Von Eva Prase
erschienen am 26.01.2018
Berlin. Für den 28. Februar ist am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein Termin anberaumt: Dr. M. gegen Bundesrepublik Deutschland. Die Anonymisierung bringt es mit sich, dass man denken könnte, Dr. M. habe etwas zu verbergen. Hat er aber nicht. Im Gegenteil, er will, dass der Prozess öffentlich wahrgenommen wird. Es geht ihm um Ost- und Westdeutsche, um ihre Gleichbehandlung, um eine faire Geschichtsschreibung, also um eine, die beiden deutschen Seiten gerecht wird. Das kann natürlich nicht in der im Juristendeutsch abgefassten Ankündigung stehen. Hier liest man nur, es gehe um "das Recht der Verfassungsschutzbehörden und Nachrichtendienste" und um "Aufhebung der Schutzfrist des § 5 Abs. 8 BArchG".
Dr. M. - ein deutscher Politiker, der 60 Jahre aktiv in vorderster Linie wirkte. Er war seit 1957 Abgeordneter in der Volkskammer und von 1967 bis 1989 Mitglied des Zentralkomitees der SED. Er arbeitete als Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Dresden. In der Wendezeit wurde er zum letzten ostdeutschen Ministerpräsidenten mit SED-Parteibuch. Maßgeblich unter seiner Führung gelang eine konstruktive Zusammenarbeit verschiedener Parteien und Oppositionsgruppen am Runden Tisch. Nach der Wende war er vier Jahre Bundestagsabgeordneter, saß auch vier Jahre im Europaparlament. Später war er Ehrenvorsitzender der PDS. Zurzeit ist er Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke. Heute feiert er seinen 90. Geburtstag: Hans Modrow.
Im Vergleich zu anderen früheren Spitzenfunktionären genoss er als einer der wenigen SED-Funktionäre das Vertrauen der Bürger. Ihm nahm man den integren großen alten Mann der Linken ab. Er galt als Hoffnungsträger, als Reformer, wollte ein neues Deutschland, ja man traute ihm eine gewaltfreie Demokratisierung der DDR zu. "Unter meiner Regierung ist nie Gewalt eingesetzt worden. Das war in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit", sagt er. "Wir mussten dafür sorgen, dass kein Regimentskommandeur unruhig wird und Gewalt entsteht. NATO und Warschauer Pakt agierten doch weiter. Inzwischen tut man so, als hätten wir nichts getan, damit alles friedlich abläuft."
Bisweilen wird er heute noch in der U-Bahn, wenn er zu seinem Büro im Berliner Karl-Liebknecht-Haus fährt, angesprochen. "Herr Modrow, ich möchte mich bedanken", höre er dann mitunter wildfremde Menschen sagen. Sie rechnen es ihm hoch an, weil er ihnen mit dem Modrow-Gesetz die Möglichkeit gab, die Grundstücke zu erwerben, auf denen ihre Häuschen stehen.
Diese Art Weitsicht, die Ostdeutschen einen aufrechten Gang im wiedervereinten Deutschland ermöglichte, hätte es auf anderen Feldern auch bedurft. Mehr wirtschaftlicher Weitblick, mehr Chancen für ostdeutsche Wissenschaftler. In Ostdeutschland sind Professoren mit Ostbiografie nach wie vor eine Rarität. Und viele DDR-Bürger im Alter jenseits der 50 haben auch nach fast 30 Jahren Brüche in ihren Nachwende-Biografien nicht verdaut oder müssen mit messbarem Rentenunrecht leben. "Junge Leute, deren Berufsleben begann, als es die DDR schon lange nicht mehr gab, sind noch benachteiligt." Das Land sei nach wie vor geteilt, sagt Modrow, der auch von einer "Zweiheit" spricht. Die Benachteiligung habe dazu geführt, dass das Vertrauen der Bürger in Ostdeutschland in die Politik nicht eben gewachsen ist. "Nicht mal mit drei Parteien haben sie eine Regierung hinbekommen ..."
