Von Stefan Krücken
17.10.2018, 16.10 Uhr
Stefan Kruecken (Jahrgang 1975) gründete mit seiner Frau Julia den Ankerherz-Verlag. Zuvor arbeitete er unter anderem als Polizeireporter für die "Chicago Tribune" und schrieb für Magazine wie "Stern", "Max" und "GQ".
Als das Kap der Stürme in Sicht kam, zog sich der alte Kapitän in eine Ecke der Brückennock zurück. Er wollte allein sein. 70 Jahre zuvor war Hans Peter Jürgens als Schiffsjunge auf der Viermastbark "Priwall" an Kap Hoorn vorbeigesegelt, dem "Tor zur Hölle", wie Seeleute das berüchtigte Seegebiet nennen.
Nun, im Jahr 2009, geriet die Reise weitaus komfortabler - die Reederei des "Traumschiffs" hatte uns nach der Buchveröffentlichung von "Sturmkap" eingeladen.
Der Morgen war schwer und grau wie Beton, das Wetter einigermaßen ruhig, was in diesem Seegebiet Wind der Stärke sieben meint. Dann riss die Wolkendecke auf, und - ganz so, als habe der Allmächtige einen Sinn für Theatralik - schien ein Sonnenstrahl genau auf den grauen Felsen des Kaps. Wie ein Scheinwerfer.
Kapitän Jürgens standen Tränen in den Augen, so gerührt war er in diesem Augenblick. Er erklärte es hinterher, ganz der alte Seemann, mit dem Wind. Nun ist Hans Peter Jürgens, der letzte Kap Hoornier, im Alter von 94 Jahren für immer eingeschlafen. Jürgens war Seemann, Kapitän, später Lotse und der vielleicht bedeutendste Marinemaler Deutschlands. Wenn ich an ihn denke, dann denke ich an diesen Morgen vor Kap Hoorn. An ungezählte Nachmittage und Abende in seinem Haus im Kieler Stadtteil Holtenau, als wir kannenweise Kaffee tranken und er mir sein Leben erzählte.
Ein Leben? Was für ein Abenteuer! Es war ein Privileg, diesen Mann zu kennen und seine Geschichte aufschreiben zu dürfen. Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, was Hans Peter Jürgens als Schiffsjunge mitmachte, als er 1939 im Hamburger Hafen an Bord der Viermastbark "Priwall" ging. Aus Anfängern mussten binnen weniger Wochen Seemänner gemacht werden, die in den Stürmen vor Kap Hoorn hoch oben in den Rahen das Schiff auf Kurs hielten.
Die schweren Stürme, die Kälte in den Unterkünften, Schlafentzug, Schikanen des sadistischen Bootsmannes und die miserable Verpflegung setzten der Crew zu. Die Äquator-Taufe geriet zur Quälerei, die heute strafrechtliche Konsequenzen hätte. Für Jürgens war sie prägend, wie er sagte. Er achtete später als Kapitän darauf, dass es an Bord seiner Schiffe niemals zu Unrecht kam.
Sicherheitsleinen gab es in der Takelage nicht. Jeder Fehler würde tödlich sein, das war allen an Bord klar. Weil Wellen das Deck überspülten, spannte man Netze, die im Bordjargon "Leichennetze" hießen. Die Fingerbeugen der Jungen vor Anstrengung aufgeplatzt, das Ölzeug hatte den Nacken blutig gescheuert.
Jürgens beschrieb in seiner Biografie sehr eindrücklich, wie die Strapazen die Schiffsjungen tief in den Abgrund schauen ließen: "Es wäre so einfach. Einfach die Hände von den Rahen nehmen, uns nach hinten fallen lassen. Soll ich die Qual beenden?"
Knapp vier Wochen kreuzte das Schiff gegen die Stürme von Kap Hoorn. Wenige Stunden, nachdem der Großsegler aus Hamburg in Valparaiso festmachte, eröffnete das Dritte Reich den Zweiten Weltkrieg. Damit war klar: Für das Segelschiff, das jedem Angriff eines Motorschiffs hilflos ausgeliefert wäre, war nun Endstation.
