VON PETER UFER
GLASHÜTTE - Sie hört auf, er fängt an. Sie ist Meister, er Lehrling. Sie wird 69, er 20. Über 50 Jahre Berufserfahrung gegen zweieinhalb Jahre Lehre. Doch beide legen alles auf einen Tisch, um der Zeit nahe zu sein. Täglich dreht sich 20 Zentimeter vor ihren Augen das Rädchenwerk. Es verlangt ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Uhr gehören die besten Stunden. Egal, wie alt oder jung.
Liane Kaller hat es längst aufgegeben, der Zeit hinterherzulaufen. Es kommt, wie es kommt. Mal öffnet sie ihren Laden, mal nicht. Draußen an der Tür hängen Öffnungszeiten, aber ihre Kunden wissen, dass die Frau spontan Zettel hinters Glas hängt: "Komme gleich wieder." Das kann schon mal eine Woche dauern, weil sie mit ihrem Mann auf einen Weinberg nach Österreich fährt.
Die Kunden haben keine Zeit, aber sie hat ihre Uhren. Vorteil Kaller. Sie muss ja nicht mehr. Doch ihre Vitrinen sind voll. Schmuck bietet sie an, Wecker, ganz normale Uhren von heute, Taschenuhren von einst und Armbanduhren aus Glashütte, Spezimatic, Automatik aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Alle fein aufgearbeitet.
Sie hält den Laden offen, weil es ihr Spaß macht zu reparieren, weil sie reden kann beim Verkaufen, weil so ein wenig Leben in der Dresdner Straße in Stolpen bleibt, weil die Kunden ihre Dienstleistung schätzen und weil sie nicht loslassen kann. Sie nennt es persönliche Altenpflege, ohne sich wirklich alt zu fühlen. "Was soll ich denn mit der vielen Zeit plötzlich anfangen? Außerdem kann ich es noch." Uhrmacher können bis ins hohe Alter ihr Handwerk ausüben. Liane Kaller jedenfalls sieht das so.
Trotzdem würde sie dem jungen Mann nie empfehlen, Uhrmacher zu werden. "Von einem eigenen Geschäft kann heute keiner mehr seine Familie ernähren", sagt sie. Die Verkaufskultur verschwindet gerade im Internet, die Metamorphose der Welt steht im Gegensatz zur Beständigkeit eines Regulators. Doch der 19-Jährige will es. Unbedingt. Erst drei Jahre Lehre, demnächst Prüfung, Berufsziel erreicht. Und dann, was dann? "Dann bin ich Uhrmacher", sagt Florian Kern mit bewundernswerter Ruhe. Die Mechanik, Pendel, Feder, Anker, Hemmung faszinieren ihn, auch die Tradition seiner Heimat, in der das Handwerk noch Boden unter die Füße schiebt. Der gebürtige Dresdner verspürt nicht den geringsten Drang, aus Sachsen zu verschwinden.
Bodenständig geht der 19-Jährige jeden Morgen bei A. Lange & Söhne in Glashütte in die Lehre und lernt Handarbeit sowie Rituale. Eins: Reinheit. Zwei: Präzision. Drei: In der Lehrwerkstatt legen die Auszubildenden ihre Handys im Flugmodus auf eine Ablage. Darunter sind Schieber mit Fingerlingen aus Gummi. die Schweiß abhalten. Sie arbeiten in der Funkstille, um die elektronischen Geräte zur Messung der Zeit nicht zu stören. "Mich interessiert das Feine, die Schönheit der Teile, ihre Fertigung", sagt Florian und klingt wie der wohlerzogene Enkel von Liane Kaller, die im Uhrengeschäft ihrer Eltern aufwuchs.
Sie lebt noch heute nach den Weisheiten des Vaters, der 1967 an einem Krebsleiden starb. Da war sie so alt wie der Auszubildende jetzt. Sie lernte damals Uhrmacher, im Jahrgang wo Lehrlinge. Die Meisterprüfung 1972 absolvierten 15 Männer, sie war die einzige Frau. Bei Florian im Jahrgang sind es 14 Mädchen und sechs Jungs. Liane Kaller sollte von einem Tag auf den anderen das Geschäft des Vaters übernehmen. Mit 19, als Frau, in der DDR, wo die Genossen gerade sämtliche private Unternehmer enteigneten.
