Von
Nicola Naber und
12.11.2021, 09.00 Uhr | aus DER SPIEGEL 46/2021
Sonne, Sand und Palmen, damit würden die meisten Menschen Erinnerungen an einen "wunderschönen Urlaub" verbinden, sagt Olaf Scholz Mitte Mai in einem Videoclip. Andere aber würden sich genau dort ihrer Steuerpflicht entziehen. Und das, sagt der SPD-Finanzminister, sei "nicht in Ordnung".
Deshalb habe er schon viel dagegen unternommen, betont der mutmaßlich künftige Kanzler in einem weiteren Werbevideo. Er habe eine Mindeststeuer für Konzerne durchgesetzt, für eine Abgabe auf digitale Geschäfte geworben und ein "Steueroasenabwehrgesetz" auf den Weg gebracht.
Was zu diesem Bild allerdings nicht ganz passt: Ging es in der Vergangenheit in Europa um die Frage, wie Steuerschlupflöcher gestopft und Steuerflucht vermieden werden können, fielen Olaf Scholz und seine Leute kaum als energische Kämpfer, sondern oft als Bremser auf.
Das zeigen Tausende vertrauliche Dokumente, die der SPIEGEL erhalten und gemeinsam mit Partnerredaktionen des Rechercheverbundes European Investigative Collaborations (EIC) ausgewertet hat. Aus ihnen wird erstmals ersichtlich, wie ein verschwiegenes Gremium, in dem die EU-Länder unter strikter Geheimhaltung den verheerenden Steuerwettlauf in Europa zu kontrollieren versuchen, weitgehend versagt hat.
Diese sogenannte Arbeitsgruppe Verhaltenskodex - eine Runde aus Vertretern der EU-Kommission und der Mitgliedsländer - hat dem Treiben von Großkonzernen und Superreichen oft tatenlos zugesehen. Weil einige Mitgliedsländer mit Ministeuern Konzerne ködern, gehen anderen jedes Jahr Dutzende Milliarden Euro durch die Lappen - zulasten der Bürgerinnen und Bürger in den jeweiligen Ländern.
Der Schaden ist gigantisch. Laut einer Studie der OECD entgehen den Steuerbehörden der Länder weltweit durch die Steuertricks international agierender Konzerne jedes Jahr zwischen 100 Milliarden und 240 Milliarden Dollar an Einnahmen. In der EU sind es mindestens 160 Milliarden Euro. Tendenz steigend, wie aus einer noch unveröffentlichten Studie der europäischen Steuerbeobachtungsstelle unter dem Berkley-Ökonomen Gabriel Zucman hervorgeht. Während die Unternehmen immer weniger zum EU-Steueraufkommen beitrügen, so die Analyse, seien fragwürdige Deals mit den Konzernen "zu einer etablierten Praxis in vielen Mitgliedstaaten" geworden.
Martijn Nouwen studierte noch Steuerrecht an der Universität von Amsterdam, als er erstmals von dem mysteriösen Gremium mit dem noch seltsameren Namen hörte: der "Gruppe Verhaltenskodex". Ein vertraulicher EU-Zirkel, der Kriterien für die hochumstrittene Konzernbesteuerung in Europa entwirft? Der für einen fairen Wettbewerb zwischen den EU-Staaten sorgen soll? "Ich wollte unbedingt wissen", sagt Nouwen, "wer in der Gruppe sitzt, wie sie arbeitet und was sie bewirkt".
Der Forscher machte das Gremium zum Thema seiner Dissertation - und begann mit einer jahrelangen Detektivarbeit. Er wandte sich an das niederländische Finanzministerium, den Rat der EU und die EU-Kommission. Anfangs stieß er auf eisernes Schweigen; doch dann gelang es ihm, mithilfe der europäischen Transparenzgesetze mehr als 2500 interne Dokumente des Gremiums zusammenzutragen.
