FOCUS-Online-Redakteur Christian Döbber
Mittwoch, 19.08.2020,
FOCUS Online: Frau Hönigs, vor wenigen Monaten verging kein Tag ohne Schreckensmeldungen von Corona-Ausbrüchen in Seniorenheimen. Hunderte Menschen starben damals an Covid-19. Jetzt hört man kaum noch etwas vom ehemaligen Virus-Hotspot "Altenheim". Alles gut also?
Ursula Hönigs: Ich bin erschrocken darüber, dass es in der öffentlichen Wahrnehmung so aussieht, als sei die Coronakrise in der stationären Altenpflege schon vorbei. Nur weil die Fallzahlen in den Einrichtungen im Moment niedrig sind, heißt das nicht, dass wir wieder ganz normal weitermachen können.
Ich habe einen Satz im Ohr, den ein Bewohner vor einigen Monaten zu mir gesagt hat: "Das ist schlimmer als der Zweite Weltkrieg. Da konnten wir wenigstens zusammensitzen und uns gegenseitig trösten." Ich bin mir sicher, dass es auch jetzt vielen Senioren in deutschen Heimen noch so geht. Offengestanden: Es ist für mich persönlich erschütternd, was Bewohnern und Angehörigen immer noch angetan wird.
Auch Monate nach der Akutphase wird in deutschen Pflegeheimen großes seelisches Leid produziert. Es bekommt nur keiner mit, weil Politik und Gesellschaft keine Denkkapazitäten für uns frei haben. Sie waren und sind mit anderen Virus-Hotspots beschäftigt - erst mit dem Ausbruch bei Tönnies, dann mit den Schulen und jetzt mit den Urlaubsrückkehrern. Die Verletzlichsten - die eigentliche Hochrisikogruppe - werden ein Stück weit vergessen.
Während des Lockdowns litten die Bewohner von Pflegeeinrichtungen vor allem unter den Besuchs- und Kontaktverboten. Diese wurden doch aber inzwischen gelockert, oder?
Hönigs: Nicht überall. Je nach Bundesland herrschen immer noch mehr oder weniger strenge Besuchsregelungen. Es gibt Heime, in denen können Bewohner immer noch keinen oder nur sehr eingeschränkten Besuch empfangen, zum Beispiel nur nach vorheriger Terminvereinbarung in einem speziellen Besucherraum und unter Anwesenheit von Pflegepersonal. Weil das oft fehlt und die Wochenende-Besetzungen in der Regel schlechter sind, erlauben manche Heime an Wochenenden gar keine Besuche mehr.
Ich habe von einem Fall gehört, da steigt eine Frau noch immer mit der Leiter hoch ans Fenster ihres Ehemannes, um ihn wenigstens für einen kurzen Moment durch die Scheibe zu begegnen. Als ich das erfahren habe, bin ich innerlich zusammengebrochen. Ich finde, das grenzt an eine Menschenrechtsverletzung.
Wie organisieren Sie Angehörigenbesuche in Ihrem Heim, ohne dass darunter die Sicherheit der Bewohner leidet?
Hönigs: Natürlich können auch wir die Virusgefahr nicht einfach ausblenden. Jeder Besucher, der unser Haus betritt, muss sich die Hände desinfizieren, Mundschutz alegen, die Körpertemperatur messen lassen und sich in eine Besucherliste eintragen. Aber ich wehre mich dagegen, mein Haus zu einem Hochsicherheitstrakt auszubauen. Unsere Bewohner können täglich Besuch bekommen und es gibt keine festen Besuchszeiten.
Wir können das so handhaben, weil Einrichtungsleitungen glücklicherweise gewisse Gestaltungsspielräume bei der Umsetzung der Infektionsschutz-Verordnungen haben. Das Problem ist aber, dass viele Heimleiter eine Riesenangst haben, dass das Virus zurück in ihre Einrichtungen kommt. Sie fühlen sich ohnehin von Behörden und Politik in dieser Situation alleingelassen - und setzen deshalb weiter auf rigorose Abschottung.
Was sind die Folgen für die Senioren in den Heimen?
Hönigs: Schon für nicht dementiell veränderte Menschen ist die aktuelle Situation brutal. Wenn Bewohner ihre Angehörigen nicht sehen können, bricht ihre gesamte emotionale Unterstützung weg. Wir haben in den vergangenen Monaten bemerkt, dass das zu starken psychischen Veränderungen bei den Menschen geführt hat. Sie saßen teilnahmslos in ihren Zimmern oder auf den Fluren. Besonders schlimm: Viele haben ihre Angehörigen nach Lockerung des absoluten Besuchsverbots gar nicht mehr erkannt.
Inzwischen hat sich die Situation in vielen Heimen gebessert, in vielen aber auch nicht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel dürfen Bewohner die Pflegeeinrichtungen für maximal sechs Stunden verlassen. Ein Wochenend-Besuch bei der Familie? Das ist immer noch nicht möglich. Eine Seniorin in meinem Haus hat mich deshalb zu Recht gefragt "Jetzt bin ich gerade 95 geworden und ihr sperrt mich wieder ein. Was soll das?"
