FOCUS-Online-Reporter Axel Spilcker
Freitag, 09.04.2021, 22:17
Der Informant will anonym bleiben. Zu heikel ist das Thema. Vergangene Woche erhielt FOCUS Online eine Excel-Tabelle mit einem alarmierenden Corona-Befund aus einem großen Kölner Krankenhaus (Name ist der Redaktion bekannt). Die Auswertung unter dem Kürzel "Coronavirus-Überwachung" (Surveillance) bestätigt Vermutungen, die schon seit Wochen kursieren: Die Corona-Infektionswelle trifft insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund.
Von Tausenden PCR-Getesteten, die in dieser Klinik aktenkundig sind, wurden vom 1. November 2020 bis Ende Februar 2021 knapp 290 Patienten stationär aufgenommen. Mehr als 55 Prozent von ihnen wiesen dem Dokument zufolge ausländische Wurzeln auf. Auch bei schweren Krankheitsverläufen besteht ein Übergewicht. Und: Von den 56 Menschen, die in dem Kölner Krankenhaus an oder mit Corona verstorben sind, blickt mehr als jeder Zweite auf einen Migrationshintergrund zurück.
Ein ähnliches Bild auf der Intensivstation des besagten Klinikums: Zwei Drittel der 100 in diesem Zeitraum behandelten Intensivpatienten hatten einen Migrationshintergrund. Auffällig hoch liegt die Quote auch bei jenen Virus-Erkrankten, die invasiv beatmet werden mussten: Fast 40 Menschen mit einer Zuwanderer-Vita stehen hier 21 Männern und Frauen ohne Migrationshintergrund gegenüber. Betroffen waren demnach vor allem türkisch, arabisch, italienisch und osteuropäisch stämmige Patienten. Dies sind die ersten belastbaren Zahlen aus der Praxis einer der größten Kliniken in Köln.
Die Daten decken sich mit den Erkenntnissen des Leiters der Lungenklinik Moers, Thomas Voshaar. Der Chefarzt berichtete bereits Anfang März von Kollegen, die bekundeten, dass Menschen mit Migrationshintergrund auf ihren Intensivstationen überrepräsentiert seien. Demnach schwankte die Rate zwischen 50 und 90 Prozent.
Im Raum Bielefeld sieht es nach Meldungen der "Westfälischen Nachrichten" nicht besser aus. Gut die Hälfte der Corona-Patienten in den Krankenhäusern besitzen ausländische Wurzeln. Dieser Wert liegt weit höher als der Anteil der Bevölkerung mit Zuwanderergeschichte in NRW in Höhe von 29,3 Prozent.
Während aber große Teile der Politik das Problem umgehen und auch der zuständige Fachverband Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin keine entsprechenden Erhebungen anstellt, fällt eine OECD-Studie ein eindeutiges Urteil. Der Untersuchung zufolge sind Einwanderer "besonders von den gesundheitlichen Folgen der Pandemie betroffen". Das liege einerseits daran, "dass sie häufig an vorderster Front" als Pfleger oder Ärzte im Kampf gegen Covid-19 arbeiten. Ein weiterer Grund: Die Lebensbedingungen bergen "höhere Risiken" - so etwa beengte Wohnverhältnisse oder ein Dasein in Armut.
Dazu passt eine jüngst veröffentlichte Expertise des Berliner Senats: "Je höher der Anteil der Arbeitslosen beziehungsweise Transferbeziehenden in den Bezirken ist, desto höher ist die Covid-19-Inzidenz", heißt es dort.
Ali Ertan Toprak, Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft für Immigrantenverbände, sieht mehrere Gründe für den negativen Trend: Neben den sozialen Problemen bemängelt der Politiker, eine unzureichende Aufklärungskampagne der Migrantencommunity. Da reiche es nicht aus, die sich stetig ändernden Corona-Schutzregeln in verschiedenen Sprachen zu übersetzen und ins Internet zu stellen. Auch erreichen deutschsprachige Medien viele türkischstämmige Bewohner offenbar nicht. "Viele von ihnen informieren sich eher über die staatlich gelenkten TV-Sender Ankaras, dort geht es aber über die Lage in der Türkei und nicht in Deutschland."
Ähnlich sieht es Thomas Voshaar. Der Klinikleiter fürchtet, "dass vielleicht die Gefahr einer Infektion und die empfohlenen Maßnahmen nicht verstanden werden." Vor dem Hintergrund habe man Aufklärungs- und Appell-Videos erstellt. Inwieweit diese tatsächlich fruchten, bleibt aber fraglich.
