Von
Laura Meyer, Serafin Reiber, Marco Schulz, und Mascha Wolf
29.04.2022, 12.47 Uhr o aus DER SPIEGEL 18/2022
Seine erste Erfahrung mit dem Militär machte Anton Hofreiter im Jahr 1990. Es war keine gute. Hofreiter musste zur Musterung.
Sein linkes Bein ist vier Zentimeter länger als sein rechtes, wenn er mit geschlossenen Beinen dasteht, muss er aufpassen, dass er nicht umkippt. Bei der Musterung traute der Arzt seinen Augen nicht. "Untauglich" lautete das Urteil, die Bundeswehr hatte keine Verwendung für Hofreiter. Die Truppe hat er nie von innen gesehen.
Und wenn er tauglich gewesen wäre? Hätte er vermutlich verweigert, sagt Hofreiter.
Das war damals. Heute würde die Entscheidung womöglich anders ausfallen, jedenfalls drängt der Grünen-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Fraktionschef die Regierung derzeit so laut und entschieden wie sonst kaum jemand dazu, mehr und schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern. Hofreiter treibt gemeinsam mit seiner FDP-Kollegin Marie-Agnes Strack-Zimmermann den Bundeskanzler vor sich her, setzt ihn unter Druck, nervt mit Vorstößen, und es könnte nicht zuletzt an ihm gelegen haben, dass Scholz in dieser Woche nach längerem Zögern entschied, der Ukraine Flakpanzer vom Typ Gepard zu liefern. Panzer, jetzt also doch.
"Da bewegt sich was in die richtige Richtung", sagt Hofreiter am Mittwochvormittag. Er wirkt ziemlich zufrieden, mit sich, mit der Lage. Sofern man zufrieden sein kann, während ein paar Hundert Kilometer weiter östlich der Krieg wütet.
Mit seinen langen Haaren wirkte Hofreiter für meisten Deutschen bislang wie der Inbegriff eines verspäteten Hippies, man hätte ihn problemlos in eines der Bilder aus den Achtzigern montieren können: die ersten Abgeordneten der Grünen im Bundestag, die Männer fast alle mit langen Haaren. Allerdings trägt Hofreiter im Parlament keine Wollpullover, sondern Anzüge, ansonsten passt er ins Klischee des Vollblut-Ökos.
Annalena Baerbock hat einmal gesagt, sie komme "vom Völkerrecht", Hofreiter kommt eher aus dem Stall, vom bayerischen Land. Er interessierte sich in seiner bisherigen Karriere für Landwirtschafts- und Verkehrspolitik und wäre gern Minister geworden. Seit er im vergangenen Herbst leer ausging, als Regierungsposten verteilt wurden, versucht er sich als Außenpolitiker. Und wie.
Foto: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
"Wir haben es mit einem imperialen, kolonialen Angriffskrieg zu tun", sagt er. Oder: "Wenn der Aggressor siegt, werden Eroberungskriege wieder möglich." Manchmal klingt Hofreiter dieser Tage wie Clausewitz.
Das ist die Lage in diesem Frühjahr des Krieges: Hofreiter, der promovierte Botaniker, der beim Spazieren durch den Berliner Tiergarten sämtliche Pflanzen und Blumen benennen kann, ist jetzt Hofreiter, der Waffenexperte, der über Geschosskaliber und Besatzungen von Schützenpanzern referiert. Man hat das so nicht unbedingt kommen sehen.
Ähnlich überraschend ist die Rolle seiner Partei, der Grünen, innerhalb der Ampelkoalition. Auch die Partei weigert sich, dem eigenen Klischee zu entsprechen, ihre Rolle im politischen Drehbuch erwartungsgemäß auszufüllen. Statt in der Regierung den pazifistischen Part zu geben, statt zu bremsen, zu verzögern, zu verhindern, wenn es um schweres Kriegsgerät für die Ukraine geht, sind die Grünen diejenigen, die mehr wollen und dadurch ihre Partner unter Druck setzen, vor allem die SPD. Und Olaf Scholz.
Der Bundeskanzler ist nun derjenige, der zögerlich wirkt. Das liegt, einerseits, an seinem Sound - im Vergleich mit der Stahlgewitter-Rhetorik der Grünen erinnert er dieser Tage manchmal an einen Zivildienstleistenden, der mit einem Artilleriefeldwebel diskutiert. Die Unterschiede liegen aber, andererseits, auch in der Sache.
