Weitergedacht - Die Wagenknecht-Kolumne Bitte mehr Sachlichkeit: Die meisten Ungeimpften sind alles andere als notorische Impfgegner

Sahra Wagenknecht

Freitag, 05.11.2021, 18:37

Die vierte Corona-Welle rollt. Doch spricht wenig dafür, dass der finanzielle Druck auf Ungeimpfte und ihre zunehmende Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben das Infektionsgeschehen eindämmen. Viele der aktuellen Maßnahmen bewirken eher das Gegenteil. Es wird Zeit, zu einem Mindestmaß an Sachlichkeit in der überhitzten Debatte zurückzukehren. Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/ Sahra Wagenknecht

Schon wieder steigen die Inzidenzen. Und mit Ihnen die Nervosität. Der aktuelle Wert liegt bei rund 170 und damit deutlich höher als vor einem Jahr. Auch die Intensivstationen werden wieder voller. Mit gut 2000 Corona-Patienten ist die Belegung zwar noch weit von den Spitzenwerten der zweiten und der dritten Welle entfernt, als 5700 beziehungsweise 5100 Menschen mit schweren Corona-Verläufen intensivmedizinisch betreut werden mussten. Aber die kühle Jahreszeit hat ja auch gerade erst begonnen.

Lesen Sie hier den Fakten-Check zu den strittigsten Vorurteilen zum Thema Corona-Impfung: Charité-Forscher zu Impfzweifeln - Game-Changer in der Pandemie: Wie wichtig Impfen für den Kampf gegen Corona ist

Bundesregierung und RKI stolpern in die vierte Welle mindestens so unvorbereitet wie in alle vergangenen. Wie gut, dass es diesmal einen Sündenbock gibt, mit dem man vom eigenen Versagen ablenken kann: die Ungeimpften. Gäbe es nicht so viele Menschen, die sich dem rettenden Pieks verweigert hätten, könnten wir längst zur Normalität zurückkehren, so das gängige Narrativ. Wer sich nicht impfen lässt, verhalte sich daher grob unsolidarisch und sei für zunehmende Infektionen, überlastetes Pflegepersonal und womöglich bald auch dafür verantwortlich, dass andere Kranke nicht mehr angemessen versorgt werden können, weil ungeimpfte Corona-Patienten die Intensivstationen verstopfen.

Das alles spricht nicht dafür, dass unsere Impfquote der Kern des Problems ist

Wer so argumentiert, schürt nicht nur Panik, Angst und Hass. Er ignoriert auch wichtige Fakten. Fangen wir mit der Impfquote an. Das RKI hat Anfang Oktober eine Schätzung veröffentlicht, nach der unter Berücksichtigung der nicht gemeldeten Impfungen rund 84 Prozent der Erwachsenen mindestens einmal geimpft waren. Wenn das stimmt, müssten wir in der erwachsenen Bevölkerung jetzt, rund fünf Wochen später, knapp 84 Prozent doppelt Geimpfte haben. Bei den über 60jährigen wären es dann 89 Prozent, denn da liegt die offizielle Quote 5 Prozentpunkte höher. Dass wir selbst bei solchen wichtigen - und relativ einfach zu erfassenden - Vorgängen nicht über verlässliche Daten verfügen, ist Teil der Misere, die uns seit anderthalb Jahren begleitet. Aber nehmen wir mal an, die Schätzung des RKI stimmt. Dann gibt es gerade noch 16 Prozent ungeimpfte Erwachsene, und die meisten davon gehören den jüngeren Jahrgängen an.

Mit diesen Werten liegt Deutschland fast auf dem Level von Dänemark, das seit 11. September alle Maßnahmen aufgehoben hat. Dort sind die Inzidenzen ohne 3G oder 2G zwar höher als in Deutschland, aber Klagen wegen überlasteter Intensivstationen hört man nicht. Auch in Schweden gibt es schon lange keine Einschränkungen mehr, obwohl die Impfquote mit 66 Prozent der Gesamtbevölkerung eher unter der unsrigen liegt. Die Inzidenz erreicht in Schweden trotzdem nur 59 und in den schwedischen Krankenhäusern herrscht Normalbetrieb. Das alles spricht nicht dafür, dass unsere Impfquote der Kern des Problems ist.

Zumal unter den Nicht-Geimpften auch nicht wenige inzwischen eine natürliche Immunität besitzen, weil sie bereits Corona hatten oder über ausreichend Antikörper infolge einer sogenannten Kreuzimmunität verfügen. Leider haben wir auch hier keine Daten, obwohl eine repräsentative Antikörperstudie ohne großen Aufwand durchgeführt werden könnte. Selbst bei der Debatte über mögliche Booster-Impfungen kommt seltsamerweise niemand auf die Idee, standardmäßig zunächst einmal Antikörpertests durchzuführen, ehe man den Menschen pauschal eine dritte Impfung empfiehlt, mit der wir uns auf wissenschaftlich völlig ungesichertes Terrain begeben.

Gute Nachricht ist, dass die Impfung trotz allem immer noch relativ gut vor schweren Verläufen schützt

Eines ist unstrittig: Die Wirksamkeit der Impfstoffe lässt leider schneller nach als man das zu Beginn der Impfkampagne erwartet hatte. Rund 40 Prozent aller Corona-Erkrankungen betreffen mittlerweile doppelt Geimpfte. Auf den Intensivstationen liegen zu fast 30 Prozent Menschen, die eigentlich gehofft hatten, geschützt zu sein. Ihr Anteil steigt von Woche zu Woche, und zwar in bedenklichem Tempo. Noch vor zwei Monaten gab es nahezu keine Impfdurchbrüche, die im Krankenhaus behandelt werden mussten.

Die "Pandemie der Ungeimpften" ist also längst Geschichte. Um diese Legende allerdings so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, bemühen sich Noch-Gesundheitsminister Spahn und das RKI seit Wochen, die Zahl der Impfdurchbrüche zu verschleiern und kleinzureden. Das war ihnen offenbar wichtiger als frühzeitig auf die veränderte Situation zu reagieren. Die aktuellen Ausbrüche in den Pflegeheimen wären durch eine Testpflicht nicht nur für Ungeimpfte, sondern auch für geimpfte Besucher und geimpftes Personal vielleicht vermeidbar gewesen. Für sehr alte und immungeschwächte Menschen macht wahrscheinlich auch die Booster-Impfung Sinn. Die hätte allerdings längst eingeleitet werden können.

Die gute Nachricht ist, dass die Impfung trotz allem immer noch relativ gut vor schweren Verläufen schützt. Dass sieht man daran, dass der Anteil der Geimpften an der Bevölkerung deutlich höher ist als ihr Anteil an den schwer Corona-Erkrankten. Wir wissen nicht, ob das so bleibt. Aber mit Blick auf das große Risiko einer Corona-Erkrankung für Ältere und für Menschen mit einem der inzwischen bekannten Risikofaktoren - Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck -, sollte man bei diesen Gruppen in jedem Fall dafür werben, sich impfen lassen.

Die schlechte Nachricht ist, dass die aktuell verwendeten Impfstoffe kaum noch davor schützen, sich zu infizieren und das Virus an andere weiterzugeben. Zwei aktuelle Studien aus Katar und Israel, die kürzlich im "New England Journal of Medicine" erschienen sind, kommen zu dem Ergebnis, dass der Schutz vor einer Infektion 5 bis 7 Monate nach der Impfung mit BionTech nur noch etwa 20 Prozent beträgt. Dass wiederum geimpfte Infizierte die gleiche Viruslast haben wie ungeimpfte und das Virus ebenso weitergeben können, hat ein britisches Forscherteam in einer jüngst veröffentlichten Untersuchung nachgewiesen. Allenfalls das Zeitfenster für die Ansteckung ist etwas kürzer.

Die meisten Ungeimpften sind alles andere als notorische Impfgegner

Die Impfung macht also einen gewissen Unterschied, aber ein Game Changer im Hinblick auf das Infektionsgeschehen ist sie nicht. Anders wäre die aktuelle Situation auch gar nicht erklärbar. Denn würde das Virus tatsächlich fast nur noch in dem vergleichsweise kleinen Teil der Bevölkerung zirkulieren, der weder geimpft noch natürlich immunisiert ist, müssten die Inzidenzen trotz Delta-Variante in jedem Fall niedriger sein als vor einem Jahr. Auch gibt es inzwischen genügend Beispiele von 2G-Veranstaltungen, die sich als Superspreader-Events entpuppten. Die Ausweitung von 2G und die Verbannung der Ungeimpften aus dem öffentlichen Raum ist daher nicht nur eine willkürliche Einschränkung von Grundrechten. Es ist auch eine Maßnahme, die die Verbreitung des Virus eher fördert. Das Gleiche gilt für das Ende kostenloser Tests, denn seither wird schlicht sehr viel weniger getestet. Wenn zum Kinoticket noch 15 Euro für einen Schnelltest kommen, streamt man den Film dann doch lieber mit seinen ungeimpften Freunden auf dem eigenen Sofa. Teure Tests oder 2G mögen passable Maßnahmen sein, um Ungeimpften das Leben schwer zu machen. Zur Eindämmung des Virus tragen sie nicht bei. Und es spricht auch wenig dafür, dass sie die Impf-Motivation erhöhen.

Eine kürzlich veröffentliche Umfrage gibt Aufschluss darüber, warum sich Menschen aktuell gegen eine Impfung entscheiden. Die Antworten zeigen, dass die meisten Ungeimpften alles andere als notorische Impfgegner sind. Viele machen sich Sorgen wegen der Neuartigkeit der genbasierten Impfstoffe und dem verkürzten Zulassungsverfahren. Sie haben Bedenken, dass viele Nebenwirkungen und vor allem Langzeitwirkungen bisher unzureichend bekannt sind.

Jeder Mensch hat das Recht, die Abwägung möglicher Risiken der Impfung für sich selbst vorzunehmen

Diese Sorgen sind keineswegs so abwegig wie sie immer wieder dargestellt werden. Selbstverständlich hat es bereits Impfstoffe gegeben, bei denen sich erst in der Langzeitbeobachtung herausstellte, dass sie nicht so wirken wie erhofft. Bei einem noch in der Erprobungsphase befindlichen Impfstoff gegen Aids fiel erst nach Jahren auf, dass Geimpfte nach einer gewissen Zeit sogar anfälliger für die Krankheit wurden. Beim Dengue-Fieber hatte man den Impfstoff bereits an zehntausende Menschen verimpft, als man merkte, dass die Krankheit bei Geimpften, die vorher noch keine Dengue-Infektion hatten, häufiger schwer und sogar tödlich verlief als bei Ungeimpften. BiontechPfizer hat den Staaten als Käufern seines Impfstoffs sicher nicht ohne Grund folgende Klausel in die Verträge diktiert: "Der Käufer erkennt an, dass die langfristigen Wirkungen und die Wirksamkeit des Impfstoffs derzeit nicht bekannt sind und dass der Impfstoff unerwünschte Wirkungen haben kann, die derzeit nicht bekannt sind... Der Käufer erklärt sich hiermit bereit, Pfizer, BioNTech (und) deren verbundene Unternehmen (...) von und gegen alle Klagen, Ansprüche, Aktionen, Forderungen, Verluste, Schäden, Verbindlichkeiten, Abfindungen, Strafen, Bußgelder, Kosten und Ausgaben freizustellen, zu verteidigen und schadlos zu halten."

Auch das RKI hebt in seinem "Impfbuch für alle" vom Frühjahr diesen Jahres ausdrücklich hervor: "Noch länger dauert die Beobachtung möglicher Spätfolgen. Denn natürlich kann man bei einer Impfung, die erst seit ein paar Monaten verabreicht wird, noch nicht wissen, ob und welche Spätfolgen nach ein paar Jahren auftauchen." Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, aber wer das heute öffentlich ausspricht, wird als Impfgegner, Schwurbler und Querdenker an den Pranger gestellt.

Jeder Mensch hat das Recht, die Abwägung zwischen den Gefahren einer Corona-Infektion und den möglichen Risiken der Impfung für sich selbst vorzunehmen. Es kann sein, dass der ein oder andere dabei eine Entscheidung trifft, die sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Im schlimmsten Fall bezahlt er das mit schwerer Krankheit oder seinem Leben. Aber auch das gehört zur Freiheit. Und zur Erhöhung der Impfquote wäre die schnelle Zulassung der besten der weltweit bereits millionenfach verimpften klassischen Totimpfstoffe garantiert ein wirkungsvolleres Mittel als der immer größere Druck auf Ungeimpfte. Dass die Direktorin der für Impfstoffzulassungen verantwortlichen Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) vor ihrem Amtsantritt im November 2020 jahrelang als Lobbyistin die Interessen von AstraZeneca und Pfizer im europäischen Dachverband der Pharmaindustrie vertreten hat, könnte freilich erklären, warum die Zulassung alternativer Präparate so auffällig lange dauert...