Sie stand schon im Laufgitter neben dem Vater, dem alten Meister, wenn die Mutter außer Haus war und er mit der Lupe vorm rechten Auge den Uhrwerken auf den Grund ging. Sie atmete den Duft des Leichtbenzins, mit dem der Vater Werke wusch, hörte in jedem Zimmer des Hauses das Ticken der Uhren, von denen sie heute noch die meisten und viel mehr besitzt. In jedem Raum drei tickende Zeitmesser. Und ihr Haus verfügt über viele Zimmer.
Uhren wurden einst vererbt und mussten auf die Minute funktionieren, weil das Land auf Pünktlichkeit achtete. Der Uhrmacher im Ort war eine Vertrauensperson, denn er reparierte die alten Erbstücke oder verkaufte Uhren, die der nächsten Generation vererbt werden sollten. Und er kannte ihre Preise. Er hörte sich die Sorgen an wie der Friseur, aber wusste zugleich um die Geldnöte, denn manchmal kaufte er auch etwas an. Das zahlte sich nur aus, wenn er schwieg.
Liane Kaller biss sich als junge Frau durch, übernahm den Laden, konzentrierte sich auf das Geschäft, das jetzt ihre Familie war, lernte nebenbei, bestand Prüfungen, qualifizierte sich zum Uhrmachermeister. Sie besteht darauf, Meister genannt zu werden, auf das "-in" pfeift sie, empfindet es eher als Demütigung. Warum soll eine Frau kein Meister sein? Sie vollendet feine Mechanik. Vollendung ist ihr Gütesiegel.
In die Deckel der Uhren ritzte zu DDR-Zeiten jeder Uhrmacher Monat und Jahr der Reparatur sowie sein Signum. Liane Kallers Zeitzeichen war ein "V". Der Vater hieß Vinzenz mit Vornamen. So setzte sich sein Werk fort. Der Vater empfahl Liane Keller zwei Dinge. Erstens: Ein Geschäft auf dem Markt einer Kleinstadt wie Stolpen ist besser als eines in der Seitenstraße in einer Großstadt wie Dresden. Zweitens: Halte Dich frei von jeglicher Beteiligung, bleibe selbstständig. So ließ sie zu DDR-Zeiten nicht zu, dass ihr einer aus der HO oder dem Konsum in die Bücher schaute. Und nach 1990 kam ihr keiner ins Haus, der das Blaue vom Westhimmel versprach.
Sie handelte mit Weckern, Küchen-, Wand- und Armbanduhren und reparierte sie. Sie verkaufte Barometer, Thermometer, Schmuck, Lupen, fertigte Ringe. In den 90erJahren verdiente sie hauptsächlich mit Gold ihr Geld. "Nach der Wende kauften die Leute Fernseher, Autos, Reisen- und Schmuck, Schmuck, Schmuck", sagt sie. In der DDR war ja das Geld nichts wert, und es gab wenig, deshalb hatten viele allerhand gespart. Jetzt wollten sie ihre D-Mark gut anlegen.
Vor meiner Ladentür bildete sich oft genug eine Schlange, und die Leute kauften, kauften, kauften", erzählt sie. Von 1990 bis zum Jahr 2006 sei ihre beste Geschäftszeit gewesen, dann brach der Umsatz ein. Die Kunden kamen noch, um Batterien wechseln zu lassen, was sie mit der gleichen Freundlichkeit tat, wie eine goldene Kette zu verkaufen "Das Uhrmacherhandwerk gehört heute zur Liebhaberei", sagt sie, die 40 Jahre lang der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie, Abteilung Freunde alter Uhren, angehörte.
Wenn heute einer Uhren aus Glashütte bringt, solche die in den 1950er- oder 1960er-Jahren hergestellt wurden, dann kann Liane Kaller jedes Modell reparieren. Sie kennt alle und besitzt noch originale Ersatzteile von einst. Florian Kern staunt beim Besuch in der kleinen Stolpener Werkstatt, betrachtet das Bild mit dem Handwerkswappen an der Wand, sieht die hundert Schieber voller Teile, bewundert die antiquarischen Chronometer in den Ablagen. Aber hier arbeiten möchte er nicht. Sein Vertrauen gilt seinem Ausbildungsbetrieb, dem guten Namen von A. Lange & Söhne.