Wirtschaftsminister Robert Habeck war der erste prominente deutsche Politiker, der Waffenlieferungen an die Ukraine forderte, im Mai vergangenen Jahres, lange vor Beginn des russischen Angriffskriegs, damals noch als Grünenvorsitzender. Die eigenen Leute riefen ihn zur Ordnung, Habeck musste zurückrudern, mittlerweile liegt die Partei zu großen Teilen auf seiner Linie. Auch Außenministerin Annalena Baerbock ist längst umgeschwenkt.
Die SPD hingegen hadert, sie wirkt längst nicht so geschlossen wie die Grünen. Ihr Fraktionschef Rolf Mützenich und ihr Generalsekretär Kevin Kühnert wurden von der Panzerentscheidung am Dienstagmorgen überrascht, kalt erwischt. Mal wieder.
Was ist da passiert, bei den Grünen, mit den Grünen? Ihre Wurzeln liegen in der Umweltbewegung, im Widerstand gegen die Atomkraft, aber eben auch in der Friedensbewegung, im Widerstand gegen die Nato-Nachrüstung in den Achtzigerjahren - durchgesetzt damals vom SPD-Kanzler Helmut Schmidt. Noch 1999 bekam der grüne Außenminister Joschka Fischer beim Parteitag einen Farbbeutel an den Kopf geworfen, weil er die Bundeswehr in den Kosovo-Einsatz geführt hatte. Fischer hatte den Pazifismus da längst hinter sich gelassen, große Teile der Partei waren noch nicht so weit.
Wo sind die grünen Pazifisten geblieben? Gibt es sie noch - und wenn ja, warum sind sie so leise? Oder war alles immer nur ein großes Missverständnis, waren die Grünen in Wahrheit nie so friedfertig, wie man dachte?
Und es gibt noch eine Frage, die über die Grünen hinausgeht, über ihre Haltung zum Krieg, zu Waffenlieferungen. Was bedeutet es für das Parteiensystem, für seine Statik, wenn eine Partei, für die Frieden und Abrüstung bislang wichtige Ziele waren, plötzlich kaum genug Panzer und Haubitzen schicken kann? Wer übernimmt dann diese Rolle?
Jemanden wie Daniel Hecken hätten sie bei den Grünen früher wohl gar nicht erst aufgenommen, mindestens aber misstrauisch beäugt. Hecken, 38, ist Offizier bei der Bundeswehr und Mitglied der Grünen. Mit seinem Beruf geht er offen um, er hat daraus sogar eine Art politisches Projekt gemacht.
Im Frühjahr letzten Jahres gründete sich der Verein BundeswehrGrün, der den Austausch zwischen Armee und Partei fördern will. Hecken ist einer von zwei Vorsitzenden. Der Verein hat mittlerweile knapp 60 Mitglieder, die meisten davon aus dem Umfeld der Bundeswehr.
"Wir sehen uns als Brücke, um die gesellschaftlich notwendige Debatte über die Bundeswehr auch in der grünen Partei zu führen", sagt Hecken, Mitglied im Kreisverband Hamburg-Altona.
Neben seinem Amt als Vereinsvorsitzender ist er stellvertretender Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationales. Diese Gremien, kurz BAGs, haben bei den Grünen eine wichtige Funktion - sie sind so etwas wie die inhaltlichen Werkbänke der Partei, hier entstehen die Bausteine, aus denen später Wahlprogramme werden. Und ausgerechnet ein Soldat ist hier, wo über den Frieden nachgedacht wird, mittlerweile stellvertretender Sprecher?
Hecken sieht darin keinen Widerspruch, die BAG offenbar ebenfalls nicht. Auch das sagt eine Menge über das entspannte Verhältnis, das die Grünen mittlerweile zum Militär haben.
Überhaupt, sagt Hecken, begegne man seinem Verein in der Partei sehr unaufgeregt. "Ganz vereinzelt gab es Widerspruch. Aber niemand ist an uns herangetreten, um zu sagen: Was soll das? Ganz im Gegenteil." Auch das wäre früher wohl anders gewesen.
Kritik am Verein, sagt Hecken, sei eher von außen gekommen: Als Soldat müsse man doch konservativ sein, hätten ihm Einzelne gesagt. Das Verhältnis zur Grünen-Parteibasis hingegen sei gut, seit dem Krieg sei das Interesse an seinen Themen und am Verein sehr groß. "Wir sehen, dass durch den Krieg bei vielen ein Umdenken stattgefunden hat. Das war auch notwendig."
Aber so etwas kommt nicht von heute auf morgen, nicht einmal unter dem Druck einer Invasion wie in der Ukraine. Es braucht dafür, zusätzlich zum unmittelbaren Realitätsschock, lange Vorarbeit, über Jahre. Eine, die diese Vorarbeit geleistet hat, ist Agnieszka Brugger.