Viele der Unterlagen der Gruppe hatte kaum ein Außenstehender je zu Gesicht bekommen. Selbst das EU-Parlament musste erst einen Sonderausschuss gründen, um einige Dokumente einsehen zu können - in einem bunkerartigen Leseraum, den Abgeordnete nur ohne Handy betreten durften.
Umso brisanter ist Nouwens Datenschatz: Protokolle, Berichte und Briefe, mit denen sich die Arbeit der Kungelgruppe nahezu lückenlos nachzeichnen lässt, von den Anfängen Ende der Neunzigerjahre bis ins Jahr 2021.
Die Papiere zeigen nicht nur, dass EU-weites Steuerdumping seit Langem bekannt ist. Sie belegen auch, dass es der Staatengemeinschaft bis heute nicht gelungen ist, den schädlichen Wettlauf einzudämmen.
Während die Schutzmächte der Steuertrickser - die Niederlande, Luxemburg, Zypern und Malta - die Arbeit des Gremiums torpedierten, wo sie nur konnten, nahmen große EU-Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien diesen Widerstand oft achselzuckend zur Kenntnis, mitunter beförderten sie ihn sogar.
Einerseits entschied die Kodexgruppe weitgehend selbst, welche der mehr als 600 Regeln zur Besteuerung von Konzernen innerhalb der Gemeinschaft erlaubt und welche verboten, wie Zinsen, Gebühren oder Dividenden besteuert und welche Finanzdaten zwischen den Ländern ausgetauscht werden sollten. Die EU-Finanzminister, die sich zweimal im Jahr über die Beschlüsse unterrichten ließen, nickten sie meist ohne Debatte ab.
Andererseits gelang es der Gruppe nie, ihrem offiziellen Anspruch gerecht zu werden, "schädliche Maßnahmen so schnell wie möglich abzuschaffen", wie es im Gründungskodex heißt. Es sollte auch verhindert werden, dass Mitgliedstaaten Firmen aus anderen EU-Ländern abwerben. In Wahrheit aber hatten manche EU-Länder nichts anderes im Sinn - und schufen ein Steuerschlupfloch nach dem anderen: Die Zahl der Steueroasen in der EU nahm nicht ab, sondern zu.
"Die Industrie ist kreativ - aber noch kreativer sind häufig die Finanzminister, wenn sie Unternehmen mit neuen Steuermodellen in ihre Länder locken", sagt Nouwen, der inzwischen als Assistenzprofessor an der Universität im niederländischen Leiden lehrt. "Die Regierungen sitzen im Fahrerhaus. Sie könnten zusammenarbeiten und für ein funktionierendes Steuersystem sorgen, aber sie tun häufig das Gegenteil."
Die Reiseplattform Booking.com sieht sich als Konzern des Fortschritts. Mal eröffnet das niederländisch-amerikanische Unternehmen einen App-Store für Hoteliers, mal bringt es digitale Reiseführer auf den Markt. Es gehe um "Technologien", die das "Reisen zu einem reibungslosen Erlebnis" machten, heißt es auf seiner Homepage.
Umso besser, dass die Technologien auch Steuern sparen helfen. Seit Jahren lässt der Konzern Patent- oder Lizenzeinnahmen über seinen Firmensitz in Amsterdam laufen, um von niederländischen Vergünstigungen für geistiges Eigentum zu profitieren - zum Nachteil der übrigen EU-Staaten, deren Einnahmen entsprechend schrumpfen.
Über einen klaren Fall von unlauterem Wettbewerb schimpfte schon früh etwa der deutsche Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Doch die "Gruppe Verhaltenskodex", die sich jahrelang mit den sogenannten Patentboxen in den Niederlanden und anderen EU-Staaten beschäftigte, bekam die Praxis nie in den Griff. Schlimmer noch, so zeigen die vertraulichen Dokumente, die dem SPIEGEL und seinen Partnern vorliegen: Das Gremium hat dafür gesorgt, dass sich der Steuertrick bald als eine Art EU-Standard über den halben Kontinent verbreiten konnte. So stufte es eine ähnliche Regelung in Frankreich 2003 als "unschädlich" ein.
