FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Mittwoch, 03.03.2021, 13:22
Angesichts der hohen Corona-Risiken muten solche Mega-Treffen befremdlich an. Es steht zu befürchten, dass sich viele Menschen anstecken und aufgrund schwerer Krankheitsverläufe in Kliniken behandelt werden müssen. In der Schweiz und in Österreich haben Medien über entsprechende Entwicklungen bereits berichtet.
Und wie sieht es in Deutschland aus?
Die "Bild"-Zeitung veröffentlichte an diesem Mittwoch Details aus einer Telefon-Schaltkonferenz zwischen dem Chef des Robert Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler und mehreren Chefärzten vom 14. Februar 2021. In dem Gespräch sei es um die hohen Ansteckungszahlen unter Migranten in Deutschland gegangen. RKI-Chef Wieler habe demnach gewarnt: "Das ist ein echtes Problem."
Auch wenn Lothar Wieler gegenüber "Bild" betonte, bei der Schaltkonferenz habe es sich nicht um ein "öffentliches Expertengespräch" gehandelt, sondern um "einen persönlichen, informellen Austausch" - inhaltlich widersprach er nicht.
Bereits in den vergangenen Tagen bestätigten mehrere Mediziner aus verschiedenen Bundesländern gegenüber FOCUS Online, dass der Migranten-Anteil unter den Corona-Patienten in ihren Kliniken auffällig hoch sei. Konkrete Zahlen konnten sie nicht nennen. Grund: Es werden keine entsprechenden statistischen Daten erhoben. Allerdings sei die Lage auf ihren Covid-Stationen eindeutig, versicherten sie.
Ein Arzt, der ebenso wie seine Kollegen anonym bleiben will, sagte: "Es ist tatsächlich so, dass Patienten mit Migrationshintergrund weit überrepräsentiert sind. Insbesondere in der Hochphase der zweiten Corona-Welle stellten sie den weit überwiegenden Anteil der therapiepflichtigen Patienten." Die Betroffenen stammten nicht nur aus der Türkei, sondern auch aus weiten Teilen des Balkans, also aus Südosteuropa.
Überraschend ist dies nicht. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), zu der 37 Staaten mit hohem Pro-Kopf-Einkommen gehören, hat schon früh vor dieser Entwicklung gewarnt. "In fast allen OECD-Ländern, für die Daten vorliegen, gibt es eine systematische Überrepräsentanz von Migranten bei den Covid-19-Fällen und bei der Sterblichkeit", erklärte OECD-Ökonom Thomas Liebig im Herbst 2020.
Als Gründe führte er an: Armut, beengter Wohnraum, häufigere Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und Jobs, in denen Home Office und Social Distancing kaum möglich sind, etwa in der Gastronomie oder fleischverarbeitenden Betrieben.
Tatsächlich war es im Sommer 2020 zu Masseninfektionen in mehreren deutschen Großfleischereien wie Tönnies, Müller-Fleisch und Westfleisch gekommen, wo vor allem osteuropäische Beschäftigte unter prekären Bedingungen arbeiten müssen. Sie hatten keine Chance, den gefährlichen Viren zu entkommen - und verbreiteten sie anschließend weiter.
Im Zusammenhang mit Corona-Neuinfektionen spielen offenbar weitere Faktoren eine gewichtige Rolle. So berichtet ein Arzt gegenüber FOCUS Online von Zusammenkünften großer Familien aus Milieus mit Migrationshintergrund. "Da gab es Beerdigungen, die unter corona-konformen Bedingungen abliefen. Aber anschließend veranstalteten die Familien große Trauerfeiern, die offenbar nicht corona-konform waren."
Mit zeitlichem Abstand seien Mitglieder der Trauergemeinde in die Klinik eingeliefert worden. "Die waren dann schwer krank", sagt der Arzt. Nach manchen Beerdigungen habe eine halbe Familie behandelt werden müssen, in einigen Fällen sogar ganze Familien.
Ein weiterer Risikofaktor seien Großfamilien, die auf engem Raum zusammenleben. "In einer klassischen Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern gehen diese vier Menschen eine Virusgemeinschaft ein. Was der Vater hat, hat wahrscheinlich auch die Mutter, was der Sohn hat, hat vermutlich die Tochter", erklärt der Arzt.
"Wenn diese Familie sehr viel größer ist und mehrere Generationen unter einem Dach leben, also Großeltern zusammen mit Eltern, Kindern, Enkelkindern, Brüdern, Schwestern, Cousinen und Nichten, dann ist das eine sehr viel größere Virusgemeinschaft", so der Mediziner. Es bestehe das Risiko, "dass sich in einer Großfamilie weitaus mehr Menschen mit Corona infizieren und die Krankheit so immer weitertragen".
Doch nicht nur die Familiengröße und Corona-Verstöße bei Trauer- oder Hochzeitsfeiern tragen laut dem Experten zur rasanten Viren-Verbreitung bei. "Eine wichtige Rolle spielt auch, dass viele Menschen mit Migrationshintergrund kaum Zugang zu gesundheitlicher und gesundheitspolitischer Bildung haben. Da fehlt es oft an seriösen Informationen, was auch an sprachlichen Problemen liegt."
