Von Felix Bohr
11.12.2023, 06.18 Uhr o aus SPIEGEL Geschichte 6/2023
Alfred Czesla hatte immer gehofft, seine deutsche Geburtsurkunde noch zu finden. Er fragte in den Waisenhäusern nach, in denen er als Kind aufwuchs, stellte Suchanträge bei den polnischen Behörden. Das Dokument wäre für ihn die endgültige Bestätigung seiner Abstammung gewesen. Doch am Ende fand er heraus, dass man es 1951 vernichtet hatte. "Es tut so weh", sagt er. "Ich bin zutiefst betrübt darüber."
Czesla sitzt vor dem Fernseher im Wohnzimmer seiner Wohnung am Rand der ermländisch-masurischen Hauptstadt Olszstyn, die bis 1945 Allenstein hieß und heute zu Polen gehört. Er zappt durch die Kanäle: "Ich habe 200 deutsche Sender." Czesla liest deutschsprachige Zeitungen, trinkt bayerisches Weizenbier und macht seine Einkäufe in Olsztyn bei Lidl oder Kaufland. "Ich habe mich immer als Deutscher gefühlt."
Alfred Czesla war eines von Tausenden deutschen Waisenkindern, die bei der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien zurückgelassen wurden wie Bilder an der Wand. Im Chaos des Aufbruchs kümmerte sich kaum jemand um ihr Schicksal. Krankenschwestern und Pädagogen nahmen Reißaus vor der anrückenden Roten Armee und ließen die Kleinen unbeaufsichtigt zurück.
"Ich habe die Augen meiner Eltern nie gesehen. Das war ein Trauma. Verstehen Sie?"
Alfred Czesla
Foto: Jedrzej Nowicki / SPIEGEL Geschichte
Andere Kinder verloren ihre Eltern in den Kriegswirren oder im Treck der Flüchtenden. In Städten wie Köslin lebten eine Zeit lang obdachlose Minderjährige auf der Straße. Im nördlichen Ostpreußen irrten elternlose "Wolfskinder" durch die Wälder. In Waisenhäusern gingen Bewohnerlisten verschütt. Weil viele der dort lebenden Kleinkinder nach 1945 polnische Namen bekamen, verlor sich jede Spur ihrer deutschen Herkunft.
Die Geschichte der Waisen aus den ehemaligen Ostgebieten ist bislang weitgehend unbekannt. Jetzt hat die Historikerin Teresa Willenborg das Schicksal von Deutschlands vergessenen Kindern umfassend erforscht. In Rahmen eines von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Projekts sprach sie mit zahlreichen Zeitzeugen, wertete Fotomaterial aus und analysierte bisher unveröffentlichte Akten in deutschen und polnischen Archiven.
"Laut Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes befanden sich noch 1952 etwa 4200 deutsche Vollwaisen in Polen", sagt Willenborg. "Polnischen Unterlagen zufolge waren es bis zu 15.000 Elternlose." Ihre genaue Anzahl lasse sich nicht mehr feststellen. Allein in dem ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Potulice in Pommern wurden 1947 rund 6000 deutsche Mädchen und Jungen gezählt. In Niederschlesien gab es zur selben Zeit 85 Einrichtungen mit 2307 deutschen Kindern. Manche von ihnen entdeckten erst Jahre später ihre deutsche Herkunft, so wie Alfred Czesla.
"Ich wurde am 23. Februar 1945 in Sensburg geboren, das heute Mragowo heißt, und kurz nach meiner Geburt evangelisch getauft", erzählt er. "Mein Vater Max starb einen Monat nach meiner Geburt bei einem Luftangriff in der Nähe von Königsberg, meine Mutter Bertha ein halbes Jahr später." Seine Mutter sei Arbeiterin in einer Munitionsfabrik gewesen, der Vater Chauffeur bei der Wehrmacht. "Ich habe die Augen meiner Eltern nie gesehen", sagt Czesla. "Das war ein Trauma. Verstehen Sie?"
Czesla ist heute 78 Jahre alt, hat graues schütteres Haar und wache blaue Augen. Er setzt seine Brille auf und geht vom Wohnzimmer in die Küche, wo sein Computer steht. Alles, was er über sein Leben herausfinden konnte, befindet sich in digitalen Ordnern auf seinem Desktop. "Meine Familie war arm", erzählt er. "Bis Ende 1945 lebte ich in der Obhut meiner Großmutter. Sie hatte es nicht einfach und starb bald." Danach habe seine jahrelange Odyssee durch insgesamt sechs Waisenhäuser begonnen. "Es war eine schwierige Wanderung."