Kein Wunder, dass die übrigen Mitgliedstaaten den Beschluss als Aufforderung verstanden, Frankreichs Beispiel nachzueifern. Ungarn, Belgien, Luxemburg, Spanien und die Niederlande - alle luden nun inländische wie ausländische Konzerne ein, die Einkünfte aus Rechten an geistigem Eigentum in ihren Ländern günstig zu versteuern - und als "geistiges Eigentum" lässt sich vieles deklarieren.
Als die EU 2007 Beschwerden über die enormen Steuerausfälle durch den Trick mit den sogenannten Patentboxen erreichten, zeigte sich der niederländische Vertreter empört darüber, dass die Kodexgruppe den Vorgang überhaupt diskutieren wollte. Geistiges Eigentum geringer zu besteuern, habe die Gruppe "wiederholt und einstimmig für zulässig" erklärt, war sein Argument. Deshalb sei eine Debatte überflüssig.
Die Steuerausfälle waren so groß, dass die Debatten in der Kodexgruppe zunehmend hitziger wurden. "Ein Konzern muss nur ein paar leitende Angestellte versetzen, und schon kann er die Hälfte seiner Gewinne verschieben", schimpfte der dänische Vertreter laut internem Sitzungsprotokoll Ende März 2013. Dagegen müsse die Gruppe etwas unternehmen. Doch viele seiner Kollegen waren der Auffassung, dass heute nicht Unrecht sein könne, was gestern Recht war.
Am Ende wurde die Gruppe mit der Prüfung beauftragt, ob die Tricks mit den Regeln der Industrieländer-Organisation OECD vereinbar seien. Das Ergebnis: Kein einziges der EU-Regelwerke entsprach den Vorgaben. Die Studie aus dem Jahr 2014 ergab, dass alle 13 Systeme der Mitgliedsländer in erster Linie das Ziel hatten, Konzerne mit dem Versprechen ins Land zu locken, dass sie enorme Summen am Fiskus vorbeischleusen dürfen.
Nun erst waren die EU-Regierungen bereit, ihre Systeme zu reformieren. Nicht aus eigener Motivation heraus, sondern nur, weil die OECD längst weiter war.
Das Modell der Patentboxen ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie innerhalb der EU die Länder gegeneinanderarbeiten. Die Kodexgruppe versuchte in den vergangenen Jahren immer wieder vergebens, andere schädliche Regelungen in den Mitgliedsländern zu bekämpfen. Mit dem Ergebnis, dass verschiedene Länder ihre Steuern immer weiter senkten und neue Schlupflöcher erfanden, um Konzerne anzulocken, frei nach dem Motto: Wer bietet weniger?
So führten Staaten, die einzelne Steuermodelle auf Druck der Kodexgruppe abschaffen mussten, im Gegenzug generelle Niedrigsteuersysteme für Unternehmen ein. Seit 2015 fiel die Unternehmensteuer etwa in Ungarn von 19 auf 9, in Belgien von 34 auf 25, in Frankreich von 38 auf 28 Prozent.
Die britische Halbinsel Gibraltar hatte ihre Unternehmensteuern schon im Jahr 2011 von 22 auf 10 Prozent gesenkt und Zins- und Lizenzeinnahmen sogar komplett steuerfrei gestellt. Erst als Spanien sich bei der EU-Kommission beschwerte, setzten die Wettbewerbshüter dem Treiben mit einem Verfahren wegen unzulässiger Staatsbeihilfe ein Ende.
Die ebenfalls von Großbritannien vertretenen Kanalinseln Jersey und Isle of Man senkten ihre Unternehmensteuern sogar generell auf null Prozent, um dann bestimmte Branchen davon auszunehmen. Es wäre "interessant" zu erfahren, welche Firmen unter die Nullsteuer fielen, merkte die spanische Regierung in der Kodexgruppe an. Und äußerte den Verdacht, dass sie nur für ausländische Unternehmen auf der Suche nach Steuervorteilen gelte.
