Zweitbewerber um Asyl "Die Einreise erfolgt oftmals per Flugzeug"

Stand: 06.07.2021 | Lesedauer: 7 Minuten

Von Ricarda Breyton Politikredakteurin

Viele Flüchtlinge, die bereits Schutz in Griechenland erhalten, ziehen weiter nach Deutschland. Grund ist die bessere staatliche Versorgung hierzulande. Die Bundesregierung ist verärgert. Denn Rückführungen sind kaum möglich. Grund sind mehrere Urteile deutscher Gerichte. Migrantinnen in Athen protestieren für offene Grenzen und staatliche Leistungen wie Wohnungen
Quelle: Pacific Press/LightRocket via Ge

Auf den ersten Blick scheint die Situation der Migranten und Flüchtlinge in Griechenland unter Kontrolle. Vorbei sind die Zeiten, in denen täglich Politiker und Nichtregierungsorganisationen über die unhaltbaren Zustände in den Lagern auf den griechischen Inseln berichteten. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen sie regelmäßig eine stärkere Aufnahme besonders Schutzbedürftiger forderten. Stattdessen arbeiten die griechischen Behörden konsequent daran, den Berg an Asylanträgen abzuarbeiten. Doch langfristig gelöst ist das Migrationsproblem nicht. Es hat sich nur verlagert: auf das griechische Festland. Und in die Bundesrepublik.

Flüchtlingsorganisationen berichten, dass es Asylbewerbern, die in Griechenland offiziell als Flüchtlinge anerkannt wurden, im Land kaum besser ergehe als auf den Inseln. Nach der Schutzgewährung landeten sie "ohne jegliche Unterstützung auf der Straße", beklagt der rechtspolitische Referent von Pro Asyl, Andreas Meyerhöfer, der die Lage in Griechenland analysiert hat. Von Sozialleistungen seien sie "faktisch ausgeschlossen", wegen der wirtschaftlichen Krise im Land fänden sie auch keine Arbeit.

Die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen reiche "hinten und vorne nicht". Auch die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Luise Amtsberg, kritisiert die Lage scharf: "Den anerkannten Flüchtlingen dort geht es zum Teil noch schlechter als in den griechischen Hotspots", sagt sie WELT. "Viele leben in der Obdachlosigkeit." In der Folge ziehen viele anerkannte Flüchtlinge weiter - Richtung Deutschland, und zwar in wachsender Zahl.

Wie das Bundesinnenministerium in einer aktuellen Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linke-Fraktion im Bundestag feststellt, wächst die Zahl der Asylantragsteller in Deutschland, die bereits in Griechenland internationalen Schutz erhalten haben, "stetig". Demnach haben im Jahr 2020 rund 7400 anerkannte Flüchtlinge aus Griechenland einen neuen Asylantrag in Deutschland gestellt. Von Anfang Januar bis Ende April dieses Jahres seien weitere 4800 Personen hinzugekommen.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) teilt auf WELT-Anfrage mit, dass bis Ende Mai insgesamt Asylanträge von rund 17.300 Personen, "bei denen Hinweise vorliegen, dass sie bereits in Griechenland als schutzberechtigt anerkannt wurden", anhängig gewesen seien. Inzwischen sollen insgesamt mehr als 20.000 Asylanträge gestellt worden seien, sagt eine Person, die mit den Zahlen vertraut ist.

Einen neuen Asylantrag sieht das deutsche Recht nicht vor

In der Bundesregierung sorgt diese wachsende Zahl von Zweitbewerbern für Ärger. Denn einen neuen Asylantrag sieht das deutsche Recht eigentlich nicht vor. Gemäß Asylgesetz sei ein Asylantrag "unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat", schreibt das Bundesinnenministerium.

Schon Anfang Juni hatte sich Innenminister Horst Seehofer (CSU) mit seinen Amtskollegen anderer betroffener EU-Staaten an die Europäische Kommission und den griechischen Migrationsminister gewandt. Seit geraumer Zeit beobachte man nun schon einen "Trend" sogenannter "irregulärer Sekundärmigration" aus Griechenland, heißt es in einem Brief, der WELT vorliegt und den die EU-Bürgerrechtsbewegung Statewatch zuerst veröffentlicht hat.

Dieses Phänomen stelle ein "ernstes Problem" für die Funktionsfähigkeit eines gemeinsamen europäischen Asylsystems dar. Man erkenne die griechischen Bemühungen an, schnelle Asylverfahren durchzuführen. Man bitte allerdings, die Situation der Flüchtlinge in Griechenland zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern. Wenn die Reisefreiheit in der EU durch Flüchtlinge "missbraucht" würde, um einen neuen Asylantrag zu stellen, müsse man darauf reagieren.

In Deutschland und auch anderen betroffenen EU-Staaten steht man vor einem Dilemma. Denn im Gegensatz zu Migranten, die sich noch im Asylverfahren befinden, genießen offiziell anerkannte Flüchtlinge in Europa viele Freiheiten. "Asylbewerber dürfen nicht weiterziehen", sagt der Europarechtler Daniel Thym von der Universität Konstanz. "Anerkannte Flüchtlinge bekommen einen Aufenthaltstitel, mit dem sie sich ganz legal in der Schengenzone bewegen dürfen." Die Ausreise könne die griechische Regierung nicht verhindern.

Einmal in Deutschland, gestaltet sich die Rückführung angesichts der desaströsen Lage in Griechenland schwierig. "Deutsche Gerichte haben entschieden, dass die Behandlung der Flüchtlinge in Griechenland die absoluten Mindeststandards verletzt", sagt Thym. Es gehe nicht um sozialpolitischen Luxus, sondern um grundlegende Dinge wie "Bett, Brot, Seife", wie es der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg einmal formuliert habe.

