05. November 2020
Der Pädagoge, der sich bei Hendrik Nitsch, dem Schulleiter der Gustav-Freytag-Schule, meldete, hatte bestürzende Nachrichten. Es war der Tag der Schweigeminute für den enthaupteten französischen Lehrer Samuel Paty, auch an der Integrierten Sekundarschule in Reinickendorf gab es diese Geste. Der Lehrer berichtete nun: Ein muslimischer Schüler der achten Klasse habe die Schweigeminute gestört und erklärt, Paty habe "doch das bekommen, was er verdient hat. Der gehörte hingerichtet. Er hatte den Propheten beleidigt."
Insgesamt vier Kollegen, sagt Nitsch dem Tagesspiegel, seien zu ihm gekommen. "Der Tenor ihrer Berichte war immer der gleiche: Muslimische Schüler sagten, diese Tat sei richtig gewesen, bloß keine Schweigeminute für so jemanden."
Nitsch ist auch stellvertretender Vorsitzender der Interessensgemeinschaft Berliner Schulleitungen, er sagt: "Wir müssen das aufarbeiten, so kann es nicht weitergehen. Das ist ein relativ großes Problem in Berlin." Mit dem Schüler wurde ein Gespräch geführt, aber das reiche ja nicht. "Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Mitläufer, die so etwas nur nachplappern, erreichen."
Ein Lehrer an einer Integrierten Sekundarschule in Schöneberg erzählt, einer seiner muslimischen Schüler habe gesagt: "Dass jemand umgebracht wird, ist doch nicht so schlimm." Der Pädagoge ist überzeugt, "dass dieses Denken an meiner Schule weit verbreitet ist".
Karina Jehnichen, Leiterin der Christian-Morgenstern-Grundschule in Spandau, eine Einrichtung mit hohem Migrations-Anteil, sagt über ihre muslimischen Schüler: "Viele sind in ihrem Denken so verfestigt, dass sie keine andere Ansichten mehr zulassen."
Es gibt viele muslimische Schüler und Schülerinnen, die nicht verfestigt sind, die ihren Glauben leben und dabei genügend Toleranz für andere Meinungen lassen. Aber jene muslimischen Schüler, die streng konservativ erzogen sind, die keinen Spielraum lassen, die sind für immer mehr Lehrer und Lehrerinnen ein Problem.
"Bei unser Beratungs-Hotline melden sich Pädagogen, die mit solchen Sätzen konfrontiert sind, die Hilfe brauchen und uns um Rat fragen", sagt Thomas Mücke, der Geschäftsführer von Violence Prevention Network (VPN), der Organisation, die sich um radikalisierte Islamisten kümmert. "Wir müssen das Thema ernst nehmen", sagt er.
Auch bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) melden sich verunsicherte oder aufgeregte Pädagogen. "Wir haben vereinzelt Anrufe von Leuten, die besorgt sind, dass ihnen etwas Ähnliches wie in Frankreich droht", sagt ein GEW-Pressesprecher. "Die hatten das Bedürfnis, ihre Sorgen zu thematisieren." Die GEW lege deshalb Wert darauf, "dass man gerade an Schulen, an denen es schwierig ist, nachhaltig Ethik, Demokratie und Toleranz unterrichtet".
Das Sicherheitsgefühl ist zumindest bei einigen Pädagogen weg. "Ich habe jetzt Angst", sagt eine erfahrene Schulleiterin. "Das Lehrpersonal hat ein mulmiges Gefühl", sagt Nitsch. Und Lea Hagen, Lehrerin an einem Kreuzberger Gymnasium sagt: "Eine gewisse Angst haben wir alle. Aber viele reden nicht darüber."
Die Freude über beziehungsweise die Sympathie für den Tod von Paty ist ja nur ein Symptom. Das Problem, sagen Pädagogen, gehe viel tiefer. Es geht um die generelle Vorstellung, wie man Religion lebt, welche Werte zählen, wo Toleranz endet. Viele Schüler mit streng konservativen Eltern bekommen in der Moschee oder zu Hause ein Weltbild vermittelt, in denen Homophobie und patriarchalisches Denken Alltag ist. "Die Schüler kommen aus einer Parallelgesellschaft", sagt der Verbandsvertreter Nitsch, "die gehen neben der Schule noch in die Moschee, die werden dann mit einer Demokratie konfrontiert, die sie in ihrer Parallelwelt nicht kennen."