Die Briten und einige andere Mitgliedsländer argumentierten dagegen, dass die Kodexgruppe für diese Art der Besteuerung gar nicht zuständig sei - was die Mehrheit freilich anders sah. Fast zweieinhalb Jahre zog sich der Konflikt hin, bis die Finanzminister bei einem Treffen die krummen Geschäfte auf der Isle of Man und Jersey stoppten.
Doch oft erfinden ertappte Sünder dann schnell neue Schlupflöcher. Hilfreich sind dafür die unterschiedlichen Steuersysteme der EU-Staaten.
Ein beliebtes Instrument sind Steuervorbescheide. Die Finanzbehörden eines Landes vereinbaren mit ausgewählten Unternehmen, mit wie vielen Steuern sie zu rechnen haben. Da die Bescheide vertraulich sind, können die Länder zum Beispiel internationale Konzerne bevorzugt behandeln, ohne dass die EU-Aufseher davon etwas mitbekommen. Unternehmen wie Ikea, Amazon oder Google kamen so viele Jahre lang in den Genuss von Ministeuersätzen.
Dann kamen die "Luxemburg Leaks". Ende 2014 gerieten Hunderte Dokumente mit Zehntausenden Seiten an die Öffentlichkeit, im Zentrum standen die Steuervorbescheide. Der Skandal war gewaltig. Dabei war der "Gruppe Verhaltenskodex" das Problem zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren bekannt, wie die internen Protokolle zeigen.
Spätestens 2003 prangerte die Kodexgruppe die Praktiken mehrerer EU-Staaten an und einigte sich darauf, dass die Mitgliedsländer künftig automatisch Informationen über grenzüberschreitende Steuervorbescheide austauschen. So sollte es Unternehmen schwerer gemacht werden, die unterschiedlichen Steuersysteme der Länder gegeneinander auszuspielen.
Doch jahrelang funktionierte der Informationsaustausch bestenfalls rudimentär. Noch 2015 hatten zehn Länder - darunter Deutschland - nicht einmal begonnen, ein zwei Jahre zuvor beschlossenes Umsetzungsmodell zu implementieren.
Erst Ende 2015, unter dem öffentlichen Druck durch die "Luxemburg Leaks", einigten sich die EU-Länder darauf, den Informationsaustausch gesetzlich festzuschreiben. Die Annahme der Richtlinie sei "eine der obersten Prioritäten des luxemburgischen Vorsitzes" gewesen, ließ Luxemburgs Finanzminister Pierre Gramegna verlauten. "Europa setzt damit jetzt ein deutliches Zeichen für eine gerechtere Besteuerung von Unternehmen weltweit."
Doch ausgerechnet Luxemburg zeigte sich anschließend besonders kreativ darin, einen neuen Trick zu ersinnen: Unternehmen schrieben Gramegnas Behörden sogenannte Informationsbriefe über geplante Steuermodelle. Äußerten die Behörden daran keine Kritik, konnten die Firmen im Nachhinein kaum noch bestraft werden. Wieder bekamen weder die EU noch andere Mitgliedsländer davon etwas mit.
Und die Leute des deutschen Finanzministers Olaf Scholz machten es um keinen Deut besser. Die Brüsseler Zentrale wollte im vergangenen Jahr wissen, ob die Bundesrepublik Steuerabsprachen zwischen ihren Finanzämtern und Unternehmen offenlegt, wie es andere EU-Länder tun. Doch der Abgesandte von Scholz fand offenbar schon die Frage degoutant. "Absprachen werden generell nicht offengelegt", befand der Beamte. Schließlich seien sie "Bestandteil des Steuergeheimnisses".
Die Behörde des derzeitigen Vizekanzlers und womöglich künftigen Kanzlers, die sich in den vergangenen Monaten zum Anführer im Kampf für mehr Abgabentransparenz stilisiert hat, blockiert genau dieses Vorhaben in Europa, so wie schon sein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble.