Für den Schiffsjungen Jürgens begann eine Irrfahrt durch eine Welt im Krieg. Er schuftete als Straßenbauer in Chile, wurde einem Frachter zugeteilt, den ein englisches Kriegsschiff im Atlantik versenkte. Als Kriegsgefangener überlebte Jürgens ein Lager im Dschungel von Sierra Leone: Skorpione, Schlangen, Hunger, Hitze.
Er wurde ins kalte schottische Hochland verlegt und fütterte schließlich Bären an Kanadas Großen Seen. Vor den Transatlantik-Passagen hatten alle an Bord Angst, wegen der Gefahr durch deutsche U-Boote.
Nach sieben Jahren kehrte Jürgen zurück in seine zerstörte Heimat. Seinen Traum, Kapitän zu werden, gab er nie auf. Dafür schuftete er auf Fischkuttern in der Nordsee, brannte Schnaps in London und ging nach einer Grenzflucht sogar in den Knast.
Die Aussicht, als Bergmann im Ruhrgebiet zwangsverpflichtet zu werden, behagte dem Seemann gar nicht. Doch der Versuch scheiterte, sich in Antwerpen als blinder Passagier an Bord eines Frachters mit Kurs Südamerika zu schleichen.
Sein Leben, vor allem in jungen Jahren, erinnert an einen Abenteuerroman. Doch wenn Jürgens davon erzählte, wog er jedes Wort ab - bei der Arbeit im Manuskript war seine größte Sorge, dass es aufschneiderisch klingen könnte. Nie übertrieb er, kein Wort, egal wie dramatisch die Episode auch ausfiel. Angeber konnte Jürgens nicht ausstehen.
Wenn ich mich an Hans Peter Jürgens erinnere, denke ich an einen Filou. Selbst im hohen Alter hatte er etwas Jungenhaftes, Schelmisches. Auf manche Fragen, etwa nach Dingen, die ihm an der heutigen Zeit nicht passten, antwortete er nur mit einem Blick.
Dann zog er seine buschigen, weißen Brauen zusammen, dass man glaubte, sie knistern zu hören. Der NDR nannte ihn einmal den "Helmut Schmidt der Segelschifffahrt". Das trifft es ziemlich gut.
Mein Großvater war kein Kapitän, der vor Kap Hoorn kreuzte und Schiffe durch den Sturm brachte. Er trug einen Blaumann als Arbeiter in einer Chemiefabrik. Als er aus dem Krieg zurückkam, brach er ein Studium ab, um die Familie durchzubringen.
Ihre Trauer, ihre Wut, vielleicht auch ihre Verzweiflung: All das trugen diese Männer wie Kapseln in sich. Auch Kapitän Jürgens mochte nicht gern über Gefühlswelten sprechen. "Stefan, ist das jetzt wichtig?", fragte er. Meist machten wir dann eine Pause.
Am Revers seines Sakkos trug Kapitän Jürgens ein Abzeichen, das einen Albatros zeigt. Das Symbol der Kap-Hoorniers-Vereinigung, deren letzter Vorsitzender er war. Mit Kapitän Jürgens starb nicht nur ein Seemann, ein Kapitän, Familienvater und Künstler. Mit seinem Tod endet ein Kapitel der Seefahrtsgeschichte. Der letzte Kap Hoornier ist von Bord gegangen.
Auf der Isla Hornos vor Kap Hoorn, auf 55 59' Süd und 67 14' West steht ein Denkmal, das einen Albatros zeigt. Auf dem Steinsockel liest man ein Gedicht der Chilenin Sara Vial:
"Ich bin der Albatros, der am Ende der Welt auf dich wartet. Ich bin die vergessene Seele der toten Seeleute, die Kap Hoorn ansteuerten von allen Meeren der Erde. Aber sie sind nicht gestorben im Toben der Wellen. Denn heute fliegen sie auf meinen Flügeln in die Ewigkeit."
Quelle: FAZ vom 17.10.2018