Nitsch hatte durchaus mit Ablehnung der Idee gerechnet, eine Schweigeminute für Paty einzulegen. "Aber diese Art des Widerstands hat mich überrascht." Der Widerstand habe sich von der achten bis zur zehnten Klasse gezogen. "Das Thema muss im Ethikunterricht behandelt werden." Zudem möchte er externe Hilfe in die Schule holen, Organisationen, die Aufklärung betreiben könnten.
Die Denkweise dieser streng konservativ erzogenen Schüler zeigt sich vor allem beim Thema Israel. "Wenn man im Geschichtsunterricht das Dritte Reich behandelt, dann sagen muslimische Schüler: Ey, das ist doch gut, dass die Juden ausgerottet wurden", erzählt ein Pädagoge. Ein Lehrer, der in Schöneberg unterrichtet, sagt, dass ein muslimischer Schüler den Unterricht "gesprengt hat, nur weil ich das Wort Israel benützt habe". Danach habe es endlose Diskussionen gegeben.
Für Lea Hagen, die Geschichtslehrerin an einem Kreuzberger Gymnasium, die auch im Vorstand des Berliner Geschichtslehrerverbands sitzt, ist das keine Überraschung. "Das hängt ja auch mit dem Medienkonsum zusammen." Die muslimischen Schüler verfolgten die Sender der Heimatländer ihrer Familien. Dort gelten Juden und Israel als Zentrum alles Bösen.
In Hagens Schule gibt es sehr viele türkischstämmige Schüler und Schülerinnen. Im Unterricht, sagt sie, erzählten Schüler, dass sie keine französischen Produkte mehr kaufen. "Das hat natürlich mit Erdogan zu tun", sagt Lea Hagen. Der türkische Präsident hatte als Reaktion auf kritische Äußerungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Islamisten seine Landsleute aufgefordert, keine französischen Produkte mehr zu kaufen. "Und im Unterricht kommen dann die Zwischenrufe: Erdogan, Ehrenmann."
Die Verbandsvertreterin Hagen wirft der Berliner Senatsbildungsverwaltung vor, sie habe "das Problem lange verdrängt. Man wollte es nicht sehen." An ihrer Schule stellt sie in Diskussionen fest, "dass sich die Muslime in der Opferrolle sehen". Europa sei islamophob, "es geht immer zwischen Wir und Euch". Da gebe es kein "Empfinden für ein gemeinsames Denken", kein Gefühl dafür, dass man die Demokratie verteidigen müsse. Diese Schüler bestimmten den Diskurs, sei seien dabei auch in der Mehrheit. "Religionsfreiheit ist ganz wichtig für sie, aber den Propheten zu beleidigen, ist für sie keine Meinungsfreiheit", sagt die Geschichtslehrerin.
Gleichzeitig gebe es aber enorme Informationsdefizite. "Viele haben bloß grob gehört, dass der Prophet beleidigt wurde, aber sie wissen nicht, was genau passiert ist." Es gebe Schüler, die glaubten, Paty habe selber die Karikaturen an die Tafel gemalt, andere hätten noch nie den Namen Paty gehört. "Aber ein Schüler forderte, dass man überhaupt keine Karikaturen mehr im Unterricht verwenden soll."
Bei Lehrern herrsche ein Gefühl der Unsicherheit, sie wüssten nicht, wie sie mit solchen Diskussionen umgehen sollen. "Wir brauchen Fortbildungen", sagt Lea Hagen, "wir müssen wissen: Wann radikalisiert sich ein Schüler? Wann müssen wir den Verfassungsschutz einschalten?"
Martin Klesmann, Pressesprecher der Senatsbildungsverwaltung, verweist auf "zahlreiche Angebote zur Demokratiebildung und auch viele Projekte zu Antisemitismus-Prävention". Zudem gebe es die aussagekräftige Handreichung "Islam und Schule". Themen wie "Grundrechte. Meinungsfreiheit und religiöse Toleranz sind nach den neuen Rahmenlehrplänen 1-10 im Sinne von Demokratiebildung ein Querschnittsthema an Berliner Schulen." Für die Verbandsvertreterin Hagen ist eines klar: "Was in Frankreich passiert ist, das ist ein Problem, das ganz Europa betrifft, also auch uns. "
Quelle: tagesspiegel vom 05.11.2020