzierte gegenüber dem Nachrichtenportal Business Insider: "Sie haben die Sterblichkeit enorm unterschätzt." Hätte die Regierung früher strengere Regeln eingeführt, hätte Schweden wahrscheinlich eine den nordischen Nachbarn ähnlichere, niedrigere Sterblichkeitsrate aufzuweisen. Stattdessen wurde das Land zu "einem Traum" für jene, die "gedacht haben, man könne es anders machen". Das Fazit der Wissenschaftlerin: "Das war vielleicht keine gute Idee."

Corona: Während in Europa Lockdowns kamen, blieb Schweden bei seinem lockeren Ansatz

Als die Corona-Pandemie in Ländern wie Italien, Frankreich, Deutschland, später auch in Großbritannien dafür sorgte, dass immer strengere Regeln eingeführt wurden, sah das Leben in Schweden lange nicht groß anders aus als in Zeiten vor der Pandemie. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen im ganzen Land zunahm, gingen die Leute in Bars, gingen Kinder und Jugendliche weiter in unveränderter Klassenstärke zur Schule, trugen die Menschen größtenteils keine Masken.

Viele Gelehrte warnten davor, dass der laxe Ansatz zu unnötigen Todesfällen führen würde. Aber Anders Tegnell, der Chefarchitekt der schwedischen Coronavirus-Strategie, zierte sich, den Menschen im Land persönliche Freiheiten zu nehmen und sorgte sich um ihre Jobs, ihr Einkommen. "Man kann Schulen nicht im Wechsel öffnen und schließen. Das wäre eine Katastrophe", sagte er der Financial Times im September. "Und man kann Restaurants und ähnliche Betriebe wahrscheinlich auch nicht zu oft öffnen und schließen. Ein- oder zweimal, ja. Aber dann werden die Leute sehr müde und die Geschäfte werden wahrscheinlich mehr leiden, als wenn man sie komplett schließt."

Lockdowns verglich Tegnell damit, eine Fliege mit einem Hammer zu töten. So wurde Schweden zu einer der wenigen europäischen Nationen, die keine strikten Lockdowns verhängt haben. Die Mobilität der Bevölkerung von März bis Mai des vergangenen Jahres ging laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OSZE) in allen 28 untersuchten Ländern am wenigsten zurück. Die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Freizeitaktivitäten gingen in dieser Zeit in Schweden nur um 22 % zurück, in Spanien, dem Land mit dem höchsten Mobilitätsrückgang, um rund 66 %.

Gelehrte kritisieren Verzicht auf Maskenpflicht gegen Corona in Schweden

Dass trotzdem auf eine Maskenpflicht verzichtet wurde, kritisiert Arash Heydarian Pashakhanlou, Professor an der Swedish Defence University. Die Entscheidung der schwedischen Gesundheitsbehörden gegen eine solche Pflicht habe die Ausbreitung des Coronavirus beschleunigt - und das, obwohl es zunehmend Beweise dafür gab, dass sich der Verzicht auf Masken fatal auswirken könnte. Und obwohl die wissenschaftliche Gemeinschaft im Land eine Maskenpflicht in der überwältigenden Mehrheit gefordert hatte.

In einigen Bereichen rückte Schweden dann auch von seiner liberalen Linie ab. Im Frühling 2020 schlossen Gymnasien und Universitäten und die Regierung forderte zu sozialer Distanz in Bars und Restaurants auf. Kranke und ältere Menschen sollten nun zu Hause zu bleiben. Auch öffentliche Versammlungen wurden im Verlauf der Pandemie in unterschiedlichem Maße begrenzt.

Als sich Schweden im März 2020 für eine No-Lockdown-Strategie entschied, war die Forschung darüber, wie tödlich und ansteckend das Virus ist, noch im Anfangsstadium. Und doch erwog Chefstratege Tegnell laut einem E-Mail-Austausch zwischen dem Journalisten Emanuel Karlsten und der schwedischen Zeitung Expressen bereits zu dieser Zeit, junge, gesunde Menschen einer Infektion mit dem Virus zu überlassen, um die Immunität der Bevölkerung zu erhöhen.

"Absolut angewidert": Professorin kritisiert Ansatz der Durchseuchung gegen Corona in Schweden

Professorin Hanson sei "absolut angewidert" von Tegnells Ansatz gewesen, teilte sie dem Business Insider mit. Und zwar deswegen, weil er Wissen voraussetzte, über das die Wissenschaft zu dieser Zeit nicht verfügte. Ihre Kritik fiel scharf aus: "Ist er Gott oder sogar größer?". Das "Schreckliche" an der schwedischen Herangehensweise sei diese behauptete Vormachtstellung gewesen. Die schwedische Reiseexpertin Lotti Knutson sprach in der Folge von einem "Failed State", in den niemand mehr reisen wolle.

Schwedens Wirtschaft, die ja durch eine Strategie der lockeren Handhabe der Pandemie gestärkt werden sollte, schrumpfte von April bis Juni letzten Jahres weiter um 8,6% - was den größten vierteljährliche Rückgang im Land seit mindestens 40 Jahren bedeutet. Zum Vergleich: Die Wirtschaft Dänemarks schrumpfte in derselben Zeit um 7,4 %, die Norwegens um 5,1 % und die Finnlands nur um 3,2 %. Und auch die Arbeitslosenquote in Schweden stieg von 6,6% im März 2020 auf 9,5% im März 2021. Norwegen, Dänemark und Finnland verzeichneten alle einen geringeren Anstieg der Arbeitslosigkeit: im Durchschnitt um einen Prozentpunkt.

Forschende forderten bereits im April 2020 Änderungen in der schwedischen Strategie. In einem offenen Brief kritisierten mehr als 2.000 Experten die Entscheidung der Regierung, auf Lockdowns zu verzichten. Zwei Monate später stellten 23 schwedische Ärzte und Forschende öffentlich die Laissez-faire-Maskenpolitik des Landes in Frage.

Schwedische Professorin Hanson: "Haben den Tsunami kommen sehen. Warum sind wir nicht gerannt?"

Nachdem die 7-Tage-Inzidenz sowie die Zahl von Krankenhausaufenthalten und Todesfällen von Oktober bis Dezember 2020 in die Höhe geschossen waren, schloss die Regierung schließlich "nicht wesentliche öffentliche Räume" wie etwa Fitnessstudios, Schwimmbäder und Bibliotheken und empfahl den Menschen im Land, während der Hauptverkehrszeit in öffentlichen Verkehrsmitteln eine Maske zu tragen.

Ministerpräsident Stefan Löfven kündigte alsbald eine Abkehr vom Sonderweg an und nahm seine Bevölkerung in die Pflicht. Zu viele Menschen in Schweden hätten nach der trügerischen Corona-Sommerpause "geschlampt", sagte der Politiker. Eine etwaige Schlamperei seiner Behörden oder seiner Regierung in ihren strategischen Entscheidungen wollte er nicht einräumen.

"Länder mit zwangsweisen Beschränkungen haben es besser gemacht als wir", sagte Lars Calmfors, Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, dem Wall Street Journal im Dezember. "Wir halten uns gerne für sehr rational und pragmatisch", fügte er hinzu. Sein trauriges Fazit: "Ich kann mein Land nicht mehr erkennen." Ähnlich sieht es Claudia Hanson: "Einige Leute haben diesen Tsunami kommen sehen. Warum also sind wir nicht gerannt?" (Mirko Schmid)


Quelle: Frankfurter Rundschau vom 24.08.2021