Foto: Privat
Deutsche Waisen machten in den Heimen oft triste Erfahrungen. Ein Zeitzeuge berichtete der Historikerin Willenborg: "Wir waren unter katastrophalen Verhältnissen untergebracht. Es war so schlimm, dass die Behörden die lokale Bevölkerung zu Hilfe aufriefen." Er und sein Bruder seien dann zu einer Frau gekommen, bei der es ihnen aber auch nicht besser ergangen sei. "Wir wurden über die ganze Zeit schwer misshandelt."
In Polen wurden deutsche Kinder von Landwirten in der Feldarbeit eingesetzt. In Pommern klagte ein polnischer Schulinspektor im September 1948, es sei äußerst schwierig, deutsche Kinder ausfindig zu machen, weil sie "oft als billige Arbeitskräfte von einem Bauern zum anderen weitergereicht werden. Da bei solchen Kindervermittlungen Geld genommen wird, besteht der Verdacht, dass es sich hier um eine Art von Kinderhandel handelt." In Bydgogoszcz, auf Deutsch Bromberg, wurden laut Willenborg sogar Zweijährige zur Arbeit eingesetzt. Sie zogen Einkaufswagen mit Lebensmitteln.
Nach der Terrorherrschaft Hitler-Deutschlands waren deutsche Mädchen und Jungen im befreiten Polen nicht gern gesehen. Fast jede polnische Familie hatte im Krieg unermessliches Leid erfahren. Die Erinnerungen an die Naziverbrechen waren frisch. Das Land lag in Trümmern. "Die polnische Regierung hatte in der Nachkriegszeit zusätzlich rund drei Millionen polnische sozial bedürftige Kinder zu versorgen, darunter etwa 1,5 Millionen Halb- und Vollwaisen", sagt Willenborg.
Viele junge Polinnen und Polen hatten deutsche Besatzungsverbrechen miterleben müssen. Ein 19-jähriges Mädchen aus Warschau berichtete nach Kriegsende: "Ich war Zeugin, wie ein betrunkener Soldat auf der Kierbedź-Brücke in Warschau einen kleinen Juden festnahm und einem vorbeigehenden Passanten befahl, ihn in den Fluss zu werfen. Der Mann flehte um Gnade für das Kind, und der Kleine küsste die Schuhe des Soldaten. Nichts hat geholfen. Der Deutsche zwang den Mann unter Androhung des Todes, seine bestialische Marotte auszuführen."
Solche Erlebnisse führten bei den Betroffenen noch Jahre später zu Trauer und Angstzuständen. Erschwerend hinzu kam auch für viele Polinnen und Polen der Heimatverlust und die Entwurzelung infolge des Krieges. Das galt auch für Zehntausende polnische Kinder, die die deutschen Besatzer zwischen 1939 und 1945 ins Reich verschleppt hatten. Viele waren blond und blauäugig und entsprachen somit den rassischen Kriterien der Nationalsozialisten. Sie sollten in Heimen und bei Pflegefamilien "germanisiert" und in die "Volksgemeinschaft" integriert werden. Erst nach dem Krieg konnten manche von ihnen in die Heimat zurückkehren. "In der Nachkriegszeit war das Hauptaugenmerk des polnischen Staates auf polnische Kinder gerichtet", sagt Willenborg. "Deutsche Kinder, die sich der Polonisierung widersetzten, galten als Störfaktoren."
im Flüchtlingslager Espelkamp 1948: Sie machten in polnischen Heimen oft triste Erfahrungen.
Foto: Stadtarchiv Espelkamp
"Deutsche Kinder, die sich der Polonisierung widersetzten, galten als Störfaktoren." Teresa Willenborg, Historikerin
Czesla sagt: "Ich habe immer Glück gehabt. Ich bin Menschen begegnet, die mir geholfen haben." Wie seine Tante Ida, die unmittelbar nach dem Krieg aus Ostpreußen nach Westdeutschland entkommen war. Sie suchte ihren Neffen fast ein Jahrzehnt lang, konnte ihn aber lange nicht finden. "Das war kein Wunder", sagt Czesla. "Ich erhielt als Kleinkind eine neue Geburtsurkunde und die polnische Staatsbürgerschaft. Mein Name wurde in Antoni Cieśla geändert." Von seiner deutschen Abstammung habe er erst 1954 erfahren.
"Als ich neun Jahre alt war, kam meine Tante ins Waisenhaus, wo ich mit polnischen und deutschen Kindern lebte. Ich erinnere mich, dass sie immer schwarz gekleidet war. Sie sprach mit mir auf Deutsch, warf allerdings masurische Wörter ein, sodass ich sie verstand." Der masurische Dialekt, eine mit vielen deutschen Lehnwörtern durchsetzte Mundart, ist heute weitgehend ausgestorben.
Tante Ida habe ihm Süßigkeiten mitgebracht, so Czesla. Nachdem sie gegangen sei, hätten die polnischen Kinder angefangen, ihn mit seiner deutschen Herkunft zu hänseln. "Das war für mich ein Signal, dass ich zwar zur Gruppe dieser Kinder gehörte, aber nicht aus ihr stammte. " Czesla begann, sich selbst Deutsch beizubringen.
Foto: Privat
Seine Tante wollte ihn in die Bundesrepublik holen, doch die polnischen Behörden untersagten es. "Sie hat um mich gekämpft und im Mai 1956 einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden der Volksrepublik Polen gerichtet", sagt Czesla. Darin schrieb seine Tante: "Bitte überdenken Sie meine Bitte und erteilen Sie mir die Erlaubnis, den Sohn meiner verstorbenen Schwester so schnell wie möglich aus dem Waisenhaus abzuholen. Meine verstorbene Schwester Bertha flehte mich an, Alfred nicht zu verlassen und seine Mutter zu sein. Es ist schwer für mich, weil mein Herz blutet und ich um Alfred weine."
"Ich weiß nicht, aus welchen Gründen die Behörden der Volksrepublik Polen den Antrag schließlich abgelehnt haben", sagt Czesla. Nachdem seine Tante Ida gestorben war, versuchten in Westdeutschland lebende Familienmitglieder auch in den folgenden Jahren, ihm die Ausreise zu ermöglichen - vergebens. Dabei erhielt sein Onkel 1960 eine Einreisegenehmigung für ihn in die Bundesrepublik. "Ich war damals 15 Jahre alt und erfuhr nichts von den Bemühungen meines Onkels", sagt Czesla. "Ich blieb in Polen."
Andere deutsche Waisenkinder hingegen zogen nach Westen: Tausende von ihnen wurden in den Nachkriegsjahren in die Bundesrepublik und die DDR überführt. Eine Bedingung war, dass ihre leiblichen Eltern, wenn sie überlebt und ihre Kinder ausfindig gemacht hatten, deren Rückführung beantragten. Im Archiv des Deutschen Roten Kreuzes in Hamburg fand Historikerin Willenborg Briefwechsel zwischen Kindern und Eltern. "Mir geht es hier schlecht, liebe Mutti", schrieb etwa ein deutsches Mädchen aus Polen an ihre Mutter in Flensburg. "Wenn du kannst, liebe Mutti, dann hol mich doch nach Hause."
Foto: Privat
Bevor die Minderjährigen nach Deutschland ausreisen durften, hatten sie sich einer staatlichen "Untersuchung zur Klärung der Abstammung" zu unterziehen. Vor einer Kommission mussten sie beglaubigen, dass sie sich zur deutschen Nation zugehörig fühlten. Für die Ausreise waren auch Kinder vorgesehen, die als schwer erziehbar galten oder infolge jahrelanger Nazipropaganda "vom Hitlergeist durchdrungen waren", wie es in einem Dekret hieß.
Im April 1948 informierte ein polnischer Schulleiter in Olsztyn seine Vorgesetzten über das "asoziale Verhalten" deutscher Kinder. "Morgens um 8.00 Uhr sagte eine Mädchengruppe: heute ist der Geburtstag von Hitler. Zunächst dachte ich, das ist ein Scherz. " Später sei ein Schüler aus der 5. Klasse mit Hakenkreuzfahne über den Pausenhof gelaufen. "Am selben Tag haben wir in der Nähe der Schule zwei Hakenkreuze bemerkt, die aus Ziegelsteinen gemacht wurden."
Doch solche Vorfälle blieben die Ausnahme, auch weil die Warschauer Regierung bereits 1945 eine Richtlinie erlassen hatte, wonach deutsche Kinder schnellstmöglich zu "polonisieren" seien. Zu diesem Zweck wurden Heranwachsende wie Alfred Czesla in den Heimen gemeinsam mit Altersgenossen aus Polen untergebracht und von polnischen Erzieherinnen und Erziehern betreut. "Es war verboten, im Waisenhaus Deutsch zu sprechen, und auch in der Schule wurde es nicht unterrichtet", sagt Czesla.
Für viele Kinder war die "Polonisierung" mit Überforderung und Leid verbunden. "Gekümmert haben sich polnische Frauen um uns Waisenkinder", erinnert sich ein Zeitzeuge, der heute in der Bundesrepublik lebt. "Sie wollten kein deutsches Wort hören, Polnisch konnten wir nicht, also waren die Kinder stumm, wenn polnische Personen anwesend waren. Man lehrte uns auf Polnisch Im Namen des Vaters und des Sohnes und die polnische Nationalhymne. Bis heute läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich die Hymne höre."
Alfred Czesla dagegen hat gute Erinnerungen an seine Kindheit im Heim. "Ich habe dort wunderbare Erzieher und Lehrer kennengelernt", sagt er. Sie halfen ihm, auf eigenen Beinen zu stehen und in Polen ein gutes Leben zu führen. Zugleich habe er seine Wurzeln nie verleugnet, so Czesla. "Ich habe meine deutsche Identität bewahrt und bin stolz darauf."
Czesla studierte in Lódź Soziologie und fand nach seinem Abschluss 1970 einen Job in Olsztyn. Er lernte seine Frau Hanna kennen. Mit ihr bekam er einen Sohn, der heute in Berlin lebt. Czesla promovierte und arbeitete 20 Jahre lang als Assistenzprofessor an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Pädagogischen Universität Olsztyn. Zugleich war er Leiter eines Forschungsprojekts für Sozialanalyse im städtischen Reifenwerk.
"1974 fuhr ich zum ersten Mal in die Bundesrepublik", sagt Czesla. "Der Zug war voller deutschstämmiger Familien. Das waren Spätaussiedler, die aus dem ehemaligen Ostpreußen endgültig nach Deutschland aufbrachen." Als er zu den Verwandten in Nordrhein-Westfalen kam, wurde er ermahnt, bloß Deutsch zu sprechen. Die Nachbarn sollten nicht erfahren, dass die Familie aus Masuren stammte.
Als 1989 der Eiserne Vorhang auch in Polen fiel, hätte Czesla die Chance gehabt, in die Bundesrepublik zu übersiedeln. Doch er hing an seiner Heimat. Er wurde Mitbegründer deutscher Minderheitenorganisationen in Masuren und dem angrenzenden Ermland. Insgesamt entstanden 26 deutsche Vereine mit zwischenzeitlich etwa 15.000 Mitgliedern. Czesla schrieb mehr als 100 Beiträge in Zeitschriften aus der Region und saß im Beirat des polnisch-deutschen Jugendzentrums in Olsztyn.
Er reiste häufig in die Bundesrepublik und engagierte sich für den Austausch beider Länder. Als seinen "größten Erfolg" sehe er die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande im Jahr 2016, sagt Czesla. Zuvor hatte er bereits das Goldene Verdienstkreuz der Republik Polen erhalten. Dass sich die jahrelang herrschende Partei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS, auf Deutschland als Feindbild eingeschossen hat, bedrückt ihn. Denn darunter leidet nicht zuletzt die deutsche Minderheit im Land. 2022 beschloss der polnische Bildungsminister, das Budget für muttersprachlichen Deutschunterricht an Schulen um umgerechnet gut 8,5 Millionen Euro zu kürzen.
Etwas hin- und hergerissen zwischen beiden Nationen ist Czesla dann doch. Wahrscheinlich definiert er sich deshalb in erster Linie als Masure. Er lebt gern inmitten der Seenlandschaft mit ihren endlos scheinenden Alleen. "Meiner Meinung nach ist der Masure von heute ein Mensch, der zweisprachig ist, die Literatur beider Nationen kennt und daraus die Werte schöpft, die für sein Leben wichtig sind", sagt er.
Doch der promovierte Soziologe weiß auch, dass es sein Idealbild kaum noch gibt. Die deutsche Minderheit in Masuren werde immer kleiner. "Ich habe das Verschwinden Masurens miterlebt", sagt Czesla. "In den vergangenen Jahrzehnten bin ich Zeuge eines riesigen Exodus der Deutsch-Masuren geworden." Nach dem Zweiten Weltkrieg seien zwar rund 170.000 von ihnen in Ermland-Masuren zurückgeblieben, etwa weil sie als Handwerker für den polnischen Staat nützlich waren. Doch bis 1985 hätten rund 130.000 von ihnen ihre Heimat verlassen, so Czesla: "Das macht mich noch heute sehr traurig."
Czesla hat Frieden mit seiner deutsch-polnischen Identität geschlossen. Doch das Schicksal vieler einstiger deutscher Waisenkinder in Polen ist bis heute nicht aufgeklärt. Noch immer gibt es Menschen, die von ihrer Herkunft nichts wissen. Ein ehemaliges Waisenkind aus einem Heim in Duszniki, auf Deutsch Duschnik, hat erst jetzt erfahren, dass es als Kind einer deutschen Familie in Breslau geboren wurde. Der Mann im Süden Polens wurde nach jahrzehntelanger Suche von seiner Familie gefunden.