FOCUS-Online-Autor Rainer Zitelmann
Dienstag, 14.12.2021, 14:35
Seit einiger Zeit vertritt Sahra Wagenknecht die These, dass die von ihr kritisierten Grünen und "Linksliberalen" (der Begriff ist freilich irreführend) das Primat des Sozialen und der ökonomischen Umgestaltung zugunsten sogenannter "Identitätspolitik" aufgegeben hätten. Konkret meint Wagenknecht, dass ein akademisch-bürgerliches Milieu, das bei den Grünen, der SPD - aber auch in ihrer eigenen Partei - den Ton angibt, den Akzent weniger auf Themen "sozialer Ungleichheit" lege und sich vorwiegend mit den Rechten und Belangen von allen möglichen Minderheiten beschäftige.
Ich nenne das Wagenknechts "Deal"-These, wonach der Verzicht auf radikale antikapitalistische Änderungen erkauft wird mit identitätspolitisch motivierten Reformen.
In ihrem Buch "Die Selbstgerechten" kritisierte sie, dass Linksgrüne "das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein".
Diese Kritik wird nicht nur von Wagenknecht vorgetragen, sondern auch in den USA von linken Kritikern der Demokraten. Die Demokraten hätten den Blick für die sozialen Interessen der Arbeiterschaft und für ökonomische Fragen verloren und sich stattdessen fast ausschließlich auf "kulturelle" Themen und Minderheitenbelange konzentriert. Wagenknecht sieht darin letztlich eine geschickte Strategie, die zur Zementierung des Kapitalismus führe. Die von ihr kritisierten Linksgrünen drückten sich vor den eigentlich harten Konflikten mit den wirtschaftlich Mächtigen, denn: "Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögensteuer für die oberen Zehntausend einzuführen, ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor, als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten", schreibt sie in den "Selbstgerechten".
Durch den Koalitionsvertrag kann sich Wagenknecht bestätigt fühlen. Denn bei den wichtigen ökonomischen Themen hat sich die FDP durchgesetzt: Es gibt keine Erhöhung der Einkommensteuer, keine Vermögensteuer, keine Vermögensabgabe, keine Erhöhung der Erbschaftssteuer, es gibt auch keinen bundesweiten Mietendeckel usw. Die FDP hat den Verzicht auf die genannten Steuererhöhungen durchgesetzt, ebenso wie sie sich beim Thema Mietrecht - mit einigen kleineren Kompromissen - im Wesentlichen durchgesetzt hat.
Dafür enthält der Koalitionsvertrag jedoch zahlreiche Anliegen der Identitätspolitik.
Die Ampel möchte die Rechte "queerer" Personen stärken. Stark betont werden Anliegen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, "trans- und intergeschlechtlichen Menschen" usw. Die neue Regierung will beispielsweise einen "Gender-Aktionsplan" erarbeiten. Konkret soll das Transsexuellengesetz ersetzt werden, es regelte seit 1980 unter anderem, wie Transsexuelle ihren Vornamen ändern können. Die neue Regierung strebt ein sogenanntes Selbstbestimmungsgesetz an. Kosten für geschlechtsangleichende Operationen sollen künftig in Gänze von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Und: Änderungen des Geschlechtseintrags sollen "grundsätzlich per Selbstauskunft" möglich sein, also ohne medizinisches Fachurteil.
Bei diesen Themen gab es teilweise Schnittmengen mit der FDP und teilweise war es so, dass diese Themen der Parteiführung einfach weniger wichtig waren. Es fiel Christian Lindner und Marco Buschmann sicherlich leichter, dem Wunsch der Grünen folgend im Koalitionsvertrag festzuschreiben, dass Deutschland künftig einer "Feminist Foreign Policy" folgen solle, als beispielsweise einer Vermögensabgabe zuzustimmen.
Man kann vermuten, dass es den meisten Unternehmern egal ist, ob Annalena Baerbock eine "feministische Außenpolitik" betreibt, aber nicht egal ist, ob die Steuern erhöht werden. Und den meisten Vermietern ist es sicherlich weniger wichtig, welche rechtlichen Bestimmungen über Änderungen des Geschlechtereintrags vorgesehen sind als beispielsweise, auf wie viele Jahre der Betrachtungszeitraum des Mietpreispiegels ausgedehnt wird (die Grünen hatten eine Ausweitung von 6 auf 20 Jahre gefordert, im Koalitionsvertrag hat man sich auf 7 Jahre geeinigt).
Um es klar zu sagen: Es ist gut, dass all die "sozialen" und wirtschaftlichen Änderungen, die sich Sahra Wagenknecht oder Kevin Kühnert wünschen - und die bei einer Rot-Rot-Grünen Regierung garantiert umgesetzt worden wären - nicht kommen, weil die FDP das Schlimmste verhindert hat. Aber die Diagnose von Wagenknecht, die einen Verzicht auf soziale Änderungen gegen identitätspolitische Zugeständnisse sieht, ist durchaus richtig.
Denn jenseits des für Scholz wichtigen Symbolthemas Mindestlohn konnten Sozialdemokraten und Grüne nicht allzu viele sozial- und wirtschaftspolitische Forderungen durchsetzen. Das ist am Widerstand der FDP gescheitert. Dafür haben sie sich die beiden linken Parteien bei identitätspolitischen Themen durchgesetzt, was zwar durchaus nicht allen FDP-Wählern gefallen wird, aber viele pragmatisch als den zu bezahlenden Preis für den Verzicht auf Steuererhöhungen und Mietrechtsänderungen hinnehmen werden.
Anders sieht es bei der Migrationspolitik aus. Hier sind die FDP-Wähler zwar durchaus für das kanadische Punkte-System, das qualifizierte Zuwanderung erleichtert, aber ansonsten sind sie - ganz im Gegensatz zu den Grünen - gegen eine Zuwanderung in die Sozialsysteme und für eine restriktive Asylpolitik und konsequente Abschiebungen, wie zahlreiche Umfragen belegen. Wer sich in der Migrationspolitik durchsetzt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Sollte die FDP hier den Grünen entgegenkommen, würde das viele ihrer Wähler verschrecken.
Quelle: focus.de vom 14.12.2021