Wenn er seine Lehre mit mindestens Note 2 abschließt, dann bekommt er hier einen Arbeitsplatz. Übernahmegarantie nennt sich das und klingt ein wenig nach Versorgungsmentalität. Aber es klingt genauso nach Zuversicht und Verlässlichkeit. Zwölf bis zwanzig Lehrlinge pro Jahr bildet die Manufaktur aus. Praxis im Unternehmen, Theorie im "Beruflichen Schulzentrum Otto Lilienthal Freital-Dippoldiswalde, Außenstelle Glashütte".
Doch keiner benutzt das verwaltungsgetriebene Wortungetüm, jeder sagt hier Uhrmacher-Schule. Und die hat einen guten Ruf in der Branche. Uhrmacherunternehmen in Deutschland oder der Schweiz stellen gern Lehrlinge aus Glashütte ein. Florian Kern meint, dass mechanische Uhren im Luxussegment Zukunft haben. Was da vor ihm auf seinem Werkstatttisch liegt, wird er sich allerdings so schnell nicht leisten können. Er selbst trägt nicht mal eine Armbanduhr, ihm reicht der Blick auf sein Handy.
Doch selbst wenn heute die Smartwatch als modern gilt, hält er an seinem künftigen Beruf fest, glaubt an die Zukunft des Handwerks. Im ersten Lehrjahr lernte er feilen, drehen, reparierte Großuhren, im zweiten Lehrjahr widmete er sich der Taschenuhr, und jetzt sitzt er an einer Armbanduhr. Neben einer Ausbildungsvergütung bekommt er von seinen Eltern das Kindergeld überwiesen. Er wohnt in einer kleinen Wohnung. Alles gut.
Liane Kaller sagt: "Zufriedenheit ist das Wichtigste." Da sind sich die beiden einig. Sie zog mit ihrem Laden 2008 in eine Nebenstraße in der Kleinstadt. Mehr Widerstand gegen die Ratschläge des Vaters geht nicht. Aber nur so kann sie sich ihr Rentner - Hobby leisten, den Laden offen zu halten. Das Haus gehört ihr, sie muss keine Miete zahlen und kann auf Kunden warten, die ihr aus ihrem Lager ab und zu eine historische Uhr abkaufen oder das beste Stück zur Reparatur dalassen.
Florian Kern hat sein Leben noch vor sich, will nach der Lehre bei A. Lange & Söhne arbeiten, aber wieder nach Dresden ziehen. Da wohnen seine Freunde, da ist viel mehr los als in den verschlafenen Dörfern am Rande des Erzgebirgskamms. Aufmerksam auf den Beruf des Uhrmachers wurde er durch einen Freund, der ebenfalls nach Glashütte ging. 100 Schulabgänger bewerben sich jährlich für die Stellen bei Lange.
Liane Kaller weiß noch nicht, wem sie mal ihr Geschäft übergibt. So wie sie kann das Geschäft sowieso keiner mehr führen. Genau genommen brauchte auch früher keiner täglich einen Uhrmacher so wie einen Bäcker oder Fleischer. In der Werkstatt stapeln sich die Ersatzteile und Werkzeuge. Am Arbeitsplatz von Florian sieht es ähnlich aus, nur dass die Lehrwerkstatt heller leuchtet und zwanzig andere Lehrlinge schwatzen, lachen, lernen. Durchschlagen muss sich am Ende jeder selbst, egal ob selbstständig mit einem Geschäft oder als Angestellter in einer Uhrenfabrik. Für ihn geht es nächstes Jahr los mit dem Berufsleben. Jeden Morgen früh aufstehen, das Ticken treibt raus. Liane Kaller will nach und nach aufhören. Zurzeit öffnet sie dienstags bis donnerstags. Und nächstes Jahr? Mal sehen. Kommt Zeit, kommt Rat. (sz)
Freie Presse vom 29.04.2017