Kölner Viertel mit hoher Migrantenquote gehören zu den Corona-Hotspots Laut einer kürzlich vorgestellten Studie des Fraunhofer Instituts zur Corona-Infektionslage in Köln steigen die Inzidenzzahlen insbesondere in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit nebst größerem Migrationsanteil - etwa in Köln-Meschenich und seiner Trabantensiedlung Kölnberg mit einem Inzidenzrekordniveau von 300 vor wenigen Tagen. Hier leben gut 44 Prozent Bürger, die im Ausland geboren wurden. Zwei Drittel der Bewohner verfügen über eine Zuwanderungsgeschichte. Chorweiler, Bickendorf, Volkhoven, Vingst, Finkenberg, Holweide - diese Viertel mit ihrer hohen Migrationsquote gehören derzeit allesamt zu den Corona-Hotspots im Kölner Raum. Dagegen liegt das gut bürgerliche Lindenthal ganz weit hinten bei den Infektionswerten.
Die Corona-Statistiker konstatieren aber auch Ausreißer. So liegt etwa der Landkreis Düren mit einer Inzidenz von 169,3 auf Platz neun des NRW-Rankings, obschon nur jeder fünfte Einwohner dort eine Einwandererbiografie aufweist. Dort machte Ende Februar die zeitweilige Schließung einer DITIB-Moschee Schlagzeilen, weil die Stadt bei einem Freitagsgebet etwa 400 Besucher registriert hatte. Kurz darauf bei 140 Moschee-Besuchern durchgeführte Corona-Tests ergaben 36 positive Ergebnisse.
Für das erhöhte Infektionsrisiko in der Migranten-Community macht Migrationsexperte Toprak ferner kulturelle Wurzeln verantwortlich. "Während bei den deutschen Bürgern der Trend zum Single und der Kleinfamilie zunimmt, wird von vielen Menschen aus der Türkei, dem Orient oder aus Osteuropa die Großfamilie noch richtig gelebt wird." Hochzeiten, religiöse Feste und Trauerfeiern, die trotz Corona-Pandemie etwa in Dortmund, Hamm oder Berlin-Neukölln stattgefunden haben, hatten in den vergangenen Wochen für Aufsehen gesorgt.
Polizei und Kommunen fällt es mitunter schwer, hier das richtige Mittel zu finden. Anfang August 2020 etwa gaben 750 Mitglieder des bundesweit vernetzten kurdisch-libanesischen Al-Zein-Clans dem Boss eines einflussreichen kriminellen Familienzweiges auf dem islamischen Teil des Friedhofs in Essen-Stoppenberg die letzte Ehre. Dabei handelte es sich um den Vater von Bilal H.. Letzterer gilt als Intensivtäter und trägt den Spitznamen Pumpgun.
An der Beerdigung durften eigentlich nur 150 Trauergäste teilnehmen. Allerdings, so ließ die Stadt wissen, habe sich die Familie kooperativ gezeigt. Stets in 150er-Personen-Kontingenten durften die Besucher ans Grab treten. Dass dort viele Anwesende weder Masken getragen oder den gebührenden Abstand eingehalten hatten, kommentierte die Stadt mit dem Hinweis, "dass die Beerdigung ruhig und sicher verlaufen" sei. Dies habe oberste Priorität gehabt.
In Leverkusen bereiten sich derzeit Stadt und Ordnungsmacht auf ein ähnliches Szenario am Freitag (9. April) vor. Auf dem Friedhof Reuschenberg soll eine Größe des Goman-Clans beerdigt werden, die dem Corona-Virus erlegen ist. Im Vorfeld hatte es schon eine Einsatzpanne städtischer Ordnungsamtsmitarbeiter gegeben, die eine Ansammlung von 80 Personen auf einem Anwesen der weitverzweigten Roma-Großfamilie trotz Polizeiunterstützung nicht auflöste und die Corona-Verstöße ahndete.
Zur Trauerfeier des als Friedensrichter bekannten Verstorbenen werden mehrere hundert Teilnehmer erwartet. Die Stadt will nun einen harten Kurs fahren und nur den engsten Kreis von 25 Personen zulassen. Um diese Regelung durchzusetzen, werden die Ordnungshüter mindestens eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei einsetzen.
Quelle: focus vom 09.04.2021