In den sozialen Netzwerken kursierte jüngst eine viel kommentierte Statistik zur Verteilung der Konfessionen in Deutschland. Im Jahre 1970 stellten Katholiken und Protestanten 94 Prozent der Bevölkerung, 2015 waren es nur noch 56 Prozent. Die Zahl der Konfessionslosen hat sich im gleichen Zeitraum fast verzehnfacht, sie stellen inzwischen mit gut einem Drittel die größte Einzelgruppe.
Der Anteil der Muslime wuchs von 1,3 auf 4,4 Prozent. Zum Islam bekennen sich also nicht einmal fünf Prozent der Menschen in Deutschland. Die Reaktionen im Internet fielen überwiegend hämisch aus. Das soll also die berühmte Islamisierung sein, die uns angeblich droht? Unter fünf Prozent damit käme man ja nicht einmal in den Bundestag! Allgemeine Heiterkeit an den politisch korrekten Stammtischen.
Es hängt eben davon ab, was man unter Islamisierung versteht. Für manchen mag davon erst dann die Rede sein, wenn die Mehrheit der Bevölkerung muslimisch geworden ist. Von einem solchen Szenario ist Deutschland noch sehr weit entfernt ebenso wie der Kontinent als Ganzer: Bis zum Jahr 2050 wird laut Prognosen der Anteil der Muslime in Europa auf zehn Prozent steigen.
Wenn man aber Islamisierung als einen Prozess begreift, bei dem essenzielle Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft manchmal kaum merklich aufgeweicht oder verändert werden, dann lässt sich nicht bestreiten, dass es erste Anzeichen dafür gibt.
Während des diesjährigen Ramadan etwa beobachten Lehrer in deutschen Großstädten, dass sich inzwischen immer mehr Jungen und Mädchen und selbst Grundschüler den Regeln des vierwöchigen Fastens von Sonnenaufgang bis -untergang unterwerfen müssen, obwohl die meisten dieser Belastung erkennbar nicht gewachsen sind.
Dabei werden auch Kinder moderner Muslime gedrängt, doch dem Beispiel der "wahrhaft Gläubigen" zu folgen. Und wo sich die Behörden darum bemühen, vernünftige Kompromisse zu finden zwischen islamischen Praktiken und einem geregelten Schulalltag, stoßen sie überwiegend auf Ablehnung.
Die sozialdemokratische Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln hatte mit 20 Moscheevereinen über einen Zwölf-Punkte-Plan verhandelt, der u.a. vorsah, dass jene, die nicht fasten, deshalb nicht herabgewürdigt werden dürften, oder dass Grundschüler bei gesundheitlichen Problemen das Fasten unterbrechen können. Nur drei Imame unterschrieben am Ende die Vereinbarung.
Für Diskussionen sorgt außerdem ein internes Papier des Landeskriminalamtes Berlin, das bei Polizisten um Verständnis dafür wirbt, dass sich bei manchen Fastenden eine gewisse Reizbarkeit einstellt.
Kann man nicht von Islamisierung sprechen, wenn in Berlin ein junger Jude eine Schule ohne Rassismus verlassen muss, weil er von muslimischen Klassenkameraden schikaniert wird, für die das folgenlos bleibt?
Wenn Arte unter fadenscheinigen Gründen eine offenbar eindringliche Dokumentation über Antisemitismus in Europa nicht sendet? Wenn darüber diskutiert wird, ob in öffentlichen Kantinen Schweinefleisch vom Speiseplan verbannt werden sollte?
Wenn Scharia-Gerichte jenseits der deutschen Justiz in Streitfällen Recht sprechen und ein Landesjustizminister der SPD das grundsätzlich unproblematisch findet? Wenn sich ein aus islamischen Ländern importiertes Machotum ausbreitet, das vor allem Frauen zu spüren bekommen?
Wenn Homosexuelle beklagen, dass es in den Szenevierteln der Großstädte häufiger zu Übergriffen kommt und sie sich nicht mehr so frei bewegen können wie noch vor Jahren?
Wenn der Grüne Hans-Christian Ströbele die Einführung eines "gesetzlichen Feiertages" für die in Deutschland lebenden Muslime befürwortet und die entsprechende Streichung "eines der vielen christlichen Feiertage", und wenn er dafür Zustimmung vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) bekommt, weil das doch ein gutes Zeichen dafür wäre, "dass wir den Islam als Weltreligion ernst nehmen".
Nicht selten plädieren Christen oder säkulare Bürger für mehr "Rücksicht" gegenüber Muslimen, die von jenen überhaupt nicht eingefordert wurde (und von der Christen in muslimischen Ländern nur träumen können). Wie im Fall der Volkshochschule Berlin-Marzahn, wo die Leitung harmlose Aktbilder einer deutschen Künstlerin abhängen ließ, weil Muslime dort Deutschkurse besuchten.
Wie im Fall der österreichischen Botschaft in Berlin, die "mit Rücksicht auf den Islam" zu "winterlichen Köstlichkeiten" einlud statt zu "weihnachtlichen Köstlichkeiten".
Wie im aktuellen Fall des Streits um das Kreuz auf der Kuppel des wiederaufgebauten Berliner Schlosses, bei dem Grüne und Linkspartei die weltanschauliche Neutralität des darin befindlichen Humboldt Forums gefährdet sehen während der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, damit überhaupt kein Problem hat und lapidar befindet, dass das Kreuz auf die Kuppel gehöre.
Gerade moderne Muslime erwarten, dass sich der deutsche Staat und seine Behörden wehrhafter zeigen angesichts eines erstarkenden fundamentalistischen Islam; dass diesem Grenzen aufgezeigt werden, anstatt ihm entgegenzukommen.
Am Samstag wollen sie mit einem Friedensmarsch der Muslime in Köln ein Zeichen setzen und es ist bezeichnend, dass sich der größte Islam-Dachverband in Deutschland, die Türkisch-islamische Union Ditib, daran nicht beteiligen wird.
Die Konfliktlinie verläuft eben nicht zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft, sondern zwischen dem modernen Islam und den Fundamentalisten. Es sind Publizisten wie Hamed Abdel-Samad oder Initiativen wie das Muslimische Forum Deutschland, die immer wieder darauf hinweisen, wie archaisch das Gesellschaftsbild vieler Muslime hierzulande aussieht.
Das bestätigte im vergangenen Jahr erneut eine repräsentative Befragung türkischstämmiger Einwanderer im Rahmen einer Studie der Universität Münster. Der Aussage, "Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben", stimmten laut der Emnid-Umfrage 32 Prozent der Befragten "stark" oder "eher" zu.
Der Aussage, "die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe", stimmten 47 Prozent zu. Dabei halten junge Muslime kulturelle Anpassung an das Gastland sogar für weniger wichtig als die Älteren.
Sie dürften sich bestätigt fühlen durch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), die jüngst schrieb: "Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar." In einem ihrer Strategiepapiere wird abschließend formuliert: Eine Einwanderungsgesellschaft zu sein heiße, dass sich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, integrieren müssten. "Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden." Auch das ist Islamisierung.