Der Maskenmann

Von Ronny Schilder

erschienen am 29.09.2017

Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff hat den Tiefen der Gesellschaft verstörende Geheimnisse entrissen. Jetzt wird er 75 und fragt sich, wie es um das breite Interesse am Schicksal der Armen und Entrechteten steht.

Foto: © imago/epd

Günter Wallraff ist nicht nur als Enthüllungsreporter, sondern auch in gesellschaftlichen Fragen engagiert: Als Wolf Biermann 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde, gewährte Wallraff ihm Unterschlupf. Und Salman Rushdie, von fanatischen Islamisten mit der Todesstrafe bedroht, fand nach seinem Untertauchen 1989 bei ihm vorübergehend Obdach.

Köln. Günter Wallraff ist ein Star, der es einem schwer macht, ihn zu mögen. Solche wie er werden eher bewundert als geliebt. Seine Heldentaten stehen im Lehr- und Geschichtsbuch: die Reportage "Ganz unten", für die er sich als Türke verkleidet ins Stahlwerk und bei McDonald"s einschlich. Und "Der Aufmacher", für den er unter falschem Namen bei der "Bild"-Zeitung textete - kaum jemals die Wahrheit.

Wallraffs Arbeit trug ihm Hass und Prozesse ein. Alle bekamen ihr Fett weg, im Fall der "Bild"-Recherche auch das Publikum und jene Eliten, die über dem Schmutz schweben und gut davon leben. "Nicht erhellt soll der Bild-Leser werden, er soll sich für 35 Pfennige Emotionen kaufen, Stimulanzien, Ersatzdrogen", heißt es 1977 im "Aufmacher". Mit Emotionen und Vorurteilen werde Politik gemacht. "Aufputschen gegen Minderheiten, Schüren von Hass und Angst (Triebtäter, Gastarbeiter): Das erzeugt die Stimmung, die sich zum kollektiven Schrei nach Todesstrafe, Rübe ab, Draufschlagen verdichtet." Während die "Bild"-Zeitung inzwischen ziviler geworden ist, hat ein rasender Medienzirkus die Bewirtschaftung von Gefühlen und Vorurteilen auf breiter Front übernommen.

Günter Wallraff ist ein Kriegskind, geboren 1942 nahe Köln, wo er seit Jahrzehnten lebt. Von seiner christlich-pietistischen Mutter sei er zur Anpassung erzogen worden, offenbarte er in einem Interview. Sein Vater war der Gegenpol, ein arbeitender Kosmopolit, der in Spanien schuftete, bei Ford in der Lackiererei stand und abends Bücher las. Als der Vater starb, war Wallraff 16.

Den Wehrdienst lehnte Günter Wallraff ab, verpasste aber die Frist, ihn förmlich zu verweigern. In der Kaserne sträubte er sich, das Gewehr anzufassen, widersprach Befehlen, legte es auf eine vorzeitige Entlassung an. Steigender Druck, sagte er, verdoppelte sein Widerstandspotenzial. Privat stand er damals mit der Familie des Kölner Großschriftstellers Heinrich Böll im Kontakt. Seine Bundeswehr-Erlebnisse brachte Wallraff zu Papier, die Zeitschrift "Twen" druckte sie ab. Und der realistischen Schreibschule in Deutschland war ein Autor geboren. In der Industriereportage fand er sein angestammtes Metier.

In Interviews nach Leitfiguren befragt, nannte Wallraff den Philosophen Sokrates, der lieber zum Giftbecher griff, als der öffentlichen Suche nach der Wahrheit abzuschwören. Ein heiliger, unzeitgemäß wirkender Ernst. Die Wucht, mit der "Ganz unten" 1985 einschlug, wird heute nur von Fantasy und Polemiken wie "Deutschland schafft sich ab" erreicht, nicht aber von Texten, die dem inoffiziellen Alltag der Gesellschaft abgetrotzt werden und ihr den Spiegel vorhalten, ohne bequem zu sein. Denken in gesellschaftlichen Strukturen ist unmodern. Menschliches Leid gilt vielen als Privatsache. Die neoliberale Weltsicht hat es zur Domäne der Eigenverantwortung gemacht.

Markus Breitschedel, ein Nachfolger Wallraffs, mischte sich vor Jahren unter Pflegepersonal und prekär Beschäftigte und erntete damit weniger Aufmerksamkeit als ein Fernsehjournalist, der vor laufender Kamera Drogen nahm. Der italienische Reporter Fabrizio Gatti zog unter Lebensgefahr, getarnt als Illegaler, durch die Sahara bis ans Mittelmeer. Bekannt ist sein Bericht nur Eingeweihten.

Erst ganz langsam und im Fegefeuer des Populismus findet die Gesellschaft zu erregten Debatten über die eigenen Schwachstellen zurück. Und Günter Wallraff mischt weiter mit. Das Hamburger "Zeit Magazin" verhalf ihm vor Jahren zum Comeback. An der Schwelle zum achten Lebensjahrzehnt deckte er Missstände bei Paketdiensten auf und fühlte einem "Arbeitgeber-Anwalt" auf den Zahn, der Unkündbare kündigt - Schwangere, Schwerbehinderte, Betriebsräte. Inzwischen ist der Altmeister mit "Team Wallraff" bei RTL gelandet. 2014 erhielt das "Team" den Deutschen Fernsehpreis.

