Früherer DDR-Ministerpräsident

Als Schalck-Golodkowski Regierungschef der DDR werden sollte

22.06.2019

In den Tagen des Mauerfalls vor 30 Jahren spielten sich hinter den Kulissen der DDR-Staatspartei SED zahlreiche Dramen ab, wurden politische Ränke geschmiedet - und es bahnten sich unglaubliche Personalien an. Mittendrin: Hans Modrow, heute 91 Jahre alt und Vorsitzender des Ältestenrat der Partei Die Linke.

Hans Modrow (91), früherer SED-Bezirkschef in Dresden, von November 1989 bis März 1990 Ministerpräsident der DDR, heute Vorsitzender des Ältestenrats der Partei Die Linke Quelle: Jacqueline Schulz Berlin

Kurz vor Ende der DDR galt Hans Modrow als potenzieller Honecker-Nachfolger und Hoffnungsträger. Dabei war er schon seit Jahrzehnten SED-Funktionär. Er wurde dann im Herbst 1989 noch für knapp ein halbes Jahr Ministerpräsident der DDR. Es folgten Jahre im Bundestag und im Europaparlament. Die Politik, sagt der 91-Jährige, sei oberflächlich und mittelmäßig geworden.

Herr Modrow, Sie sind 91 Jahre und ich treffe Sie hier am Schreibtisch Ihres Büros in der Parteizentrale der Linken in Berlin-Mitte. Wie oft sind Sie hier?

In der Regel dreimal die Woche, jeweils vormittags.

Der klassische Ruhestand ist das nicht.

Die Linke hat einen Ältestenrat, dessen Vorsitzender ich bin. Der Parteivorstand hat mich in das Gremium berufen, ich habe angenommen - also arbeite ich.

Und hören die Jungen auf die Alten?

Sie hören uns wohl, doch vielen fehlt die Bereitschaft zur tiefgründigen Analyse. Politik ist oberflächlich und mittelmäßig geworden.

Aber wir wollten über den 30. Jahrestag des Mauerfalls reden. War der 9. November 1989 für Sie eigentlich ein Festtag oder ein Schreckenstag?

Weder noch. Ich wusste damals nur: Als designierter Ministerpräsident konnte und wollte ich das nicht rückgängig machen. 1989 fiel die Mauer, weil sich Grenzoffiziere ein Herz nahmen und unter Druck der Massen entschieden, den Übergang Bornholmer Straße in Berlin zu öffnen. Das waren nicht die DDR-Regierung, das Zentralkomitee der SED oder Schabowski. Deren Unentschiedenheit hat der DDR viel Verhandlungsspielraum geraubt. Die Ungarn hatten vom Westen noch eine Milliarde D-Mark für die Grenzöffnung im Sommer 1989 erhalten. Die DDR trug die nicht unerheblichen Kosten der Grenzöffnung allein.

War Ihnen sofort klar, dass der Countdown für die DDR läuft?

Nein. Den vier Siegermächten übrigens auch nicht. Die Sowjetunion, Amerikaner, Franzosen und Briten loteten noch bis Weihnachten 1989 die Lage aus. Mit der offenen Grenze waren ja die politischen Fragen nicht gelöst. Sie ergaben sich erst daraus.

Die Volkskammer wählte Sie vier Tage nach dem Mauerfall zu Honeckers Nachfolger als Regierungschef...

Einspruch. Ich war in keiner Funktion Nachfolger Erich Honeckers. Der war im Herbst als SED-Chef und als Staatsratsvorsitzender von Egon Krenz abgelöst worden. Ich folgte auf Willy Stoph, der als Vorsitzender des Ministerrats laut DDR-Verfassung eigentlich die Regierung führen sollte, de facto aber von Honecker kalt gestellt war.

"Von Wunschkandidat kann keine Rede sein"

Waren Sie der Wunschkandidat von Krenz?