Brugger, 37, stellvertretende Fraktionsvorsitzende, sitzt schon seit mehr als einem Jahrzehnt im Parlament und prägt fast ebenso lange die Außen- und Verteidigungspolitik ihrer Partei. Sie trägt Piercing im Gesicht, die Haare sind rot gefärbt, und sie kann mit Begeisterung über feministische Außenpolitik sprechen, gehört zum linken Flügel der Grünen. Mit Waffen kennt sie sich aus, ist fasziniert von Technik und Marinehubschraubern. Wenn man so will, ist sie die personifizierte Versöhnung der Grünen mit dem Militär.
Foto: Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
Sie gibt sich bescheiden und betont, vor ihr hätten schon andere viel Vorarbeit geleistet, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei etwa, der sich wie kaum ein Zweiter mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr auskannte. Oder Omid Nouripour, der heutige Parteichef. Aber Brugger war entscheidend dafür, dass die Grünen in der Truppe mittlerweile viel breiter akzeptiert sind - weil die Soldatinnen und Soldaten irgendwann merkten, dass die junge Abgeordnete sich besser auskannte als die allermeisten Anzugträger, die nach Afghanistan, Mali oder Stetten am kalten Markt zu Besuch kamen.
Anfangs, erzählt Brugger, habe sie gefremdelt: "Hierarchie, Uniform, Waffen, das war nicht meine Welt". Aber sie habe zugehört, Interesse gezeigt und so ihre Distanz abgebaut. Als sie erfuhr, dass die Soldaten in Afghanistan keine Möglichkeit hatten, Videotelefonie zu nutzen, schrieb sie einen Antrag im Bundestag. Als der Bundeswehrverband auch die Grünen bat, zu Weihnachten Botschaften an die Soldatinnen und Soldaten zu unterschreiben, gab sie diese Bitte weiter, so erzählt sie es. Zu Beginn seien einige ihrer Parteifreunde noch skeptisch gewesen, mittlerweile sei es normal. Für die Truppe im Einsatz sind diese Briefe ein wichtiges Symbol.
Am Ende aber, wenn es um die großen Fragen geht, wenn unter dem Druck der Ereignisse historische Entscheidungen fallen müssen, kommt es nicht mehr auf Fachpolitikerinnen an, sondern auf die Spitze, auf diejenigen, die das Sagen haben, die Linie vorgeben. Bei den Grünen sind das, auch wenn sie nicht mehr Parteichefs sind, Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Den aktuellen Kurs ihrer Partei beim Thema Waffenlieferungen haben maßgeblich sie geprägt, die Partei ist ihnen gefolgt.
Vor einem knappen Jahr besuchte Habeck die Frontlinie zu den bereits damals umkämpften Separatistengebieten des Donbass. Mit kugelsicherer Weste und Schutzhelm kniete er an einer Straße, die übersät war von Patronenhülsen, danach sprach er einem Reporter des Deutschlandfunks ins Mikrofon: "Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, Defensivwaffen, kann man meiner Ansicht nach der Ukraine schwer verwehren."
Foto: Olexandr Techynskyy / F.A.Z.
Das war damals ein unerhörter Satz, er brach mit der bisherigen Linie der deutschen Außenpolitik unter Angela Merkel genauso wie mit der Linie der Grünen. Und Habeck widersprach damit der Kovorsitzenden und Kanzlerkandidatin Baerbock, deren Mantra lautete: keine Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. In der Partei brach Protest los.
Baerbock versuchte zu retten, was zu retten war, sie versuchte mitten im Wahlkampf, Habecks Aussage bis zur Unkenntlichkeit umzudeuten. Unter dem emotionalen Einfluss des Frontbesuchs habe er sich eben ungeschickt ausgedrückt, so lautete die Erklärung, die kaum jemanden überzeugte. Habeck schwieg, um keinen weiteren Schaden anzurichten. Doch er hatte mitnichten im Affekt gesprochen, sondern aus Überzeugung.
Nach der Wahl übernahm er jenes Haus, das bei der Genehmigung von Waffenexporten eine zentrale Rolle spielt: das Wirtschaftsministerium. Als zuständigen Staatssekretär setzte er seinen Vertrauten Sven Giegold ein, der zwar tiefgläubiger Christ ist, über Waffenexporte allerdings ähnlich denkt wie sein Minister - was in der Partei bis zur russischen Invasion kaum jemand wusste. Hinter den Kulissen wies Giegold seine Beamten an, Anträge auf Waffenexporte in die Ukraine schnell und wohlwollend zu bearbeiten.