Im Gespräch wirkt Modrow ruhig, sachlich analysierend. Dazu gehört, dass er den Finger in die Wunde legt, gleich wenn er dabei manchem erscheint, als stünde er allein auf weiter Flur. Etwa als ein Gericht ihn verurteilte, weil er als Chef der Bezirkseinsatzleitung das harte Vorgehen vor und auf dem Dresdner Hauptbahnhof angeordnet habe, als dort die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen passierten.
Die Bezirkseinsatzleitung hatte nicht getagt. Wohl hatte aber Modrow vergeblich versucht zu verhindern, dass die Züge aus Prag überhaupt über DDR-Gebiet fuhren. "Das war so zwischen Bonn und Berlin vereinbart worden, also von beiden Seiten, davon spricht heute niemand mehr", sagt Modrow, der eine Zuspitzung der Situation gefürchtet hatte. "Hätte man den Bahnhof nicht geräumt, wäre es bei der Ein- und Durchfahrt der Züge zur Katastrophe gekommen", ist Hans Modrow noch immer überzeugt.
Doch nicht nur in diesem Fall spürt er, dass jeweils ein Stück der Geschichte ausgeblendet wird: der westdeutsche Anteil an der Auseinandersetzung. Die Guten im Westen, die Bösen im Osten - diese seit 1990 scheinbar in Stein gemeißelte Zuweisung lässt er nicht unwidersprochen stehen. "Es geht mir um ein möglichst vollständiges historisches Bild nicht nur von der DDR, sondern auch von der Bundesrepublik. Was lernen denn unsere Kinder und Enkel zur jüngeren deutschen Geschichte, wenn die Aussagen völlig einseitig sind?", fragt Modrow. Deswegen auch der Gerichtstermin in rund vier Wochen in Leipzig. Hans Modrow, Kläger gegen die Bundesrepublik, will Einsicht in jene Akten, die der Bundesnachrichtendienst BND und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über ihn angelegt haben. Dass er ins Visier der Geheimdienste geriet, muss nicht verwundern. Schließlich wirkte Modrow in gehobener politischer Position. Pikant am Vorgang ist aber, dass der BND ihn beschattete - eben weil dies der Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik ist. Nach dem propagierten Bild war aber die DDR nie Ausland.
Dies zum einen. Zum anderen überrascht, dass Modrow bereits in den 1950er-Jahren observiert wurde, als er noch ein recht unbedeutender Berliner FDJ-Funktionär war. Gleichsam erklärungsbedürftig ist, dass Daten bis 2012 gesammelt wurden, also reichlich 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. Da herrschte schon lange kein Kalter Krieg mehr.
Modrow will wissen, warum er bespitzelt wurde, was man festgehalten hat, wo seine Akten sind. Doch ihn treibt nicht nur sein persönliches Schicksal an. Wie er wurden mindestens 71.500 DDR-Bürger vom Westen aus oberserviert. Das räumte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ein. "Das waren wirklich nicht alles Funktionäre, wie man wahrscheinlich reflexhaft sagen wird. Man observierte ganz normale Leute", ist Modrow überzeugt. Die Dienste aber verweigern die Offenlegung der Akten und bieten nur blattweise Auskunft. Dagegen streitet Modrow stellvertretend für viele Ostdeutsche, die man meint, allein mit den MfS-Akten abspeisen zu können.
Modrow schlägt der Einwand entgegen, er würde die Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit relativieren wenn er den BND, das BfV und den MAD mit dem MfS gleichsetze. Was Modrow nicht macht: Er sieht die Unterschiede durchaus. Aber, und da hat er wohl recht, für den Betroffenen ist es unerheblich, welcher Dienst in der Telefonleitung mithört, wer die Post mitliest, wer Spitzel oder V-Leute auf ihn ansetzt, welcher Geheimdienst eine Akte über ihn führt.