Vorher hatte er mit dem Karl-Marx-Städter SED-Bezirkssekretär Siegfried Lorenz, dem Bauminister Wolfgang Junker und mit Alexander Schalck-Golodkowski gesprochen - alle drei winkten ab. Da kann von Wunschkandidat keine Rede sein. Ich stellte jedoch die Bedingung, dass ich die Regierung als Ministerpräsident führen werde - inklusive der Ministerien für Inneres, Verteidigung und für Staatssicherheit - und Krenz mir in seiner präsidialen Funktion als Staatsratschef nicht hineinreden darf. Das war mir auch wichtig für die Verhandlungen mit Bundeskanzler Helmut Kohl.

Wissen Sie noch, wer in der Volkskammer gegen Sie als Ministerpräsident gestimmt hat?

Ja, Margot Honecker. Das war etwas Persönliches. Wir kannten uns seit 1949 aus der Jugendarbeit. Als sie dann Ministerin für Volksbildung wurde, stritten wir häufiger, weil ich andere Vorstellung mit der Führung dieses Amts verband als sie. Das wuchs sich aus, als auch die Gegensätze zwischen ihrem Mann und mir größer wurden.

Können Sie sich eigentlich erklären, warum Sie als heimlicher Hoffnungsträger in der DDR galten seit sich die Sowjetunion unter Gorbatschow veränderte?

Es blieb nicht verborgen, dass ich aus dem Umfeld Gorbatschows Leute kannte, mit denen ich auch sympathisierte. Gorbatschow selbst hat 1988 den polnischen Präsidenten Jaruzelski gefragt, ob der mich für einen geeigneten Honecker-Nachfolger hielt. Wahrscheinlich streute auch der BND entsprechende Gerüchte - da kämpfe ich immer noch um Akteneinsicht. Die Reaktion ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten: Honecker schickte im Februar 1989 das Politbüromitglied Günter Mittag mit 100 Leuten zur Revision in den Bezirk Dresden. Der konnte mir jedoch keine Verfehlungen nachweisen. Und ich blieb.

Sie hatten 1989 schon ein jahrzehntelanges Funktionärsleben in der SED hinter sich. War der neue Posten als Ministerpräsident für Sie die Erfüllung eines Wunsches?

Eine Steilkarriere hatte ich in der SED nicht hingelegt, vielleicht auch weil sowjetische Freunde mich schätzten und weil das den Argwohn Honeckers weckte. Ich war in meinem ganzen Leben nur drei Wochen Mitglied des SED-Politbüros. Da ich den Entwicklungen der letzten Jahre kritisch gegenübergestanden hatte, konnte ich doch nur "Ja" sagen, als Krenz mich fragte, ob ich Verantwortung übernehmen wolle. Daraus ergab sich das eben.

Was war Ihr Ziel?

Ich wollte den Prozess der Umgestaltung der DDR befördern. Der sowjetische Weg von Gorbatschow würde nicht funktionieren. Das war damals schon klar. Ich wollte Reisefreiheit und strebte eine Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik an. Kohl wollte das damals, im November 1989, ausdrücklich auch.

Dass Sie als SED-Mann Ihre erst kurz zuvor erlangte Macht nach den Wahlen am 18. März 1990 an den CDU-Mann Lothar de Maiziere abgeben mussten, war ein in der DDR erst- und zugleich letztmaliger Vorgang. Fanden Sie es ungerecht, dass die Geschichte ausgerechnet Ihnen diese Rolle zuwies?

Darüber habe ich nie nachgedacht. Mir war klar, dass ich eine Übergangsregierung führe. Für mich hieß das, den Übergang zu gestalten. So beschlossen wir am 1. März 1990 als Regierung, dass alle Enteignungen der sowjetischen Militäradministration zwischen 1945 und 1949 rechtens waren und bleiben. Damit hatte die Bodenreform im Osten Deutschlands Bestand und wir konnten nach dem Beitritt bei steigenden Grund- und Bodenpreisen Werte mit einbringen. Dass wir es noch möglich machten, dass Menschen den Grund und Boden kaufen konnten, auf dem sie schon Jahrzehnte wohnten oder wirtschafteten, war für viele eine gute Basis für die neue Zeit.

Was haben Sie Ihrem Nachfolger Lothar de Maiziere mit auf den Weg gegeben?