Offenbar mit dem Ziel, dass die Geschenke für Großkonzerne beim deutschen Wähler nicht unangenehm auffielen, drängten die Experten von Olaf Scholz auf strikte Geheimhaltung. Die Informationen über die Steuervorbescheide sollten nur zwischen den Finanzbehörden der Mitgliedstaaten ausgetauscht, nicht aber veröffentlicht werden. Selbst eine anonymisierte Veröffentlichung lehnte die deutsche Regierung ab. Die Ausfertigung liege in der Verantwortung der einzelnen Bundesländer, ließ das Bundesfinanzministerium die EU-Partner als Begründung wissen.
Dass das Rennen um immer geringere Unternehmenssteuern in Europa und der Welt in absehbarer Zeit enden könnte, ist kaum zu erwarten. Zwar haben die Staats- und Regierungschefs der G-20-Staaten beim Gipfel in Rom Ende Oktober grünes Licht für eine globale Mindestunternehmensteuer von 15 Prozent gegeben, doch bis zu dieser Marke dürfte sich die Abwärtsspirale erst einmal weiterdrehen.
Schon zwischen 1990 und 2018 sind die Unternehmensteuern in den reichen Ländern nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) im Schnitt von 38 auf unter 23 Prozent gefallen. Der nun geplante Mindeststeuersatz von 15 Prozent lässt reichlich Raum für weitere Senkungen - zumal er, anders als sein Name vermuten ließe, wahrscheinlich keineswegs das Minimum darstellt.
Diverse Ausnahmetatbestände ermöglichen auch hier, noch tiefer zu gehen, kritisiert Tove Ryding von Eurodad, einem Netzwerk aus 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen. "Die Unternehmensteuern werden wohl nicht mehr, wie früher befürchtet, weltweit auf null sinken", sagt Ryding. "Aber wir dürften ein Rennen zum Minimum bekommen, das irgendwo zwischen null und 15 Prozent liegen wird."
Einmal im Jahr gibt die Frankfurter Wirtschaftsberatung PricewaterhouseCoopers (PwC) gemeinsam mit der Weltbank eine Studie unter dem Namen "Steuern zahlen" heraus, die in den Finanzabteilungen großer Konzerne viel gelesen wird. Vielleicht sollte sie besser "Nicht Steuern zahlen" heißen, denn am besten schneiden Länder mit niedrigen Sätzen und vielen Schlupflöchern ab, Nationen wie die Niederlande.
Das Land habe ein "exzellentes Fiskalklima", lobt PwC in seinem Länderreport. Gewinne würden im EU-Vergleich nur mäßig besteuert, vor allem aber könnten Firmen "die Behandlung bestimmter Transaktionen schon im Vorhinein" mit den Behörden vereinbaren. Dadurch, so die Beratungsfirma, lasse sich mancher Konflikt in "kooperativer Weise" lösen.
Die Auszeichnung hat sich das Land hart erkämpft, oft im Verbund mit Belgien, wie die vertraulichen Dokumente der Kodexgruppe zeigen. Arm in Arm haben die Regierungen in Den Haag und Brüssel fast zwei Jahrzehnte lang ihr Steuersparmodell der "informellen Kapitalbesteuerung" innerhalb Europas verteidigt.
Das Modell gibt niederländischen oder belgischen Töchtern internationaler Konzerne das Recht, in ihren Steuererklärungen Abschläge für grenzüberschreitende Zahlungen anzusetzen, die in den offiziellen Geschäftsberichten nicht zu finden sind.
Mit der Masche lassen sich die Steuern in den Heimatländern der Unternehmen mitunter um bis zu 90 Prozent drücken. Vor allem die Niederlande machte sie zu einem der beliebtesten Holding-Standorte der Welt. Über die Konten der geschätzt 15.000 Briefkastenfirmen des Landes wird mehr als ein Drittel der globalen Auslandsinvestitionen abgewickelt.
Kein Wunder, dass die übrigen EU-Staaten dem Dumping der Niederländer schon Ende der Neunzigerjahre ein Ende setzen wollten. Die Vorschläge dafür sollte die Kodexgruppe entwickeln, doch die beiden Steueroasen im Westen des Kontinents verstanden es, das Gremium mit einer Mischung aus Trotz und Hinhaltetaktik ins Leere laufen zu lassen - bis heute.
Vier Jahre dauerte der Streit. Dann wurde der Druck so groß, dass die beiden Länder nachgaben - aber nur ein bisschen. In der entscheidenden Frage blieben sie hart: Würden sie die Steuervorteile auch den Heimatländern der Konzerne melden, damit die dortigen Finanzbehörden mehr Steuern fordern könnten? Das hatten sie zwar versprochen, aber so war es nicht gemeint.
Sie würden die gewünschten Informationen erst herausgeben, wenn alle anderen Länder dergleichen ebenfalls veröffentlichten, stellten Belgien und die Niederlande klar. Weil sich die EU-Staaten jedoch über kein effektives Verfahren zum Informationsaustausch einigen konnten, blieb das Schlupfloch geöffnet.
Während die beiden Länder mit der EU über ihr besonderes Steuersparmodell stritten, entwickelten sie weitere Angebote, um Unternehmen ins Land zu locken.
Die Niederlande senkten dafür den Tarif für einen Großteil der Betriebe, und Belgien führte ein System ein, mit dem Multis Gewinne künstlich eindampfen können. So etwas gebe es "nur in Belgien", lautete der Slogan, unter dem die Wirtschaftsförderer des Landes das neue Modell bewarben.
Zwar leitete die EU-Kommission diesmal umgehend ein Strafverfahren gegen Beihilfevorschriften ein, doch bis heute prozessiert Brüssel (Belgien) gegen Brüssel (EU) vor den europäischen Gerichten, ein Ende ist nicht abzusehen.
Belgien und die Niederlande bieten noch weitere Steuervermeidungstricks an, es geht um Briefkastenfirmen, Dividendenzahlungen und Tochterunternehmen. Am Ende zahlen milliardenschwere Konzerne kaum noch Steuern - und die EU tut nahezu nichts dagegen.
Geht es jedoch um Steuertricks von Nichtmitgliedern, ist die EU weniger zimperlich. Eines ihrer wirkungsvollsten Druckmittel ist die sogenannte schwarze Liste der Steueroasen. Wer auf ihr landet, entscheidet ebenfalls die Kodexgruppe.
Als Drohkulisse funktionierte die Liste schon lange, bevor sie 2017 als Reaktion auf den Skandal um die "Luxemburg Leaks" offiziell eingeführt wurde. Unvergessen ist, wie der damalige SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Jahr 2009 der Schweiz drohte, die "siebte Kavallerie im Fort Yuma" ausreiten zu lassen. Er meinte, das Land auf eine schwarze Liste von Steueroasen setzen zu lassen.
Die Empörung unter den Eidgenossen war groß, am Ende aber knickten sie ein, lockerten ihr Bankgeheimnis und sagten zu, die Standards der Industrieländer-Organisation OECD zu befolgen.
Ähnlich erging es später beispielsweise Liechtenstein, wo Investoren unter anderem großzügige Freibeträge auf Dividenden genossen. Die "Gruppe Verhaltenskodex" stellte das Fürstentum vor die Wahl: Entweder es schafft die Regelung ab, oder es landet auf der schwarzen Liste, wie es Fabrizia Lapecorella, die damalige Chefin der Kodexgruppe, in einem Brief an die Liechtensteiner Finanzbehörde im Oktober 2017 klarmachte.
Lapecorellas Drohung ging wortgleich an mehr als 60 weitere Staaten weltweit. Die meisten setzten die Forderungen des Gremiums um oder rechtfertigten erfolgreich ihre Modelle. In der ersten schwarzen Liste, beschlossen im Dezember 2017, tauchten deshalb nur noch 17 Staaten oder Hoheitsgebiete auf. In der aktuellen Version sind es neun, ausnahmslos Kleinstaaten wie Palau (18.000 Einwohner) oder Panama (4,3 Millionen Einwohner).
Große, für die EU wichtige Drittländer blieben von einer Nennung verschont. Die Türkei etwa wurde von der EU schon mehrfach aufgefordert, ihr Steuergebaren transparenter zu machen. Bisher ließ Ankara noch jede Frist verstreichen, zuletzt Ende 2020. Auf der schwarzen Liste landete die Türkei dennoch nicht - auch weil die Bundesregierung in Brüssel Druck gemacht haben soll. Die Rolle der Türkei bei der Abwehr von Migranten, so heißt es, sei Berlin wichtiger als korrektes Verhalten in Steuerfragen.
Ähnlich verhält es sich mit den USA, die laut internen EU-Dokumenten auf der schwarzen Liste landen müssten, etwa wegen Steueroasen wie dem Bundesstaat Delaware. Doch im Herbst gab die EU still und heimlich auf: Die Chefin der Kodexgruppe, die Bulgarin Lyudmila Petkova, kam laut einem internen Protokoll mit dem US-Finanzministerium überein, dass ein Austausch über Steuerdaten, der schon seit 1988 existiert, vollends ausreiche.
Der wahre Grund dürfte eher sein, dass die EU im Sommer 2018 nur knapp an einem Handelskrieg mit den USA vorbeigeschrammt war. Hätte sie die USA direkt danach an den Pranger der Steueroasen gestellt, hätte der damalige US-Präsident Donald Trump dies vermutlich als Kampfansage verstanden.
Im Umfeld der Kodexgruppe hält man deren Arbeit für einen Erfolg. Die meisten Finanzminister seien begeistert, heißt es, sogar die OECD sei eifersüchtig auf das Gremium.
Die Gruppe habe allein durch den moralischen Druck, den die Staaten dort aufeinander ausübten, viel erreicht. Und dass die Vorgänge in den Sitzungen geheim blieben, sei gut so. Würde man die Positionen der einzelnen Mitgliedsländer protokollieren, "dann würden sie gar nicht mehr miteinander verhandeln", sagt ein Insider.
Der Europaabgeordnete der Grünen, Sven Giegold, sieht das ganz anders: "Die Gruppe Verhaltenskodex hat rund 20 Jahre lang nichts Relevantes mehr bewegt."
Dabei verfügt die EU-Kommission über eine Waffe, mit der sie den Unterbietungswettbewerb schnell beenden könnte: Artikel 116 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU, in Fachkreisen auch "Atombombe" genannt. Bei Wettbewerbsverzerrungen könnte sie die Mitgliedstaaten mit Richtlinien zum Einlenken zwingen.
Doch wie beim Einsatz einer echten Atomwaffe wäre das Gelände danach verstrahlt. Die düpierten Staaten könnten auf anderen Gebieten - vor allem in denen mit Einstimmigkeitszwang, etwa der Außen- und Sicherheitspolitik - Rache üben und die EU lahmlegen.
Damit ähnelt die Lage unter den EU-Staaten dem Gleichgewicht des Schreckens aus dem Kalten Krieg: Die Drohung der gegenseitigen Vernichtung führt dazu, dass die Atomraketen in den Silos bleiben.
Der Einsatz von Artikel 116 sei unter den EU-Staaten schlicht nicht mehrheitsfähig, glaubt der Europaabgeordnete Giegold. "Nicht einer der Finanzminister hat jemals gesagt: Es geht nicht mehr." Auch Olaf Scholz nicht, der immerhin seit März 2018 dem deutschen Finanzressort vorsteht.
"Von ihm hätte ich mir eine härtere Gangart bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerwettbewerb gewünscht", sagt Giegold, einer der Grünenunterhändler in den Ampelkoalitionsverhandlungen. "Aber die Besteuerung von mobilem Kapital ist offenbar weder ihm noch anderen in der EU wichtig genug, um einen ernsthaften Konflikt einzugehen."
In der "Gruppe Verhaltenskodex" führe das dazu, sagt Giegold, "dass Probleme ungelöst bleiben, sobald sie ökonomisch relevant sind".
Quelle: spiegel.de