Wo Höhen sind, sind Tiefen.

Die meisten Prozesse gegen ihn hat er gewonnen, aber den Verdacht, für die DDR-Staatssicherheit zumindest zeitweise gearbeitet zu haben, streifte er nicht ab. Es gibt ein Aktenkonvolut und einen Decknamen, IM Wagner. Einige Jahre nach dem Welterfolg mit "Ganz unten" kam außerdem ans Licht, dass Passagen unbekannten Umfangs in dem Buch von anderen Autoren stammten. Einige warfen Wallraff öffentlich vor, sie ausgenutzt zu haben. Schließlich behauptete Hermann L. Gremliza, ein sprachgewaltiger linker Publizist mit verschworener Anhängerschaft, das ganze "Bild"-Buch sei aus seiner Feder geflossen. Wallraff habe seine Erlebnisse diktiert. Er sei ein "weltberühmter Schriftsteller, der nicht schreiben kann".

Wallraffs Erwiderungen fielen so abwägend aus, dass sie die Vorwürfe nicht wirklich aus der Welt schafften. Trotzdem fand er Verteidiger, und aus heutiger Sicht darf man sagen, die Affäre vernichtete ihn nicht. Zu Wallraffs Gunsten wurde vorgebracht, es sei nicht nur in seinem Fall geschehen, dass der eine das Erleben und ein anderer das Schreiben besorgte. Das machten auch viele Prominente so. Wallraffs Ruhm habe sich mehr aus den Aktionen genährt als aus seiner Schreibe. Er sei ein politischer Aktivist.

Die journalistische Fachwelt hat Wallraff gerne vorgeworfen, seine Erlebnisse "Ganz unten" hätten nur erwiesen, was man ohnehin schon wusste. Das alles sei nicht "neu" - ein Argument der Trägen und innerlich Unbeteiligten, das bis heute durch manche Rezensionen rinnt. Was er denn erwarte, wurde Wallraff vor einigen Jahren gefragt, als er schwarz geschminkt durch die Lande zog, um zu filmen, wie es einem mit anderer Hautfarbe erging, als Schwarzer etwa unter national gesinnten Fußballfans. Rassismus auf Bestellung, warf man ihm vor. Und übersah geflissentlich, wie eine solche Kritik den alltäglichen Rassismus als Normalfall behauptet.

Viele der Malocher, an deren Seite Günter Wallraff in seiner Rolle als Türke Ali sich giftigen Stäuben und knochenbrecherischen Lasten ausgesetzt hatte, sind tot, sie wurden oft nicht mehr als sechzig Jahre alt. Auch heute gebe es ein Drittel, manche sagten: eine Hälfte der Gesellschaft, denen tägliches "Gewohnheitsunrecht" widerfährt, kritisierte Wallraff jüngst in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Ihre Probleme werden marginal behandelt oder kommen so gut wie nicht mehr vor. Vielleicht außer bei den Gewerkschaften und einigen kirchlichen Organisationen, haben sie auch keine Lobby mehr."

In der Öffentlichkeit erscheinen solche Benachteiligten meist nur noch als Randfiguren - oder aber negativ, wenn sie aufgehetzt sind, dann gelten sie als "Pack". Wallraff wirbt dafür, sie in ihrem eigenen Umfeld, am Arbeitsplatz, in ihren Familiensituationen abzubilden. "Die Menschen müssen sich selbst auch darstellen und nicht immer dann, wenn sie gerade irgendwo auf unangenehmen Demonstrationen auffallen und da ein Bild abgeben."

Wallraffs Arbeitsmethode mit ihrer eingebauten Neigung zum Aktivismus hat es heute in den meisten Medien schwer. Im Schwedischen, so wird es seit Jahrzehnten erzählt, sei "wallraffa" ein eingeführtes Verb: sich schminken, kostümieren, einschleichen, aufdecken. Der Aspekt der Selbstdarstellung, die in jeder Selbsterfahrung liegt, ist heute anschlussfähig und tritt auch bei Wallraff hervor. Ungebrochen aber sind sein wacher Blick für die Schwitzkammern der Gesellschaft und sein journalistischer Einsatz für die Entrechteten.

Ist Wallraff ein Vorbild für die neue Generation? Manche mögen seinen Mut bewundern, doch werden Journalistenschüler darauf getrimmt, sich nicht mit einer Sache gemein zu machen, auch nicht mit einer guten. Jeder in der Branche kennt diesen Satz, ein verkürztes Zitat von Hanns-Joachim Friedrichs, der als Reporter im Vietnamkrieg engagierter war, als er später, Tagesthemen-Moderator und weißhaarig geworden, glauben machen wollte.

Bei Wallraff ist von Altersmilde nichts zu spüren. Routinemäßig seufzt er in Interviews, dass er noch viele dringende und wichtige Storys auf dem Zettel habe.


Quelle: Freie Presse