Ich habe von ihm gefordert, dass gültig bleibt, was wir bis dahin gemeinsam - er war ja mein Stellvertreter - beschlossen hatten. Er versuchte sich weitgehend daran zu halten. Herr Krause, sein Beauftragter für die Verhandlungen mit der Bundesregierung aber kaum.

Zweifel an der politischen Ernsthaftigkeit Gorbatschows

Waren Sie enttäuscht darüber, dass Gorbatschow einer deutschen Wiedervereinigung schnell zustimmte?

Seine Formel gegenüber den sozialistischen Staaten lautete schlicht, dass jeder selbst entscheidet, welchen Weg er geht. Er wollte nicht die Rolle der Siegermacht spielen. Enttäuscht war ich darüber, dass er unsere Ende Januar 1990 getroffene Vereinbarung, wonach das künftige Deutschland militärisch neutral sein sollte, brach. Schon im Februar hieß es in Moskau, ein vereinigtes Deutschland könne künftig auch Mitglied der Nato sein. Im Mai machte Gorbatschow noch den absurden Vorschlag, die Deutschen könnten ja auch Teil der Nato und des Warschauer Vertragsbündnisses sein. Da kamen bei mir doch Zweifel an der Ernsthaftigkeit von Gorbatschows politischen Konzepten auf.

Sie waren bis 1994 Bundestagsabgeordneter und gingen 1999 ins Europaparlament. Welche Erfahrungen machten Sie?

Im Bundestag wurden die PDS-Abgeordneten wie Parias behandelt. Das war Klassenkampf von oben. Graf Lambsdorff warf mir immer in scharfer Form vor, die Bodenreform bestätigt zu haben. Klar: Seine Familie hatte nach dem Krieg viel Land im Osten verloren. Ich konnte damit umgehen und konterte. Doch den Thüringer PDS-Abgeordneten Gerhard Riege trieb die Angst vor dem ihm im Bundestag entgegenschlagenden Hass 1992 sogar in den Selbstmord. Ein schlimmer Fall. Im Europaparlament war der Umgang dagegen respektvoller, ohne Ressentiments.

Sie wurden 1995 wegen Anstiftung zur Wahlfälschung in der DDR verurteilt. Fanden Sie das gerecht?

Das war ungerecht. Zum einen: Was hatte die Bundesrepublik mit Wahlen in der DDR zu tun? Zum anderen: Warum ich? Der Bezirk Dresden hatte bei den Wahlen im Mai 1989 das schlechteste SED-Ergebnis eingefahren. Dass die Wahlen gefälscht waren, lag an einem Vorgang, den kaum jemand beeinflussen konnte. Die Kreise wollten sich mit Wahlmeldungen nach oben übertreffen. Das funktionierte seit Jahrzehnten wie ein Räderwerk. Schlimmer fand ich, dass Erich Honecker das noch 1989 wirklich als Zustimmung für seine Politik empfand. Er hatte nichts begriffen. Dass ihm das niemand gesagt hat, das muss aber auch ich mir zum Vorwurf machen.

Viele Ostdeutsche sehen sich heute noch benachteiligt im wiedervereinten Deutschland. Was lief schief?

Ein einmaliger Vorgang wie die Vereinigung zweier souveräner Staaten benötigt Anpassungsprozesse, um bleibende Schäden zu verhindern. Die DDR war nun einmal in das Wirtschaftssystem der sozialistischen Länder eingebunden. Statt diese Verbindungen wirtschaftlich zu nutzen, wurden sie zerschlagen, vor allem durch die rasche Einführung der D-Mark. Die Folgen - Arbeitslosigkeit, Entwertung von Abschlüssen, Umschulungen, verlängerte Werkbank des Westens - wirken bis heute ökonomisch und mental. Die Verteilung der Gehälter, der Vermögen und der Armut zwischen Ost und West sprechen da Bände.

Wenn Sie Deutschland nach Ihren Wünschen verändern könnten, wie sähe es aus?

Mein Traum von Deutschland ist der von einem friedlichen und antifaschistischen Land, das dafür geschätzt wird, um Ausgleich in der Welt bemüht zu sein und sich nicht gegen andere zu stellen.

Von Thoralf Cleven

Artikel aus LN-online