Öffentlich schwieg Habeck weiter und machte seinem Frust über die Haltung der eigenen Partei nur intern Luft: Die Linie, man liefere eben keine Waffen in Kriegsgebiete, sei doch vorgeschoben, sagte er zu seinen Vertrauten im Ministerium - was sei denn mit den Exporten nach Ägypten, das am Krieg im Jemen beteiligt sei?
Im Außenministerium wollte man von dieser Argumentation noch nichts wissen. "Es gibt nur eine Lösung, und die heißt Diplomatie", sagte Baerbock Mitte Januar im Bundestag. Auch Ende Januar, als die Forderung nach Waffenlieferungen bereits lauter wurde, blieb sie bei ihrer Ablehnung. "Seinen außenpolitischen Kurs einfach mal so um 180 Grad zu drehen, sollte man schon bei vollem Bewusstsein tun. Und vor allem sollte man damit nicht Türen zur Deeskalation verschließen, die sich gerade in diesem Moment so zaghaft wieder öffnen", sagte sie im Parlament. "Wer redet, der schießt nicht." Also: Keine Waffen für die Ukraine, dabei sollte es bleiben.
Erst die Invasion am 24. Februar führte zum Umdenken - wenn auch nicht sofort. Um den Sinneswandel anzustoßen, musste erst Habecks Ministerium Druck machen. So jedenfalls stellt man es dort dar.
Demnach verschickte Staatssekretär Giegold am Freitag nach dem russischen Einmarsch ein Schreiben an die beteiligten Ministerien, in dem er für Waffenlieferungen argumentierte. Zur Begründung führte er Artikel 51 der Uno-Charta an, wonach angegriffene Staaten ein Selbstverteidigungsrecht haben - in diesem Fall könne Deutschland die Ukraine auch mit Waffen beliefern, so Giegold. Baerbock zögerte noch, doch schon am Samstagmorgen hatte sie ihre Meinung geändert. Und zwar so fundamental, dass man im Auswärtigen Amt staunte.
Als Erstes räumte sie den deutschen Widerstand gegen die Lieferung alter DDR-Haubitzen in die Ukraine ab, den die Regierung bislang blockiert hatte. Die Artilleriegeschütze waren vor Jahren in Estland gelandet, als früherer Besitzer musste Deutschland die Weitergabe genehmigen. Baerbock signalisierte Zustimmung, das erste Tabu war gefallen. Im Laufe dieses historischen Samstags wurde die Außenministerin sogar zur Treiberin.
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Seit dem Vormittag ließ Olaf Scholz über seinen außenpolitischen Berater Jens Plötner ausloten, ob die wichtigen Ministerien auch direkte Waffenlieferungen an die Ukraine mittragen würden. Gegen Mittag signalisierte Baerbock über ihren Staatssekretär Andreas Michaelis, sie trage das mit - und es müsse nun schnell gehen.
Am Nachmittag, kurz vor der entscheidenden Sitzung von Scholz und seinem engsten Team, setzte Michaelis nach. Seine Ministerin, schrieb er an Plötner, wolle heute grünes Licht für die sofortige Lieferung von 1000 Bundeswehr-Panzerfäusten geben, außerdem müssten rasch 500 Stinger-Systeme zum Abschuss von russischen Helikoptern geliefert werden. Komme es in der nächsten Stunde nicht zum Schwur, werde Baerbock selbst Scholz anrufen und Druck machen.
Kurz danach fiel im Kanzleramt die historische Entscheidung. Scholz beschloss mit seinen engsten Beratern, beide Waffentypen in die Ukraine zu liefern. Am nächsten Tag hielt er im Bundestag seine Regierungserklärung, in der er die "Zeitenwende" ausrief.
Seither wirkt Scholz wie der Getriebene. Er mahnt zur Vorsicht, etwa mit dem Argument, Wladimir Putin könnte die Lieferung schwerer Waffen als Teilnahme am Krieg werten - doch bei den Grünen dringt er damit nicht durch.
Völkerrechtlich gesehen seien Waffenlieferungen kein Kriegseintritt, sagte Baerbock an diesem Mittwoch bei der Regierungsbefragung im Bundestag. Man müsse zwar abwägen, dürfe aber keine Panik schüren. Da sich der russische Präsident nicht um das Völkerrecht schere, sei es auch nicht wichtig, wie er bestimmte Entscheidungen Deutschlands werte. "Deswegen ist das, was Herr Putin denkt, was ein Schritt sein könnte, allein im Ermessen dieses Präsidenten."
Heißt übersetzt: Natürlich liefern wir - egal, womit Putin gerade wieder drohen mag.