Es ist ein Anschlag auf die informationelle Selbstbestimmung, ein Eingriff in die vom Grundgesetz geschützten Rechte und Freiheiten, egal, in wessen Auftrag dies geschieht. Bis 1990 wurde dies mit dem Kalten Krieg begründet. Diese Begründung kann für heute nicht mehr gelten, weil der Kalte Krieg vorüber ist. Oder doch nicht? Modrow sieht seinen Kampf um "die Akten" jedenfalls nicht rückwärtsgewandt. Er ziele auf die Gegenwart: Erstens wie die deutsch-deutsche Vergangenheit interpretiert wird, zweitens wie mit Geheimdiensten und deren Erbe generell umzugehen ist.
Ihm geht es zudem darum, dass auch die Bundesrepublik sich zu ihrem Handeln bekennt. "Es gab zwei Staaten, es gab gegensätzliche Geheimdienste." Heute werde in der Öffentlichkeit so agiert, als habe es nur einen Geheimdienst gegeben, der die Bundesrepublik ausspionierte - der Westen aber, so wird es suggeriert, habe die DDR nicht ausspioniert. "Das ist inzwischen wohl klar: Beide Seiten haben im Kalten Krieg auch mit ihren Geheimdiensten gearbeitet. Mir geht es um das Politikum. " Es sei doch nicht so, dass alles, was schlimm war an der jüngeren deutschen Geschichte, in oder von der DDR aus stattgefunden hat.
Er erinnert sich an West-Politiker, die ihn in Dresden besucht haben, nennt aus dem Stegreif die Besuchsdaten. "Gerhard Schröder war 1985 in Dresden, Oskar Lafontaine 82 und Björn Engholm 85." Die Familie von Björn Engholm sei immer über Weihnachten gekommen und habe Gret Palucca besucht, mit der sie verwandt war. "Es ist doch nicht so, dass wir uns nicht kannten, wie man es heute oft glauben machen will."
Modrow mahnt eine "größere Reife und Genauigkeit bei der Betrachtung historischer Vorgänge an". Und er will nicht zuschauen, wie andere - egal welche Geheimdienste - Macht und Deutungshoheit über das Leben und Schicksal von Menschen haben. Deshalb hatte er gehofft, bis zur Vollendung seines neunten Lebensjahrzehntes seine Akten zu Gesicht zu bekommen.
Das gelang ihm nur ansatzweise: Der BND habe nur das herausgegeben, was sowieso in öffentlichen Biografien zu finden ist. "Dabei war ich unter anderem 1972 in Tokio, um über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu verhandeln. Wäre es nicht interessant, was der Resident der Bundesdeutschen Botschaft damals über mich in Erfahrung gebracht und ob er interveniert hat?" Die Gedanken des 90-Jährigen kreisen jedoch nicht nur in der Vergangenheit. Er reist viel, wie er sagt, in Länder wie China, Nord- und Südkorea als Ziele. Gerade in Nord- und Südkorea führe er Gespräche, "um Dialoge mit anzubahnen, die zu einer Entspannung auf der koreanischen Halbinsel beitragen können".
Er bildet sich zu aktuellen Fragen nach wie vor eine Meinung. Muss es eine neue linke Sammlungsbewegung geben, wie sie von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht angeregt wurde? "Wissen Sie, wir haben nicht nur Deutschland. Schauen wir nach Tschechien, hier haben Sozialdemokraten ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1992, ähnlich schlecht die Kommunisten. Zugelegt haben Rechtspopulisten und EU-Skeptiker", skizziert er die Lage im Nachbarland. Wie er, Modrow, zu einer neuen linken Partei stehe, sei nicht maßgeblich. Wichtig sei vielmehr, dass sich wenigstens die Mitglieder einer Partei achtungsvoll begegnen. Nur so könne man erreichen, dass auch die Wähler wieder Vertrauen schöpfen können.