NZZ Deutschland
Berlin 22.11.2024, 05.30 Uhr 5 min
Rafiq Maqbool / AP
Nein, Habeck hat hehre Ziele - er möchte gemäss seinen eigenen Worten "das Feld nicht den Schreihälsen und Populisten überlassen". Es ist eine Formulierung, die man in Variationen häufig von den Grünen, aber auch von der SPD hört. Sie folgt der Logik, dass auf der einen Seite die Schreihälse und Populisten seien, auf der anderen wir, die Guten. "Politischen Vandalismus" wirft zum Beispiel die SPD-Vorsitzende Saskia Esken dem Spitzenkandidaten der CDU, Friedrich Merz, vor. Und auch ihr wichtigster Genosse, Kanzler Olaf Scholz, hält regelmässig Reden, in denen er vor "Wettbewerb mit Populisten" warnt oder, wie erst vergangene Woche, erklärt, dass "Populisten spalten wollen". Seine Partei hingegen stehe für Zusammenhalt.
Der Trick bleibt nicht nur linken Parteien vorbehalten. Auch die FDP nutzt den Begriff, um den politischen Gegner zu charakterisieren und sich damit zwischen den Zeilen über ihn zu erheben: "Der Schuldenpopulismus von SPD und Grünen wird immer unerträglicher", sagte zum Beispiel Generalsekretär Bijan Djir-Sarai vor wenigen Monaten über die damaligen Partner seiner Partei in der Ampelregierung.
Es ist richtig, dass übermässig populistische Politiker der Demokratie schaden können. Im Jahr 2024 ist klar, welche Assoziationen derjenige, der den Vorwurf erhebt, wecken möchte: Orban, Trump, Le Pen . . . Die Konnotation, vielleicht sogar eine in Richtung echter, historischer Diktaturen, ist gewollt in einer Zeit, in der die grossen Fragen wieder verhandelt werden: Wie stabil ist die Demokratie, wie weit lässt man Extremisten und Radikale in die Parlamente?
Der zunehmend reflexhafte Ruf vieler Politiker, den Kampf gegen Populisten zu ihrem Ziel zu erklären und auf diese Art auch Wählerstimmen gewinnen zu wollen, ist dementsprechend taktisch nachvollziehbar. Die Frage ist nur - wer sind die Populisten und die Schreihälse eigentlich?
Wenn Habeck ihnen "das Feld" nicht überlassen möchte, könnte er mit ein paar der lautesten anfangen. Das wäre seine eigene Parteijugend.
Jette Nietzard und Jakob Blasel - die neuen Vorsitzenden der Grünen Jugend - warfen vor wenigen Tagen als nahezu erste Amtshandlung kurzerhand dem CDU-Chef Merz "Rassismus" vor. Der Vorwurf ist nichts anderes als die Aushöhlung eines Begriffs, der eigentlich systematische Diskriminierung basierend auf biologischen Massnahmen beschreibt; also eine grauenhafte Denk- und Verhaltensweise, die hart zu bekämpfen ist.
Für die Grüne Jugend offenbar nicht mehr als ein möglichst harter Vorwurf, den man einigermassen gedankenlos dem demokratischen Herausforderer an den Kopf wirft. Obendrein entwertet es den wichtigen Begriff "Rassismus", wenn Merz so betitelt wird. Merz hat sich nie rassistisch geäussert. Ist er ein Rassist, ist jeder ein Rassist. Ist das nicht eine Gefahr, die mit populistischer Taktik einhergeht - dass die Massstäbe verrutschen?
Im Stil etwas zurückgenommener, aber kaum weniger populistisch ist Katharina Dröge unterwegs, Fraktionschefin der Grünen. Im "Handelsblatt" erklärt sie, Merz wolle "die komplette Klimapolitik abwickeln". Auf Seite vier im Grundsatzprogramm der CDU, das unter Merz entwickelt wurde, steht wörtlich: "Wir richten unser politisches Handeln an den in Paris vereinbarten Klimazielen aus." Das ficht Frau Dröge nicht an. Ein weiterer Fall für Habecks potenziellen noblen Einsatz, nicht auf X, sondern in der eigenen Partei: Wie war das mit den Schreihälsen?
Auch die FDP kann im Kampf gegen Populismus bei sich selber anfangen. Das gilt nicht zuletzt für den Parteivorsitzenden Christian Lindner. Laut einem Bericht der "Zeit" hat Lindner das Aus der Regierung provoziert, in einer Art und Weise, die sowohl im Umgang mit den Koalitionspartnern wie auch in der Sprache an populistische Taktik erinnert.
Dass Lindner die "Ampel" nicht mehr wollte, ist verständlich. Fragwürdig ist aber, dass er in der Öffentlichkeit "Spielereien" verdammte und sich staatsmännisch gab, während er heimlich seit Wochen selbst Spielereien betrieb. Er könne "diese Fressen" nicht mehr sehen, soll der Vorsitzende hinter geschlossenen Türen gesagt haben.
Lindner ist unter Druck. Er hat seine Partei vor Jahren hochgepäppelt, um jetzt die Fünf-Prozent-Hürde von unten zu bekämpfen. Das Ende der Regierung soll er unter dem Begriff "D-Day" geplant haben. Der Begriff beschreibt in Deutschland historisch vor allem die Landung der Alliierten in der Normandie, also den Anfang vom Ende des Hitler-Regimes.
Wenn hingegen der Kanzler mit ernsten Worten im Bundestag beklagt, dass Populisten spalten, könnte er von der Rednerbühne aus künftig den Blick ein wenig heben und einen schleswig-holsteinischen Genossen, den SPD-Bundestagsabgeordneten Bengt Bergt, ins Visier nehmen. Bergt hatte vor ein paar Tagen ein vollständig gefälschtes Video von Merz verbreitet.
In dem Filmchen werden Merz Sätze in den Mund gelegt wie "Wir verachten die Demokratie". Verwendet wurde die Deep-Fake-Technologie, also exakt jene Technik, vor der seit Jahren gewarnt wird, da sie Realität und Lüge unmöglich zu unterscheiden mache und damit eine substanzielle Gefahr für die Demokratie darstelle. Bergt hat mittlerweile um Entschuldigung gebeten, nachdem er das Video zunächst verteidigt hatte.
Auch wenn Friedrich Merz als derzeit klar führender Kandidat im Wahlkampf oft das Opfer populistischer Angriffe ist, ist seine eigene Union nicht dagegen gefeit, sich populistische Taktiken zu eigen zu machen. Die Liste der Beispiele ist schier endlos. Bayerns christlichsozialer Ministerpräsident Markus Söder hat nicht nur die Lautstärke nahezu immer voll aufgedreht, er ist auch der Politiker, der am schnellsten das Gegenteil dessen behauptet, was er vor Tagen oder Wochen noch als einzige Wahrheit präsentierte. Vor kurzem feierte der bayrische Landeschef sich selbst für die hohen Summen, die in Bayern als Familiengeld an Bedürftige gehen, während die Sozialleistung hinter den Kulissen gleichzeitig radikal gekürzt wurde.
So unterschiedlich die Beispiele sind - eines haben sie alle gemeinsam: Sie zeigen, wie alltäglich Taktiken sind, die allgemein als undemokratisch und populistisch beschrieben und verdammt werden. Und zwar von denen, die sie einsetzen. Fake News, Lügen am Kabinettstisch zum eigenen Vorteil, das eine tun, das andere machen sowie radikal überzogene Vorwürfe an den politischen Gegner gehören in diesem Wahlkampf dazu. Wir leben längst im Populismus, und hoffähig gemacht haben ihn nicht alleine die AfD und die Linke.