Mehrmals haben deutsche Gerichte in den vergangenen Monaten aus diesen Gründen Abschiebungen nach Griechenland untersagt. "In Griechenland anerkannte Flüchtlinge dürfen derzeit nicht dorthin rücküberstellt werden", urteilte etwa im April das niedersächsische Oberverwaltungsgericht. Es bestehe die ernsthafte "Gefahr", dass sie dort ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen könnten.

Also sammeln sich die Menschen in Deutschland. Zuerst in Erstaufnahmeeinrichtungen, perspektivisch auch in den Kommunen. Wie Pro Asyl mitteilt, werden sie so behandelt wie alle anderen Asylbewerber auch. Heißt: Sie erhalten eine temporäre Aufenthaltsgestattung und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In den Erstaufnahmeeinrichtungen bedeute das: Sachleistungen und ein kleines Taschengeld.

Im Gegensatz zu anderen Asylbewerbern hängen die anerkannten Flüchtlinge aus Griechenland in Deutschland allerdings in der Warteschleife. Das BAMF teilt mit, dass es bei dieser Personengruppe derzeit einen "Entscheidungsstopp" gebe. Man hofft offenbar, dass sich Griechenland doch noch bereit erklärt, die Menschen dort zu angemessenen Konditionen zu übernehmen.

Doch auch das ist nicht so einfach. Denn Griechenland ist nicht zu derartigen Standards verpflichtet. "In der EU gibt es einheitliche Standards zum Umgang mit Asylbewerbern, aber nicht zum Umgang mit anerkannten Flüchtlingen", sagt Europarechtler Thym. Sie müssten nur dasselbe bekommen wie die eigenen Bürger. Eine Sozialhilfe wie in Deutschland gebe es nicht, auch viele Griechen seien von Armut betroffen. "Man kann von der griechischen Regierung schlecht verlangen, dass sie Flüchtlinge besser behandelt als die eigenen Leute."

Der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi weist die Vorwürfe ohnehin zurück. Griechenland erfülle alle Verpflichtungen beim EU-Grenzschutz, der Registrierung von Asylbewerbern, dem Asylverfahren und bei Integrationsprogrammen, teilte er in einem Brief an Seehofer und weitere Innenminister der EU von Anfang Juni mit.

Der Brief liegt WELT vor und wurde durch die griechische Botschaft bestätigt. Bei der Weiterreise handle es sich nicht um irreguläre Sekundärmigration, sondern um die Freizügigkeit anerkannter Flüchtlinge. Man möge sich doch bitte daran erinnern, dass Griechenland seit 2015 an der Spitze bei den irregulären Ankünften stehe.

Im Bundestag in Berlin wächst nun der Druck. "Dieser Zustand ist untragbar und stellt nicht nur das gemeinsame europäische Asylsystem, sondern das Funktionieren des Schengenraums an sich infrage", sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU), WELT. Es könne nicht sein, "dass ein EU-Mitgliedstaat, der dazu auch noch massiv vonseiten der EU, aber auch insbesondere von Deutschland unterstützt wird, nicht in der Lage ist, seine Verpflichtungen nach der EU-Grundrechtscharta einzuhalten".

Fehle es an finanziellen Mitteln für die Unterbringung und Versorgung vor Ort, solle die EU entsprechend unterstützen. Middelberg mahnt auch harte Konsequenzen an. "Die Einreise erfolgt oftmals unter Vorlage schengenwirksamer Aufenthaltstitel per Flugzeug." Sollte feststehen, "dass die an Schutzberechtigte ausgestellten Schengen-Visa vorsätzlich und systematisch missbraucht werden, muss darüber nachgedacht werden, ob diese noch anerkannt werden können".

Ähnliches bringt auch die FDP ins Spiel. "Bundesregierung und EU-Kommission müssen darauf bestehen, dass Griechenland angemessen für Flüchtlinge sorgt", sagt die migrationspolitische Sprecherin Linda Teuteberg. "Bis das erreicht ist, brauchen wir eine Aussetzung der visumfreien Weiterreise von in Griechenland anerkannten Flüchtlingen innerhalb der EU."

Grüne, Linke und Pro Asyl fordern indes, die Menschen in Deutschland aufzunehmen. "Es wäre politisch-pragmatisch und juristisch aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes geboten, den bereits anerkannten Geflüchteten aus Griechenland eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu geben", sagt die Grünen-Flüchtlingspolitikerin Amtsberg. Das sei allerdings keine langfristige Lösung. Verständlich seien Befürchtungen, "dass sich dann viele auf den Weg nach Deutschland machen".

Die Bundesregierung müsse sich deswegen auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Griechenland ein Existenzminimum gewähre. Die Grünen plädierten dafür, das europäische Asylsystem neu aufzubauen. "Die Mittelmeerstaaten sollten nur für die Erstversorgung ankommender Schutzsuchender zuständig sein, die Durchführung des Asylverfahrens und die Aufnahme müsste aber solidarisch unter den EU-Staaten erfolgen."

Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linke-Fraktion, sagt: "Das Problem ist das Dublin-System: Deutschland profitiert davon, doch die Hauptlast tragen die EU-Außenstaaten." Entsprechend solle das System "endlich zugunsten einer solidarischen Regelung und mehr Verantwortungsteilung" innerhalb der EU abgeschafft werden. "Die Wünsche und Bedürfnisse der Geflüchteten müssen dabei eine zentrale Rolle spielen." Derweil dauern die Verhandlungen mit den griechischen Behörden an. Einen Durchbruch gibt es nach WELT-Informationen nicht.


Quelle: welt.de vom 06.07.2021