FOCUS-Autor Jan-Philipp Hein
Samstag, 24.09.2022, 16:19
Vor wenigen Tagen, auf dem Leipziger Augustusplatz, heizte der bekannte Rechtsextremist Jürgen Elsässer einigen Hundert Leuten der "Freien Sachsen" mit folgenden Worten ein: "Jetzt rufen wir alle mal, damit denen da drüben die Ohren klingeln: Sahra! Sahra! Sahra!" Mit "die da drüben" war die wenige Meter entfernt demonstrierende Linkspartei gemeint, mit "Sahra" deren umstrittenstes Mitglied: die Bundestagsabgeordnete Wagenknecht, 53 Jahre alt, einst Stalinistin und heute für ihre Kritiker kaum erträgliche Putin-Propagandistin.
Die Linken hatten Wagenknecht von ihrer Demonstration an diesem Abend ausgeladen. Wenige Tage später aber trug sie ihre Sichtweisen im Bundestag vor:
Inzwischen steht ihre Partei am Rande der Spaltung. Es kam zu prominenten Austritten und einem Antrag in der Fraktion, solche Auftritte zu verbieten. Am vergangenen Dienstag entschärfte man die Krise mit einem Kompromiss: Redner hätten künftig die Parteilinie zu vertreten.
Sahra Wagenknecht aber polarisiert weiter. Sie liebt die Attacke, ist eine Hochleistungssportlerin im politischen Nahkampf. Auf jede Frage reagiert sie schnell, hart und am liebsten mit einer bewusst gesetzten Provokation. Geht es um Kriegsverbrechen der Russen, verweist sie stets auf Verbrechen der Ukrainer und nimmt damit - willentlich? - in Kauf, die Massengräber von Butscha und so vieler anderer ukrainischer Orte zu relativieren. Dieses Interview führte sie aus dem Saarland, wo sie mit Ehemann Oskar Lafontaine in einer Villa lebt. Seit sie alle Ämter bei der Linken aufgab, eilt sie als loose cannon durch die Talkshows der Republik. Es scheint, als sei dies ihre liebste Rolle.
FOCUS: Frau Wagenknecht, warum zerstören Sie Ihre Partei?
Sahra Wagenknecht: Wie bitte? Ich habe selten auf eine Bundestagsrede so viele zustimmende Rückmeldungen aus der Bevölkerung bekommen wie diesmal. Eine Partei braucht Wähler.
Die Rede zeigt, dass Sie Spaß am Zündeln haben. Sie hat Austritte ausgelöst.
Wagenknecht: Eine Oppositionspartei hat die Aufgabe, die Regierung anzugreifen, wenn sie katastrophale Fehler macht. Jeder sieht doch inzwischen, dass die Sanktionspolitik uns ungleich mehr schadet als Russland.
Der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, will nicht mehr mit Ihnen zusammen in einer Partei sein.
Wagenknecht: Gerade die Menschen, die der Verband von Herrn Schneider vertritt, leiden am schlimmsten unter der Explosion der Energiekosten. Weshalb er ein Problem damit hat, dass ich die Wirtschaftssanktionen kritisiere und mich für diese Menschen einsetze, erschließt sich mir nicht.
Vielleicht weil auch er - wie viele andere - die Sanktionen richtig findet?
Wagenknecht: Gerade Menschen mit wenig Geld sind aktuell oft am Verzweifeln. Selbst viele Familien aus der Mittelschicht können die extremen Energiekosten nicht stemmen. Unternehmen stehen vor der Pleite. Wir helfen der Ukraine doch nicht, indem wir unsere Wirtschaft zerstören.
Geht es Ihnen denn überhaupt um die Ukraine?
Wagenknecht: Es ist vor allem unsere Verantwortung, die Menschen zu vertreten, die jetzt Angst vor dem sozialen Absturz haben. Die um ihr Lebenswerk fürchten. Ich habe eine Mail von einem Bäckermeister bekommen, der vor dem Aus steht. Die Interessen dieser Menschen müssen wir vertreten. Oder sollen wir das der AfD überlassen?
Sie buhlen also um die Wähler am rechten Rand?
Wagenknecht: Bäckermeister, Mittelschichtfamilien, unser industrieller Mittelstand, ist das für Sie "rechter Rand"?
Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass Historiker und die gesamte westliche Wertegemeinschaft die Sanktionen als Reaktion auf die größte sicherheitspolitische Bedrohung des Kontinents für richtig halten?
Wagenknecht: Das russische Militär scheint auf konventioneller Ebene nicht in der Verfassung, die Nato ernsthaft bedrohen zu können. Und wir müssen doch sehen, dass die Sanktionspolitik wegen der extrem gestiegenen Preise Putins Kriegskasse füllt, statt ihm zu schaden. Gazprom hat im ersten Halbjahr 2022 mehr verdient als im ganzen letzten Jahr.
Wir zerstören unsere Wirtschaft. Was ist das für eine dumme Politik! Es ist sicher sinnvoll, die russischen Oligarchen aus Putins Umfeld zu sanktionieren, auch wenn ich nicht glaube, dass wir dadurch den Krieg beenden. Aber die Wirtschaftssanktionen schlagen auf uns zurück. Russland ist unser wichtigster Energielieferant, und ohne bezahlbare Energie hat Deutschland als Industriestandort keine Zukunft. Ersatz ist nirgends in Sicht.
Wir bestrafen nicht Putin, wir ruinieren den Wohlstand in Deutschland, wenn wir so weitermachen.
Auch Sie haben verkannt, dass Energie zur Waffe werden würde. Jetzt müssten Sie doch sehen, dass nichts wieder werden kann, wie es war.
Wagenknecht: Ein Wirtschaftskrieg wird nie nur von einer Seite geführt. 50 Jahre hat Russland zuverlässig geliefert. Das gilt immer noch für die Länder, die sich an den Sanktionen nicht beteiligen. Dass die großen Sanktionspakete der EU nicht ohne Antwort bleiben würden, hätte man vorhersehen müssen.
Sahra Wagenknecht spricht in der Debatte zum Etat Wirtschaft und Klimaschutz.
Geliefert hat zunächst einmal die Sowjetunion. Und Russland hat Gas durchaus als Waffe benutzt - etwa gegen die Ukraine.
Wagenknecht: Ich rede von den Lieferungen an die westlichen Länder. Da wurde Russland erst vertragsbrüchig, nachdem wir Verträge gebrochen haben.
Was heißt das nun aus Ihrer Sicht: einfach weiter russisches Gas beziehen?
Wagenknecht: Nein, wir brauchen dringend Verhandlungen und einen Friedensplan, um das Sterben zu beenden. Dafür sollte sich die deutsche Regierung einsetzen.
Aber Friedensverhandlungen sind doch vollkommen außer Reichweite! Und die Sanktionen wirken. Die russische Armee muss in Nordkorea Munition kaufen, in der russischen Autoindustrie fehlen Ersatzteile wie Airbags.
Wagenknecht: Es liegt doch nicht an den Sanktionen, dass die russische Armee so schlecht ausgestattet ist. Der russische Militäretat lag in den letzten Jahren bei 60 Milliarden Dollar - bei einem der größten Atomarsenale der Welt! Da kann man sich ausrechnen, was für die konventionellen Streitkräfte übrig blieb. Zum Vergleich: Die USA geben im Jahr 800 Mrd. Dollar für Rüstung aus. Klar, die Airbags haben was mit den Sanktionen zu tun. Aber sind Ladas ohne Airbags den Preis wert, dass wir Tausende mittelständische Unternehmen bei uns kaputtmachen? Panzer jedenfalls brauchen keinen Airbag.
60 Mrd. Dollar sind in Russland etwas anderes als in Amerika. Aber das sind Nebengefechte. Frau Wagenknecht, wir sehen gerade Bilder von Massengräbern in der Ukraine, Hinweise auf schwerste Kriegsverbrechen der russischen Armee - das lässt Sie kalt?
Wagenknecht: Das ist grauenhaft. Deswegen muss alles getan werden, den Krieg zu beenden. Und das geht nur auf dem Verhandlungsweg und durch Kompromissbereitschaft.
Die kann doch nur von Putin kommen!
Wagenknecht: Sie muss immer von beiden Seiten kommen. Solange Selenskyj verkündet, dass er nicht verhandeln wird, bevor der letzte Russe die Krim verlassen hat, kommen wir nicht weiter. Kriegsverbrechen gibt es leider in nahezu allen Kriegen. Und sie werden, worauf die UN-Menschenrechtsbeauftragte verwiesen hat, auch im Ukraine-Krieg von beiden Seiten begangen.
Es steht kein ukrainischer Soldat in Russland.
Wagenknecht: Das relativiert Kriegsverbrechen auf ukrainischer Seite nicht.
Behaupten Sie, die Verbrechen passieren im gleichen Umfang?
Wagenknecht: Das Entscheidende ist doch: Jeden Tag sterben Menschen, es leiden Frauen und Kinder. Dieses Grauen muss beendet werden, statt es durch Waffenlieferungen endlos zu verlängern. Keine Seite kann diesen Krieg militärisch gewinnen. Also braucht es Druck, sich an einen Tisch zu setzen, um eine Friedenslösung zu finden.
Finden Sie es auch legitim, Druck auf das Opfer auszuüben?
Wagenknecht: Selenskyjs Kriegsziele mögen moralisch gerechtfertigt sein, aber sie sind leider unrealistisch. Und wir sind mit Waffenlieferungen und Zahlungen längst Teil des Kriegs. Also haben wir auch eine Mitverantwortung. Wo soll denn das hinführen, wenn wir endlos Waffen liefern? Glaubt irgendjemand, dass die Atommacht Russland sich irgendwann einfach so zurückzieht, auch von der Krim, wo seit Jahrzehnten ihre Schwarzmeerflotte stationiert ist?
Wir sehen ja gerade in den vergangenen Wochen, dass die Ukraine durchaus in der Lage ist, den Aggressor zurückzudrängen.
Wagenknecht: Dass es immer wieder Frontverschiebungen gibt und mit westlicher Technologie und amerikanischer Aufklärung so etwas gelingt, ja. Aber die Russen haben nach Meinung vieler Militärs immer noch ein enormes Eskalationspotenzial. Und wir sehen, dass sich die russische Kriegsführung ändert und vermehrt zivile Infrastruktur angegriffen wird. Auch von einer drohenden Generalmobilmachung in Russland ist die Rede. Die personellen und militärischen Kapazitäten auf russischer Seite sind unverändert sehr groß. Je mehr Putin unter Druck steht, desto brutaler wird er vorgehen und desto mehr Menschen werden sterben.
Es hat nur zu einer Teilmobilmachung gereicht, und die Ukrainer möchten nun mal nie wieder von Moskau beherrscht werden. Gilt es nicht, das zu respektieren?
Wagenknecht: Eine Verhandlungslösung wird ja auch nicht darin bestehen, dass die Ukraine zu einer russischen Teilrepublik wird. Es geht um die Neutralität des Landes, um Autonomierechte für den Donbass. Ich bekomme Mails von Ukrainerinnen in Deutschland, die Angst um ihre Männer haben. Sie wünschen sich nichts sehnlicher als Frieden.
Sie würden trotz der brutalen Besatzung Russland Territorien überlassen?
Wagenknecht: Soll das Morden endlos weitergehen? Man muss erst mal einen Waffenstillstand erreichen und dann verhandeln. Am besten wäre es, die Menschen auf der Krim und im Donbass später in einem international beaufsichtigten Referendum zu fragen, wo sie ihre Zukunft sehen.
Diese sogenannten Referenden werden international nicht anerkannt. Die Ukraine hat zudem oft die Erfahrung gemacht, dass Vereinbarungen mit Russland nicht halten.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Einladungen zu Gipfeln von G7 und Nato angenommen.
Wagenknecht: Nicht nur die Russen brechen Verträge.
Die gab es auch schon beim Budapester Memorandum 1994. Hat der Ukraine nichts gebracht. Stellen Sie sich vor, Außenministerin zu sein. Wie würden Sie Ihren Kurs den Polen, den Balten, den Ukrainern erklären?
Wagenknecht: Die Polen haben doch ähnliche Probleme wie wir. Sie haben Anfang des Jahres verkündet, kein Gas mehr aus Russland zu kaufen und auf Lieferungen aus Norwegen gesetzt. Aber bis jetzt gibt es dafür keine Verträge. Dass die polnischen Gasspeicher trotzdem relativ voll sind, verdanken sie uns. Wir haben im Frühjahr große Mengen Gas nach Polen gepumpt - russisches Gas, als es noch relativ preiswert bei uns ankam.
War das falsch? Stehen Sie für Germany First?
Wagenknecht: Es wäre für die Menschen hier natürlich besser, wenn wir das preiswerte Gas in unseren Speichern hätten und nicht das extrem teure, das jetzt gekauft wird. Dann würden die Rechnungen nicht so explodieren. Wie übrigens angesichts unserer Geschichte eine deutsche Außenministerin das Ziel formulieren kann, Russland zu ruinieren, macht mich sprachlos.
Die Wehrmacht hat die Sowjetunion überfallen, zu der die Ukraine gehörte. Man kann doch nicht die deutsche Geschichte heranziehen, um eine besondere Verantwortung nur gegenüber Russland zu begründen?
Wagenknecht: Nicht nur gegenüber Russland, aber natürlich auch. Und man kann es durchaus befremdlich finden, dass die Helden der heutigen Ukraine Leute wie Stepan Bandera sind, die mit den Nazis kooperiert haben und für Massaker an Russen, Polen und Juden verantwortlich waren.
In Kiew sitzen weniger Rechtsextreme im Parlament als in Berlin. Frau Wagenknecht, Sie sehen doch, dass viele, gerade auch in Ihrer Partei, Ihrem radikalen Kurs nicht folgen. Wenn es zu Austritten aus der Fraktion käme, wäre der Fraktionsstatus dahin. Ist Ihnen das egal?
Wagenknecht: Es gibt bisher keinen Austritt aus der Fraktion. Und die Zustimmung zu meiner Politik ist auch innerhalb der Linken sehr groß.
Sie wollen weiter mit und in dieser Partei linke Politik in Deutschland machen?
Wagenknecht: Ich bin Mitglied der Linken. Sollte sich daran etwas ändern, werden Sie es rechtzeitig erfahren.
Der Frankfurter Soziologe Stephan Lessenich wirft Ihnen vor, die nationalsoziale Karte zu spielen.
Wagenknecht: Unter den westlichen Ländern ist Deutschland am meisten von den wirtschaftlichen Verwerfungen betroffen. Kann ja sein, dass ein Professor mit seinem Gehalt das alles problemlos stemmen kann - Abgeordnete und Minister auch. Aber Menschen mit normalen Einkommen sehen kein Land mehr.
Es scheint, als sei Ihnen egal, woher der Applaus kommt. Ist es Ihnen nicht einmal unangenehm, wenn der Rechtsextremist Jürgen Elsässer sie ausdrücklich lobt?
Wagenknecht: Ich kann mich nicht dagegen wehren, dass mich auch Leute loben, die ich unerträglich finde. Aber wenn die AfD sagt, der Himmel ist blau, werde ich noch lange nicht behaupten, er sei grün, nur damit ich keinen Beifall "von der falschen Seite" bekomme. Damit würde ich sie ja zum Richter über meine Positionen machen.
Sind Sie wütender als früher?
Wagenknecht: