Wie Afghanistans Norden fiel - eine Reise über Straßen, die einst zu gefährlich waren

Reise zwischen Mazar-e Sharif, Shibergan und Kunduz
Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
NZZ / abb.

Andreas Babst (Text), Andy Spyra (Bilder), Mazar-e Sharif 20.09.2021, 11.30 Uhr

Die Taliban konnten den Norden Afghanistans in den 1990er Jahren nie erobern. Diesmal fiel er scheinbar einfach so. Was ist passiert?

In der Scheibe der Büchervitrine klafft ein Loch. Wenn Mohammad Ismail Rosekh hinter seinem Schreibtisch hockt, ist es direkt neben seinem Kopf. Das Seltsame an Einschusslöchern ist: Erst sieht man eines, und plötzlich sieht man sie alle, die kleinen Löcher übersähen die Bürowände, eines spaltet den Fernseher. "Wir haben hart für den Norden gekämpft", sagt Rosekh, auf seinem Tisch stehen die weiße Flagge des neuen Taliban-Emirats und eine Rose. Rosekh hat für dieses Büro gekämpft. Er ist der neu ernannte Gouverneur der Provinz Jowzjan, sein Büro liegt in der Hauptstadt Shibergan. "Drei Monate haben wir gebraucht, um diese Stadt zu erobern, sie fiel nicht einfach über Nacht", sagt Rosekh.

Es steckt ein bißchen Kränkung in dieser Antwort. Denn so schien es von außen: dass der Norden einfach zerbröselte, als die Taliban angriffen. Der Norden Afghanistans, der stets Widerstand leistete, wo sich in den neunziger Jahren die Nord-Allianz formierte und sich gegen die Taliban-Herrschaft wehrte. Die Nord-Allianz wurde später zur wichtigsten Verbündeten der Amerikaner, als diese in Afghanistan einmarschierten.

Am 6. August 2021 fiel Shibergan als eine der ersten Provinzhauptstädte im Norden. Heute kontrollieren die Taliban das ganze Land, Widerstand gibt es nur noch in einigen unwegsamen Gebieten im Panjshir-Tal. Es lohnt sich, Shibergan zu besuchen, wenn man wissen will, was diesmal anders ist. Wieso gelang den Taliban diesmal, was ihnen einst verwehrt blieb?

Menschen von hier

Vor einem Jahr bekam Rosekh den Auftrag, die Provinz Jowzjan zu erobern, der Taliban-Führung ging alles zu langsam vorwärts. Rosekh ist 47 Jahre alt, seit 24 Jahren bei den Taliban und seit Jahren ein Kommandant im Norden. Er ist Turkmene und stammt aus der Provinz Jowzjan. Damit ist bereits etwas Entscheidendes anders als in den neunziger Jahren.

Die Nord-Allianz war eine Zweckgemeinschaft aus Warlords verschiedener Stämme, Tadschiken, Hazara, und Shibergans berühmtestem Sohn: der usbekische General Rashid Dostom. Was sie einte, war der Kampf gegen die Eindringlinge: die paschtunischen Taliban aus dem Süden. "Diesmal waren es Menschen von hier, die unseren Jihad kämpften", sagt der Gouverneur Rosekh, "das hat sicher dazu beigetragen, dass der Norden fiel."

General Dostom war zwischen 2014 und 2020 Vizepräsident Afghanistans, er ist vor den Taliban in die Türkei geflüchtet und sendet Durchhalteparolen über Facebook. 2001 unterstützten ihn die Amerikaner bei der Rückeroberung der Provinzen im Norden, der Usbeke beging Grausamkeiten an den lokalen Paschtunen, er sperrte gegen 2000 Taliban-Kämpfer außerhalb von Shibergan in Schiffscontainer und ließ sie darin in der Wüste verenden. Zwanzig Jahre später betraute er seinen Sohn mit der Verteidigung seiner Heimatstadt.

In der Villa dieses Sohnes sitzt nun Abdul Nasser Zobair, 38, und eigentlich fläzt er sich eher. Der Weg zu ihm ins Schlafzimmer führt durch eine Eingangshalle mit zwei riesigen Kronleuchtern, im Schlafzimmer sitzen über zwanzig Taliban-Kämpfer auf dem dicken Teppichboden und Zobair auf dem Sofa. Die Kämpfer lauschen ihrem Kommandanten. Zobair sagt, er kommandiere 700 bis 800 von ihnen. Nachdem sie die Stadt eingenommen hatten, richteten sie sich im Haus von Dostoms Sohn ein. "Schauen Sie sich um: Wir haben nichts kaputtgemacht." Zobair ist Paschtune, er stammt aus einem Vorort von Shibergan. "Als die Stadt noch von der Regierung gehalten wurde und wir an der Stadtgrenze kämpften, brauchten wir Essen. Da erhielten wir auch Spenden aus der Stadt selbst", sagt er.

Es ist die Geschichte, wie sie viele Taliban erzählen: ihr Sieg ein Aufstand des Volkes gegen die Unterdrücker. Es gibt auch im Norden sehr viele Leute, die nicht unter den Taliban leben wollen, besonders die schiitische Minderheit fürchtet sich davor, was noch kommen mag. Die Taliban durchsuchen in der Nacht ihre Häuser. Aber es gab in den vergangenen zwanzig Jahren eben auch viele, die sich den Taliban anschlossen. Zobair sagt: "Wir waren müde hier von der Regierung in Kabul und von den Drohnenangriffen." Die Taliban wussten um die Ressentiments, das "Afghan Analyst Network" schreibt, die Taliban-Führung habe gezielt Kommandanten und Kämpfer im Norden rekrutiert.

Villen wie Torten

Die Straße nach Mazar-e Sharif führt durch die Wüste. Mazar ist die nördlichste Großstadt Afghanistans, etwas über eine Stunde von der usbekischen Grenze entfernt. Die Straße führt durch Dörfer aus Lehm, manchmal steht da eine riesige Villa in Knallfarben und Chrom, sie ragen wie Torten über die übrigen Häuser. Im alten Afghanistan sind ein paar wenige Menschen sehr reich geworden.

Man kann in diesem Herbst 2021 gar nicht anders, als durch die Geschichte zu stolpern. Am 17. September 2001 unterzeichnete der amerikanische Präsident George W. Bush einen Befehl, der die CIA mit weitreichenden Befugnissen in Afghanistan ausstattete. Kurz darauf landete das erste, zehnköpfige CIA-Team im Norden Afghanistans. Angeführt wurde es von einem Agenten, der extra aus dem Ruhestand zurückkehrte, weil er einer der Einzigen im Geheimdienst war, die die lokale Sprache Dari sprachen - die CIA hatte in den Jahren zuvor ihr Interesse an Afghanistan verloren. Nun startete sie die Operation Jawbreaker, Kieferbrecher, die CIA stattete die Warlords der Nord-Allianz mit Millionen von Dollar aus. Sie eroberten Mazar mithilfe der USA am 9. November 2001. Es war die erste grosse Stadt, die sie den Taliban entrissen.

Baba Shojai, 66, war einer der Mujahedin, die Mazar zurückeroberten. Er hat sein Gewehr schon lange aus der Hand gelegt, er wohnt in einem dieser riesigen Torten-Häuser am Rande der Stadt, seine Söhne haben es gebaut, sie machen Geschäfte mit Gas. "Einst war es so: Die Taliban kamen und haben die Menschen bestohlen, ihr Geld, ihr Auto. Diesmal scheint es, als wollten sie tatsächlich regieren in Mazar", sagt Shojai. Er hat erlebt, wie die Taliban die Stadt 1998 eroberten, sie erschossen Tausende und ließen die Leichen einfach auf der Straße verrotten. Nun hat er seine Stadt wieder an die Taliban verloren. "Ich bin vor allem enttäuscht von der Regierung", sagt er. "Damals haben wir gewonnen, weil wir geeint waren. Diesmal hatten die Taliban ihre Spione überall: bei der Armee, bei der Polizei."

Es ist eine Theorie, wie sie mehrere Leute im Norden verbreiten: Der Fall des Nordens war ein geheimer Plan, ausgeheckt in Kabul. Sie sagen, Ashraf Ghani habe den Taliban den Norden übergeben wollen. Ghani, der geflüchtete Präsident der Republik, ist Paschtune.

Dass der Norden so schnell fiel, am 6. August Shibergan, am 14. August bereits Mazar - es hat wohl eher mit den demoralisierten Sicherheitskräften zu tun. Sie hätten einfach aufgegeben, sagen mehrere Taliban im Norden. Wochenlang hatten sie ihnen eine Amnestie versprochen, wenn sie die Waffen niederlegen. Sie hätten Soldaten manchmal einfach angerufen, erzählt ein Taliban, und am Telefon erklärt, sie sollten doch besser aufgeben.

Viele der Soldaten stammten selber nicht aus den Provinzen, in denen sie stationiert waren. Ein ehemaliger Soldat, der die nördliche Stadt Kunduz verteidigen sollte, erzählt, er habe seit drei Monaten keinen Sold mehr erhalten. Schon bevor die Taliban angriffen, fehlte das Geld. Jetzt habe er gar nichts mehr, was er denn jetzt tun solle?

Anders die Taliban. "Wir sind alle von hier, wir lassen keine Außenseiter hierher", sagt Hoffez Omar, 18-jährig, er bewacht die Blaue Moschee, die Taliban patrouillieren in der Abendsonne um das berühmte Gebäude. Die Moschee ist das Herz von Mazar und der Provinz Balkh. Omar und seine Kollegen stammen von dort, Mazar ist auch ihre Hauptstadt.

Anders auch die Milizen. General Dostom und andere Warlords haben sie in den vergangenen Monaten noch einmal um sich geschart. Aber ihr Widerstand schmolz schnell, einer, der Shibergan verteidigen sollte, erzählt: "Drei Monate haben wir gekämpft, um unsere Familien zu verteidigen. Aber dann hatten wir keine Munition mehr, kein Essen, die Armee gab uns beides nicht." Als die Armee sich am 6. August zurückzog und die Taliban in die Stadt einmarschierten, gab er seine Kalaschnikow beim lokalen Kommandanten ab und schaffte seine Familie nach Mazar.

Gelangweilt am Checkpoint

Die Straße nach Kunduz windet sich durch die Berge, sie schimmern grün, rot und gelb und sehen aus wie riesige Dünen, so groß und doch so leicht, als könnte sie ein Windstoß einfach wegblasen. In ihren Tälern wachsen die wohl süßesten Feigen. Der Norden war schon immer wunderschön. Aber seine Straßen waren bis vor wenigen Wochen zu gefährlich zum Bereisen. In den Bergen belagerten sich Regierungstruppen und Taliban.

Jetzt passiert man ab und an einen Taliban-Checkpoint, meist stehen da gelangweilte, manchmal freundliche, selten ernste junge Männer mit Gewehren und winken uns durch. Auf ihren M16-Sturmgewehren ist noch immer eingraviert: "Property of the U.S. Government".

Kunduz ist eine Art Taliban-Labor. 2015 war es die erste Provinzhauptstadt, die die Aufständischen zurückeroberten, am 28. September war es. Die Nato hatte im Jahr davor offiziell den Kampfeinsatz beendet, die afghanische Armee sollte von da an offiziell auf sich allein gestellt sein. In Kunduz zeigte sich zum ersten Mal, was das bedeutete: Die Taliban stürmten die Stadt, laut einem UNO-Bericht kamen bei den Kämpfen 289 Zivilisten ums Leben, 559 wurden verwundet. Die Taliban verloren Kunduz nach wenigen Tagen wieder, aber es war eine erste Warnung, eine Machtdemonstration auch. 2021 sind sie zurück.

Der Arzt Mohammad Naeem Mangal stößt die Türe zu einem Patientenzimmer auf: "Hier war früher alles voll. Nun liegt hier niemand mehr." Auf dieser Station im Kunduz Regional Hospital wurden Opfer des Krieges behandelt. Mangal leitete das Spital schon 2015, er will nicht sagen, wie viele Menschen damals in seinem Spital lagen, die Taliban begleiten die Führung. 2021 aber, das sagt er gerne: Fast niemand.

Ein Taliban-Sprecher in Kunduz erklärt, sie hätten die Menschen in der Stadt gewarnt, bevor sie einmarschierten. Er behauptet, es habe keine Übergriffe von Taliban-Kämpfern gegeben. Es ist nicht mehr 2015. "Natürlich haben unsere Ältesten aus der Vergangenheit gelernt", sagt er.

Humanitäre Katastrophe droht

Der Verantwortliche für die Spitäler in Kunduz heißt Qari Safiullah, ein junger Talib, der sich in Pakistan, in Peshawar, zum Krankenpfleger ausbilden ließ. Er erzählt, dass das Spital offen bleiben soll, aber der Gesundheitssektor ist nicht der einzige in Kunduz, in dem eine humanitäre Katastrophe droht. "Es herrscht Dürre", sagt Safiullah, "zu lange hat es nicht mehr geregnet. Es gibt rund um Kunduz viele Reisfelder, die kaum Wasser bekommen haben." Die Taliban hätten angefangen, Spenden zu sammeln in der Stadt, um den Hunger zu lindern. Es scheint der vorerst einzige Plan zu sein, um die Not zu bekämpfen.

Im Jahr 2001 warnte das Welternährungsprogramm der UNO, dass in Afghanistan Zustände wie in einer Hungersnot herrschten, das Land leide unter einer Dürre. Man kann in diesem Herbst 2021 gar nicht anders, als durch die Geschichte zu stolpern.

Die Taliban haben den Norden erobert. Aber was kommt jetzt?

Im Kunduz Regional Hospital steht ein Röntgengerät, die Amerikaner haben es 2015 gespendet, es ist noch immer nicht in Betrieb. Es gibt keinen Techniker, der es installieren könnte. Auch die Taliban konnten es bisher nicht in Betrieb nehmen. Vielleicht haben sie tatsächlich aus der Geschichte gelernt. Doch selbst wenn sie sich diesmal um den Norden kümmern wollten - ihnen fehlen dazu die Mittel.

Der Arzt Mangal sagt, im Spital neigten sich die Medikamentenvorräte dem Ende zu. Rund 100 Patienten kommen jeden Tag, auch ohne Krieg, es sind Opfer des täglichen Lebens: Verkehrsunfälle, Stürze. Mangal sagt, ohne Hilfe aus dem Ausland funktioniere sein Spital noch drei Monate lang.


Quelle: NZZ vom 20.09.2021