Noch deutlicher drücken sich Grüne aus, die keine Regierungsverantwortung tragen und damit freier formulieren können - etwa die ehemalige Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck. Sie ist kürzlich nach Kiew gereist, gemeinsam mit ihrem Mann Ralf Fücks, dem ehemaligen Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Seither sieht sie die Dinge noch etwas klarer als vorher schon.
Man müsse der ukrainischen Armee "schnell so viele Waffen wie möglich" liefern, sagt Beck. "Die Ukraine müsste idealerweise so gut ausgestattet sein, dass sie ihren Luftraum schließen kann. Wir müssen verhindern, dass aus diesem Land ein zweites Syrien wird." Alte Panzer aus NVA-Beständen, die bei Beschuss leicht explodieren können, seien zwar schnell einsatzfähig, aber keine ideale Lösung, weil sie zur Todesfalle für ukrainische Soldaten werden könnten.
Ein "totalitäres Regime", sagt Beck, müsse "notfalls militärisch niedergerungen werden". Es sei "sehr irritierend", dass man das gerade in Deutschland mit seiner Vergangenheit nicht einsehe.
So klingen jetzt die Grünen. Von der "feministischen Außenpolitik" hingegen, mit der sie SPD und FDP noch in den Koalitionsverhandlungen auf die Nerven gefallen waren, ist kaum noch die Rede. Sie hat mit der grünen Politik dieser Tage nicht mehr viel zu tun.
Die Denkschule setzt sich für Menschenrechte und die Gleichberechtigung in der Diplomatie ein, vor allem aber für Konfliktprävention - also dafür, Kriege erst gar nicht entstehen zu lassen. Die Frage ist, wie das funktionieren soll, wenn jemand wie Putin zum Angriffskrieg entschlossen ist.
Eine einheitliche Definition feministischer Außenpolitik gibt es zwar nicht, aber Forderungen nach Waffenlieferungen und Aufrüstung betrachten die meisten Anhängerinnen und Anhänger des Ansatzes eher als Rückschritt. Baerbock versucht, den Widerspruch zu umschiffen, indem sie immer wieder auf die Opfer des Krieges hinweist, auf Frauen und Kinder, auch das ist ein Anliegen dieser Denkschule. Das ändert aber nichts daran, dass die Außenministerin derzeit vor allem mit schwerem Gerät versucht, möglichst viele weitere Opfer zu vermeiden.
In der SPD wächst der Ärger darüber mit jedem Tag. Allerdings wissen die Genossen, dass die Opposition, vor allem die Union, es sofort ausnutzen würde, sollte die Regierung sich zerlegen. Die Sozialdemokraten müssen vorsichtig bleiben, sie vermeiden es, die Grünen-Spitzenvertreter frontal anzugehen - und konzentrieren ihren Unmut stattdessen auf eine Figur wie Hofreiter, der zwar derzeit die grüne Außendarstellung prägt, für das Regierungshandeln aber keine Rolle spielt. Außerdem attackierte er kürzlich direkt Olaf Scholz: "Das Problem ist im Kanzleramt", sagte Hofreiter. All das macht ihn zum dankbaren Ziel für die Sozialdemokraten.
Foto: HC Plambeck
In der SPD-Fraktionssitzung am Dienstag entlud sich der Ärger. Bei Hofreiter bekomme man "den Eindruck, als habe sich die Haltung Nie wieder Krieg in Nie wieder Krieg ohne uns geändert", schimpfte der Europapolitiker Axel Schäfer. Hofreiter komme nicht darüber hinweg, dass er nicht Minister geworden sei. Säße er neben Scholz am Kabinettstisch, würde er sicherlich das Gegenteil sagen, sagte Schäfer. "Dass das niemand in der SPD mal deutlich macht, verstehe ich nicht."
Fraktionschef Rolf Mützenich spottete laut Teilnehmern über "Leute, die ohne Expertise täglich vor den Kameras etwas Neues fordern" - auch das verstanden einige so, dass es auf Hofreiter gemünzt war. Und der Parteilinke Ralf Stegner nimmt die Grünenspitze in die Pflicht: Er wünsche sich, dass Hofreiter deutlicher widersprochen werde, sagt er.
Zwar gingen sowohl Robert Habeck als auch die Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour bereits öffentlich auf Distanz zu Hofreiter, doch den Sozialdemokraten genügt das nicht, sie sehen den Koalitionsfrieden bedroht - oder wollen einfach ihren Kanzler schützen. Eine SPD-Abgeordnete erinnert daran, wie heftig Andrea Nahles als Fraktionschefin interne Kritiker zur Räson gerufen habe. "Partei- und Fraktionsspitze der Grünen sind dazu nicht in der Lage", kritisiert die Genossin. "Das zeigt, dass die Grünen noch nicht in der Regierung angekommen sind."