Gleichzeitig genießen viele jüngere Menschen wieder große Freiheiten, sie reisen zum Beispiel. Macht es Sie wütend, zu sehen, dass Deutschland seine Alten ein Stück weit kaserniert?
Hönigs: Natürlich fragt man sich ab und an: Warum dürfen Millionen Deutsche trotz offensichtlich steigender Fallzahlen für zwei Wochen in die Toskana oder nach Mallorca reisen und meine Bewohner nicht einmal einen Tagesausflug an den Rhein machen? Doch es wäre falsch, zu denken, dass die Jungen jetzt auf Kosten der Alten auf alles verzichten müssten. Was mich wütend macht, ist, dass der Kasernierungs-Zustand der Alten andauert und von der Politik so hingenommen wird. Ich frage mich, warum nicht jetzt nach Lösungen gesucht wird, die einer ganzen Generation das Leben mit Corona halbwegs erträglich machen könnten.
Stattdessen dreht sich die ganze öffentliche Debatte jetzt um Corona-Tests für Reiserückkehrer. Es ist schon etwas paradox: Die Jungen und Gesunden, die sich im Urlaub erholen, werden massenhaft getestet, die Alten und Vulnerabelsten sehen kaum einen Corona-Test.
Bundesgesundheitsminister Spahn hatte auf dem Höhepunkt der Coronakrise Unterstützung zugesagt: In den Heimen würde es bald breite, regelmäßige Testungen geben. Wie sieht der Testalltag in Ihrem Haus aus?
Hönigs: In unserem Haus müssen Bewohner, die von zuhause oder aus dem Krankenhaus aufgenommen werden, ein negatives Testergebnis vorweisen. Liegt das vor, passiert erst einmal lange gar nichts mehr. Getestet wird in den Heimen immer noch nur im Bedarfsfall, das heißt, wenn ein Bewohner zum Beispiel Covid-19-Symptome hat. Wir behelfen uns, indem wir zwei Mal täglich die Temperatur der Menschen messen.
Grundsätzliche Testverfahren mit festgelegten Zyklen oder Reihentests für unsere Mitarbeiter gibt es aber nicht. Dabei sind gerade symptomfreie Pfleger mitunter die größte Gefahr für ein Altenheim. Das weiß ich aus eigener Erfahrung: Sechs meiner Mitarbeiter wurden im Frühjahr positiv getestet. Glücklicherweise konnten wir schnell reagieren. Trotzdem sind zwei meiner Bewohner an Corona erkrankt, einer ist leider verstorben.
Inwiefern würden verstärkte Testungen Ihre Arbeit erleichtern und das Leben der Bewohner angenehmer machen?
Hönigs: Breite, regelmäßige Testungen würden den Einrichtungen die Unsicherheit nehmen, mit der sie immer noch leben. Sie würden dazu beitragen, dass sich die Menschen in bestimmten Heime nicht mehr wie Gefängnisinsassen fühlen, dass sich die Häuser allmählich wieder öffnen würden, dass Angehörige, Freunde, Enkelkinder die Senioren besuchen könnten.
Vor der Urlaubszeit wurde von der Politik noch proklamiert: Wir können testen - großzügig und großflächig. Ich spüre davon nichts mehr. Im Kreis Heinsberg hat eines der beiden Testzentren bereits wieder geschlossen. Dabei würden uns zum Beispiel Schnelltests bei der großen Frage, die uns alle in der Branche umtreibt helfen: Wie kann ich unter größtmöglichem Schutz die bestmögliche Lebensqualität für die Bewohner erreichen?
Haben Sie persönlich Angst vor einer Zweiten Welle - und wie müssen Heime darauf vorbereitet werden, dass sich die menschliche Tragödie nicht wiederholt?
Hönigs: Ich sehe das ganz sachlich: Im Moment ist es relativ ruhig in den Heimen. Doch wenn in der Gesamtgesellschaft die Zahl der Infektionen zunimmt, wie wir es jetzt gerade erleben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Virus auch wieder in den Pflegeinrichtungen auftaucht. Ob sich eine zweite Welle in den Heimen überhaupt aufhalten lässt, weiß ich nicht. Wer so etwas behauptet, leidet an Allmachtsphantasien. Was ich weiß, ist, dass wir nur eine Chance haben, ein weiteres Massensterben zu verhindern, wenn wir an unserer Strategie arbeiten.
Wir sollten jetzt die Ruhe vor dem Sturm unbedingt nutzen, um zu verhindern, was im Frühjahr eine ganze Branche traumatisiert hat. Dazu gehören mehr Tests. Aber auch politische Verordnungen, die nicht nur den medizinischen Infektionsschutz, sondern auch den ethischen Aspekt, die Menschenwürde der Bewohner berücksichtigen. Nicht nur Abstand und Mundschutz sind in der stationären Pflege wichtig, sondern auch ein Recht auf Besuch und Beistand für die Betroffenen. Die Politik sollte die Wünsche und Bedürfnisse der alten Menschen, den Einzelfall im Blick haben - und nicht wie die Virus-Feuerwehr nur von Hotspot zu Hotspot rauschen.
Quelle: focus.de vom 19.08.2020