Verstärkt würde die Unwissenheit von Migranten durch Desinformationen aus deren Heimatländern. Der Arzt zu FOCUS Online: "Da gibt es Kulturkreise, in denen die Meinung propagiert wird, Corona sei gar nicht so schlimm - und eigentlich müsse man da nur gut beten."
Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, haben der Arzt und seine Kollegen eine Gegenstrategie entwickelt - auf mehreren Ebenen. Zum einen suchten Mitarbeiter der Klinik, die selbst einen Migrationshintergrund haben, das Gespräch mit ihren Landsleuten. Das geschah auf privater Ebene, aber auch im Kontakt mit Verbänden, Religionsgemeinschaften und anderen Netzwerken.
"Wir haben versucht, in die verschiedenen Communitys hineinzuwirken und gesagt: Viele von euren Freunden sind bei uns in der Klinik. Das ist ein Problem. Schaut euch das bitte aus Eurer Perspektive an und überlegt, was man da machen kann", berichtet der Arzt. "Viele waren da sehr dankbar und haben in ihren Bereichen gute Aufklärungsarbeit geleistet."
Zusätzlich wandten sich die Mediziner an die Politik. Sowohl die Vertreter der Kommune mit ihren Integrationsexperten als auch die Landesregierung seien informiert worden, berichtet der Arzt. Und auch die Bundesregierung hat längst erkannt, dass die Pandemie-Bekämpfung nur erfolgreich sein kann, wenn man die in Deutschland lebenden Migranten aktiv einbezieht - oder sie zumindest auf irgendeine Weise erreicht.
Die im Juni 2020 gestartete Corona-Warn-App, die helfen soll, eine weitere Verbreitung des Virus zu unterbinden, gibt es mittlerweile in vielen Sprachen, darunter Türkisch, Arabisch, Albanisch, Bulgarisch, Kroatisch und Dari, die Mehrheitssprache in Afghanistan. Außerdem verbreitet die Regierung mehrsprachiges Info-Material zu Corona aktiv über Verbände und soziale Medien. Ein Podcast von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Corona-Gefahr lief mit arabischen und türkischen Untertiteln.
Ähnliche Initiativen kommen aus den Krankenhäusern selbst. So starteten die Beschäftigten des Klinikums Nürnberg eine Kampagne im Internet. Unter dem Titel "Bitte nehmt Corona ernst!" entstanden 14 kurze Videos in Deutsch sowie 13 Fremdsprachen. Die auf Facebook und Youtube geposteten Filme wurden direkt auf den Covid-Stationen aufgenommen. Ärzte, Pfleger, medizinische Fachangestellte und Reinigungskräfte mit internationalen Wurzeln erklären in ihrer Landessprache, wie man sich vor Corona schützen kann.
Tabu-Thema: Angst von politischer InstrumentalisierungDass der hohe Migranten-Anteil unter Covid-Patienten in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielt, ist für die Mediziner, mit denen FOCUS Online sprach, nachvollziehbar. Es bestehe die Gefahr, dass bestimmte Kreise die Situation nutzen, um Migranten als "Pandemie-Treiber" zu diskriminieren. "Das gilt es unbedingt zu verhindern", sagt ein Arzt.
Der Mediziner konstatiert, dass sich auch Teile der deutschstämmigen Bevölkerung mit den Corona-Schutzmaßnahmen sehr schwertun und dadurch "jede Menge unnötige Infektionen" verursachten. Deshalb plädiert er für die Aufklärung "in allen Bevölkerungskreisen und Schichten - völlig unabhängig vom Migrationshintergrund". Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), sieht das ähnlich. Verstöße gegen die Maskenpflicht seien "vollkommen unabhängig von Ethnien", so Radek.
Gegenüber FOCUS Online forderte der Klinik-Arzt, man müsse endlich auch die weniger gebildeten und sozial schwachen Menschen erreichen - jene Leute, "die nicht jede Ausgabe von Anne Will' anschauen und den dort auftretenden Corona-Experten lauschen". Ganz viele könnten mit "abstrakten Debatten um irgendeinen R-Faktor oder die Höhe eines Inzidenzwerts nichts anfangen", glaubt der Arzt "Die brauchen vielmehr klare Verhaltensmuster: Wie feiere ich in Zeiten von Corona einen Geburtstag? Wie läuft eine Beerdigung ab? Wie gehe ich mit Familienangehörigen um?"
Die Menschen wollten keine hochtrabenden Debatten, "sondern einfache Lösungsmuster, an denen sie sich im Alltag orientieren können".
Hinsichtlich der Besonderheiten in islamisch geprägten Bevölkerungskreisen regt der Arzt an, während der Corona-Zeit "auch liebgewonnene und wertvolle Traditionen zu hinterfragen und an die Pandemie anzupassen." Dabei müsse man verstehen, dass die staatlich verordneten Hygienevorgaben und Kontaktbeschränkungen "keinen Angriff auf solche Strukturen und auf solche Lebensweisen darstellt".
Der Mediziner zu FOCUS Online: "Ich bin mir sicher, dass es ein mit dem Islam oder mit anderen traditionellen Lebensformen völlig kompatibles corona-sicheres Leben gibt. Es ist eine Frage der Interpretation und eine Frage der Gestaltung."
Quelle: focus vom 03.03.2021