Ein Staat, der uns vorschreibt, wie wir zu leben haben?

In jedem Fall gibt es keinen Grund, die Entscheidung pro oder contra Impfung moralisch aufzuladen. Wer sich impft, schützt in erster Linie sich selbst. Auf die Verbreitung des Virus hat die Impfentscheidung relativ wenig Einfluss. Und da gerade mal 19 Prozent der Corona-Intensivpatienten unter 50 Jahre alt ist, dürfte eine Erhöhung der Impfquote unter den Jüngeren und Gesunden auch die Belegung der Intensivstationen kaum tangieren.

Außerdem sollten wir uns gut überlegen, ob wir die Logik wirklich akzeptieren wollen, dass der Staat das Recht hat, individuelle Entscheidungen und Lebensweisen mit Blick auf mögliche Folgen für das Gesundheitswesen zu sanktionieren. Sollen wir künftig auch Raucher, Alkoholliebhaber oder Übergewichtige aus dem gesellschaftlichen Leben verbannen, bis sie freiwillig ihr Leben ändern, weil all diese Laster mit hohen Gesundheitsrisiken verbunden sind? Und wie ist das bei gefährlichen Freizeitbeschäftigungen? Auch Unfälle von Motorrad- oder Skifahrern "belasten" unsere Krankenhäuser. Wo hört das gesellschaftlich tolerierte Hobby auf und der unsolidarische Risikosport beginnt? Selbst Radfahren ist durchaus nicht so ungefährlich wie viele meinen.

Das Ergebnis wäre ein Staat, der uns vorschreibt, wie wir zu leben haben, damit es nur ja nicht zu einer "Überlastung" der immer knapperen Kapazitäten des Gesundheitssystems kommt. Wollen wir das wirklich? Wäre es nicht die bessere Idee, in unseren Krankenhäusern ausreichend ordentlich bezahltes Personal zu beschäftigen, das mit den erwartbaren Erkrankungen einer 80-Millionen-Bevölkerung ohne Dauerüberlastung und Burnout klarkommt?

Gegen den immer krasseren Pflegenotstand wird seit Jahren nichts unternommen

Deutschland hatte mal ein wirklich gutes Gesundheitssystem. Das war vorbei, als rot-grüne Gesundheitsökonomen wie Karl Lauterbach die Krankenhäuser darauf zu trimmen begannen, nicht mehr zu fragen: Was braucht der Kranke, sondern: Wie kann man mit Kranken das meiste Geld verdienen? Konsequenz dieser Neuorientierung waren ein massiver Personal- und Bettenabbau in den Kliniken, extreme Arbeitsverdichtung, Tarifflucht und Lohndrückerei. Irgendwann waren die Arbeitsbedingungen so schlecht, dass offene Stellen nicht mehr besetzt werden konnten und mehr und mehr Pflegekräfte ausgebrannt und überlastet den Dienst quittierten. Dieser Trend setzte sich in der Corona-Zeit nahtlos fort. Allein im Vergleich zum Oktober letzten Jahres stehen uns aktuell wegen Personalmangel 5000 Intensivbetten weniger zur Verfügung. Die höchste Belegung der Intensivstationen durch Corona-Patienten, die es bei einer komplett ungeimpften Bevölkerung bisher gab, lag bei 5700 Betten…

Dass die gleichen Politiker, die diese fatale Entwicklung mitzuverantworten haben, jetzt schon wieder vor einer Überlastung von Kliniken und Pflegepersonal warnen, ist an Heuchelei kaum zu überbieten. Ja, unser Gesundheitssystem ist tatsächlich immer schneller am Limit. Aber daran sind nicht die Ungeimpften schuld, ebensowenig wie Raucher, Adipöse oder Extremsportler, sondern diejenigen, die gegen den immer krasseren Pflegenotstand seit Jahren nichts unternehmen.


Quelle: focus.de vom 05.11.2021