Die Grünen geben sich davon unbeeindruckt, sie müssen sich ganz andere Sachen anhören. Als Habeck diese Woche bei einer Wahlkampfveranstaltung in Bielefeld auftrat, redete er gegen ein Pfeifkonzert an und blickte auf ein ziemlich großes Transparent, das ihm entgegengehalten wurde. "Grüne = Kriegstreiber" stand darauf.
Habeck ist nicht der erste grüne Minister, der auf diese Weise attackiert wird. Die Grünen und der Krieg, das ist mittlerweile eine lange Geschichte.
Die Partei hat starke Wurzeln in der Friedens- und der Umweltbewegung der Siebzigerjahre. Beide Strömungen konnten sich hinter einem Satz vereinigen: Wir haben Angst vor dem Atomtod. Die einen protestierten gegen die atomare Hochrüstung, die anderen gegen Kernkraftwerke, viele gegen beides.
Für Pazifismus stand in der Frühzeit vor allem Petra Kelly, die 1980 mit anderen die grüne Partei gründete und eine der großen Kämpferinnen gegen die Nachrüstung der Nato mit Raketen war. Gegen Atomwaffen zu sein hieß aber nicht für alle Grünen, Gewalt generell abzulehnen.
Der spätere Außenminister Joschka Fischer hatte als junger Mann in Frankfurt auf einen Polizisten eingedroschen. Der spätere Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Tom Koenigs, hatte sein stattliches Erbe in jungen Jahren unter anderem dem Vietcong für den Kampf gegen die USA in Vietnam gespendet. Der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW) unterstützte bewaffnete Freiheitsbewegungen in aller Welt, überdies das Regime von Pol Pot in Kambodscha, das verantwortlich war für einen Genozid an der eigenen Bevölkerung. Eine Spendenaktion erbrachte 150.000 Mark für die Schlächter der Roten Khmer, wie der Publizist Gerd Koenen in seinem Buch "Das rote Jahrzehnt" berichtet. Er muss es wissen, auch er war einst beim KBW.
Foto: Sven Simon / ullstein bild
Von dort wechselten etwa Reinhard Bütikofer, Ralf Fücks und Winfried Kretschmann zu den Grünen und machten da Karriere. Viele Linke dieser Zeit lehnten nicht Waffen generell ab, sondern Waffen im Besitz der Nato, insbesondere der USA.
Hubert Kleinert, einst hessischer Landesvorsitzender, sagt: "Pazifistisch waren die Grünen als Ganzes nie. Ich zum Beispiel war nie der Auffassung, auch in jungen Jahren nicht, dass man Hitler mit weißen Fahnen und warmen Worten hätte besiegen können. Das führte immer wieder zu Diskussionen mit den Gesinnungspazifisten, die es bei uns natürlich auch gab."
Das waren weitgehend theoretische Diskussionen, bis 1989 die Mauer fiel und die Weltordnung des Kalten Kriegs zerbrach. In Jugoslawien bekämpften sich bald Serben, Kroaten, Bosnier auf grausame Weise. Was sollte man tun: mit pazifistisch sauberer Gesinnung zuschauen oder versuchen, Waffengewalt mit Waffengewalt zu beenden?
Die außenpolitische Expertin Marieluise Beck änderte damals ihre Haltung. "Mit meinem Idealismus der Kapitulation als besserer Lösung war es 1993 vorbei, als ich in Bosnien lernte, dass sich nicht zu verteidigen zu Terror, Massenvergewaltigung und Vertreibung führen kann."
Auch bei Kleinert setzte damals ein Gesinnungswandel ein: "Angesichts der Tragödie auf dem Balkan stellte sich die Frage, ob man auf den Einsatz militärischer Mittel verzichten konnte. Ich weiß noch genau, dass ich damals, Ende 1992, an einem Abend mit Joschka Fischer zusammengesessen habe. Ich sprach mich für den Einsatz militärischer Mittel aus, Daniel Cohn-Bendit hatte das vorher schon getan. Da fuhr Fischer mich an: Jetzt fängst du auch noch an! Damals wollte er davon noch nichts wissen. Dann folgte 1995 das Massaker in Srebrenica. Danach rief Fischer mich an und fragte: Was sagst du jetzt? Ich sagte: Wir sind alle entsetzliche Feiglinge. Das sah er dann auch so. Das war die eigentliche Wende." Jedenfalls aus der Sicht von Kleinert.
Als die Grünen Ende 1998 eine Koalition mit der SPD bildeten, standen der designierte Bundeskanzler Gerhard Schröder und der künftige Außenminister Fischer bereits vor der Frage, ob sie deutsche Soldaten in einen Krieg schicken sollten. Serbien bekämpfte den Wunsch nach Unabhängigkeit im Kosovo mit brutalen Mitteln, man sprach von Völkermord. Die Nato war bereit einzugreifen, um das Morden zu stoppen, bekam dafür aber kein Mandat vom Sicherheitsrat der Uno, weil die Russen dagegen waren. Schröder und Fischer wurden vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gedrängt, sich an einem Militäreinsatz zu beteiligen. Und stimmten zu.
Am 24. März 1999 sagte Schröder in einer Fernsehansprache nach der Tagesschau: "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die Nato mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen." Tornados der Luftwaffe waren beteiligt. Die "New York Times" schrieb zwei Tage später: "Ein halbes Jahrhundert nach Hitler beteiligen sich deutsche Jets an der Attacke."
Der Bezug zum schlimmsten Teil der deutschen Geschichte bestimmte auch die Debatte der Grünen. Am 13. Mai musste sich Fischer einer Sonderkonferenz der Bundesdelegierten seiner Partei in Bielefeld stellen. Ein kochender Saal, Wut und Hass. Fischer wurde als "Joschka Goebbels" beschimpft, ein Aktivist schleuderte ihm einen roten Farbbeutel gegen das rechte Ohr, das Trommelfell wurde verletzt. In seiner Rede rief der Außenminister: "Ich stehe auf zwei Grundsätzen: nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus! Beides gehört bei mir zusammen."
Bis dahin wurde der Holocaust als Begründung für deutschen Pazifismus zitiert, nun machte es Fischer umgekehrt: Auschwitz verpflichte die Deutschen, Gräuel auch militärisch zu stoppen. Der Kriegseinsatz wurde humanitär begründet, das machte es manchen Grünen leichter zuzustimmen. Am Ende einigte sich die Konferenz auf einen hochgradig verschwurbelten Beschluss, aus dem jeder etwas für sich herauspicken konnte. Für Fischer war entscheidend: Er musste nicht vor den Kanzler treten und darum bitten, den Einsatz der Luftwaffe zu beenden.
Foto: K. B. Karwasz
Die nächste Prüfung für die Grünen folgte zwei Jahre später, nachdem Islamisten entführte Flugzeuge in das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, D.C., gesteuert hatten. Die rot-grüne Bundesregierung wollte sich am folgenden Kampfeinsatz gegen den internationalen Terrorismus und die Taliban in Afghanistan beteiligen, aber die Mehrheit dafür wackelte. Acht Mitglieder der grünen Fraktion waren entschlossen, der Bundeswehr kein Mandat zu erteilen, darunter Antje Vollmer, Hans-Christian Ströbele und Steffi Lemke, die heutige Bundesumweltministerin.
Wieder wurde heftig diskutiert, wurde Fischer bei einer Bundesdelegiertenkonferenz in Rostock auf einem Transparent als "Kriegsverbrecher" beschimpft.
Bundeskanzler Schröder entschied sich, die Abstimmung über den Kampfeinsatz in Afghanistan mit einer Vertrauensfrage zu verknüpfen. Einen Kanzlersturz wollten die abtrünnigen Grünen vermeiden, weshalb sie oberschlau entschieden, dass nur vier der acht mit Nein stimmen würden. Antje Vollmer sagte den damals viel belachten Satz: "Mein Ja ist ein Nein."
Schröder blieb Kanzler, deutsche Soldaten zogen mit den Amerikanern in den Krieg. Und die Grünen waren endgültig eine Partei des Regierungspragmatismus geworden, der Realpolitik.
So kommt es, dass die Bundestagsfraktion nun erstaunlich geschlossen hinter dem Kurs steht, den die Spitze vertritt, hinter den Waffenlieferungen. Dabei stand noch im Wahlprogramm: "Exporte von Waffen und Rüstungsgütern an Diktatoren, menschenrechtsverachtende Regime und in Kriegsgebiete verbieten sich." Damit ist es vorbei, ohne dass es zum Aufstand gekommen wäre.
Das verwundert manche, die schon bei den Schlachten der Vergangenheit dabei waren, etwa Angelika Beer. Sie war verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, während über den Kosovoeinsatz gestritten wurde. Als Joschka Fischer 1999 in Bielefeld den Farbbeutel an den Kopf bekam, saß sie zwei Plätze weiter. Über die heutigen Grünen sagt sie: "Die lautstarke Fundamentalopposition von damals ist einer absoluten Kritiklosigkeit gewichen."
Die Grünen hat sie schon lange verlassen, 2009 wechselte sie zur Piratenpartei. Wenn sie Fischer und Habeck vergleicht, sieht sie klare Vorteile bei Habeck. Fischer habe seine Politik nicht erklärt, sagte Beer. "Den Farbbeutel hat er damals kassiert, weil es von seiner Seite keine Bereitschaft zum Dialog gab." Das mache Habeck heute besser.
Wahrscheinlich trägt auch das dazu bei, dass es in der Fraktion so ruhig ist. Manche können es kaum fassen.
"Ich bin überrascht über die Einigkeit", sagt jemand vom Realo-Flügel. Es gebe zwar, sagt jemand vom linken Flügel, einige wenige, die sich schwertäten - doch im Kern besteht derzeit über die Flügel hinweg Konsens: Die Ukraine muss sich verteidigen können. Also braucht sie Waffen, auch schwere.
Wenn es überhaupt etwas gebe, erzählen Grüne, was derzeit wenigstens ein bisschen umstritten ist, dann sei es das Sondervermögen, mit dem die Bundeswehr wieder zu einer schlagkräftigen Armee gemacht werden soll. Hier gibt es Sorgen und Bedenken, hier fürchten manche eine Aufrüstungsspirale. Aber auch diese Skeptiker sind gerade nicht besonders laut.
Bei der FDP sehen sie all das mit Freude. "In den Koalitionsverhandlungen haben einige Grüne noch ein Problem mit der Nato gehabt, jetzt treten sie gemeinsam mit der FDP für die Lieferung auch schwerer Waffen ein", sagt der neue Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. "Dieses Ankommen in der außen- und sicherheitspolitischen Realität begrüße ich."
Ähnlich klingt Parteivize Johannes Vogel. "Diese Haltung freut mich", sagt er über den Kurs des grünen Regierungspartners. "Die gesamte politische Kultur in Deutschland hatte die letzten Jahre hier eine Schlagseite." In Deutschland habe es oft einen "vulgär-pazifistischen Ausdruckstanz" gegeben, selbst wenn es nur darum ging, wie man die Bundeswehr angemessen ausrüsten könnte.
Foto: Jochen Lübke/ dpa
Früher wäre es Jürgen Trittin unangenehm gewesen, ausgerechnet von der FDP gelobt zu werden. Trittin, 67, gehört eigentlich zu denjenigen, von denen man Widerstand gegen die Waffenlieferungen erwartet hätte. Der frühere Fraktionschef ist mittlerweile außenpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, er gehört zum linken Flügel, und er hat noch im Februar öffentlich erklärt, warum Waffen für die Ukraine keine gute Idee seien. Nun hat auch er sich eingereiht. Warum?
Na ja, sagt Trittin, man habe ja versucht, Putin durch maximale politische und ökonomische Drohungen abzuschrecken - aber das habe ihn nicht abgehalten. Der Einmarsch habe alles verändert, nun müsse man die Ukraine stärken, und das gehe nicht mehr anders als militärisch. "Nur wenn die Ukraine nicht überrannt wird und in einer ordentlichen Verhandlungsposition ist, kann es eine Verhandlungslösung geben."
Trittin sagt das, als hätte er nie etwas anderes vertreten. Dann holt er zur ganz großen Erklärung aus.
"Es gibt eine lange Tradition bei Grünen, sich gegen Unrecht zu stellen", sagt er. "Wir waren auch als Einzige auf dem Maidan präsent." Als die Ukrainerinnen und Ukrainer 2014 ihren russlandnahen Präsidenten aus dem Amt trieben, besuchten Grüne die Demonstranten auf dem Platz in Kiew. Und als 2016 Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, traten die Menschen in Scharen bei den Grünen ein.
Das ist nicht vergleichbar mit einem Krieg, aber die Überzeugung, stets für das Gute einzutreten, auf der richtigen Seite zu stehen, ist Teil des grünen Selbstverständnisses - das gilt für den Klimawandel genauso wie für Geopolitik. Es führt oft zu einer schwer erträglichen Selbstgerechtigkeit, einem moralischen Sendungsbewusstsein. Und es macht die Partei anfällig dafür, sich von Emotionen leiten zu lassen.
Waffenlieferungen verbieten sich? Der Satz stimme auch weiterhin, argumentieren sie jetzt bei den Grünen - aber eben nicht, wenn alles so auf der Hand liege wie in diesem Fall, die Rollen des Angreifers und des Opfers derart klar verteilt seien und der Angreifer nicht bereit sei zu verhandeln.
Aber warum war das 2014 eigentlich anders, als der "Islamische Staat" Teile des Irak und Syriens überrannte und eine Terrorherrschaft errichtete? