Aktualisiert am 03.11.2020-12:52
Bild: Picture-Alliance
Meine Anteilnahme für den Prozess Frenzel ist besonders lebhaft aus einem bestimmten Grunde. Vor Jahren beschäftigte ich als Hausangestellte ein kleines Bauernmädchen aus einem thüringischen Dorfe. Nur drei Monate lang, denn sie war eine wenig erfreuliche Persönlichkeit. Rotwangig, robust, fleißig, aber unzuverlässig und verlogen.
Haushaltsgegenstände verschwanden auf Wochen, um dann von ihr an unmöglichen Plätzen wieder aufgefunden zu werden. Dazu kam als schlimmstes ein Bedürfnis, unanständige Geschichten zu erzählen, die sie selbst erlebt haben wollte (sie war damals 14 Jahre alt), diesen Geschichten war nicht zu entgehen außer durch Kündigung.
Wenige Monate später kam ein Kriminalbeamter zu mir und bat mich um Auskunft über das Mädchen, die ich ihm erteilte, ohne weitere Aufklärung zu empfangen, jedenfalls betonte ich nachdrücklich ihre Verlogenheit. Bald folgte eine Ladung vor das Gericht einer Nachbarstadt, zum Zwecke einer Zeugenaussage über dieses Mädchen, das nebenbei auch Gertrud hieß.
Angeklagt war ein Wollwarenfabrikant (etwas 30 Jahre alt, vier Jahre verheiratet, Vater eines dreijährigen Kindes, Mann einer netten Frau), seine Hausangestellte, eben jene Gertrud, vergewaltigt zu haben, mehrfach und meist im Beisein des dreijährigen Kindes, das im Bett dieses Mädchens schlief.
Die Minderjährigkeit des Mädchens und die Anwesenheit des Kindes hatten dies öffentliche Meinung des kleine Ortes restlos gegen den Mann eingenommen. Massen von Zeugen, die "es ihm zutrauen" oder "es gehört hatten", gerüchteweise oder auch mit eigenen Ohren, soweit sie Hausbewohner waren, sagten gegen den Mann aus. Das Mädchen selbst erging sich in der Schilderung derart unbeschreiblicher Einzelheiten, dass Blinde hätten sehend werden müssen. Ein pathetischer, melodramatischer Stiefvater stand ihr zur Seite.
Der Angeklagte war vollkommen hilflos, gehandicapt durch die feindselige Atmosphäre im Gerichtssaal, sein Rechtsanwalt fühlte sich offenbar auf verlorenem Posten, jedenfalls machte er keine nennenswerten Versuche, die Situation zu retten. Sämtliche Zeugen: Pfarrer, Lehrer, Nachbarn aus dem Dorfe, die das Mädchen von Kindesbeinen an kannten, stellten ihr das allerbeste Zeugnis aus, ihre Glaubwürdigkeit stand nach Ansicht des Gerichtes und aller Sachverständigen außer Zweifel.
Ich betone das Gegenteil mit allem Nachdruck und war in der Lage, meine Behauptungen durch erhebliche Einzelheiten zu belegen. Der Herr Staatsanwalt aber erlaubte sich zu bemerken, dass man angesichts der seltenen Übereinstimmungen der Aussage sämtlicher einwandfreien Zeugen auf die Ansicht einer ehemaligen Dienstherrin, die von Animosität sichtlich nicht frei sei und dazu offenbar einmal etwas von Psychologie "gehört zu haben glaube" (!), fraglos keinerlei Gewicht zu legen brauche. Ich ahnte nicht, ob ein Zeuge die Möglichkeit habe, sich gegen derartiges Benehmen zu verwahren, der Rechtsanwalt des Angeklagten sprang mir nicht bei.
Resultat: zwei Jahre Zuchthaus für den Angeklagten, wobei erschwerend die Minderjährigkeit des völlig unbescholtenen Mädchens, die Gegenwart des Kindes, mildernd die völlige Unbescholtenheit des Angeklagten ins Gewicht fielen, und die Tatsache, dass die Frau von allem nichts bemerkt hatte. Nach der Verhandlung musste ich zunächst einmal die Frau darüber aufklären, dass es auf der Welt so etwas gibt wie Zweifel an den Aussagen jugendlicher Mädchen im Übergangsalter und dass es Rechtsanwälte gibt, die von solchen Dingen etwas mehr verstehen, eventuell sogar auch Staatsanwälte.
Etwa ein halbes Jahr später wurde ich zu einer Berufsverhandlung ans Landgericht geladen, wo weit über 30 Zeugen die vor gestilltem Geltungsdrang geblähte, wie eine Primadonna sich gerierende Gertrud umstanden. Diesmal hatte der Fabrikant einen gewandten Rechtsanwalt mit Sachkenntnissen, aber auch diesmal hätte die Sache schlimm enden können, wenn nicht ein glücklicher Zufall die Rolle des deus ex machina übernommen hätte.
Gertrud war unterdessen in einem Dorfe in Stellung gewesen und hatte da drei Wochen vorher folgendes aufgeführt: Sie erschien morgens zwischen 10 und 11 Uhr mit aufgelösten Haaren und aufgeschnürten hohen Stiefeln in der Dorfschule während des Unterrichtes mit der Behauptung, eben in einiger Entfernung vom Orte am Rande der Landstraße von einem Manne in hohen gelben Stiefeln überfallen und vergewaltigt worden zu sein. Ein Landjäger war verständigt worden, verlangte von ihr eine Beschreibung des Tatbestandes, die ihm reichlich zuteil wurde, und wünschte, den Ort der Tat zu sehen, den sie auch zeigte, doch fand sich an der betreffenden Stelle auch nicht ein beschädigtes Grashälmchen, und sämtliche Haarnadeln der während des "Kampfes" aufgelösten Frisur fanden sich zwar in Gertruds Schürzentasche, nicht eine aber am "Tatorte".
Der Landjäger, der über gesunden Menschenverstand verfügt, sagte ihr erheblich die Meinung, worauf sie zusammenbrach und ihn bat, diese Geschichte ihretwegen überall, aber keinesfalls im Ablauf von drei Wochen dem Landgericht in W. bekannt werden zu lassen. Hierdurch stutzig gemacht, zog der Landjäger Erkundigungen ein, erfuhr von der bevorstehenden Verhandlung, konnte als Hauptentlassungszeuge auftreten und den Wahnsinn der ganzen Angelegenheit so eklatant dartun, dass ein vollständiger und vorbehaltloser Freispruch des Angeklagten zustande kam.
Wer entschädigt die Familie für ihre Leiden und geschäftlichen Schädigungen? - Niemand. Wer bestraft die lügenhaften Ohrenzeugen? - Niemand. Wer rüffelt auch nur einen Staatsanwalt, der eine solche Haltung einnimmt und wer bessert seine Bildung auf und schenkt ihm wenigstens ein Lehrbuch der Psychologie? Der erste Fall lag um nichts glaubhafter als der zweite. Übrigens habe ich vergessen zu erzählen, dass sich während der ersten Verhandlung selbstverständlich auch ein medizinischer Sachverständiger gefunden hat, der Gertrud beigesprungen ist. Die Begründung seiner Auffassung lässt sich aus mehreren Gründen nicht ohne weiteres wiedergeben.
Quelle: ngra.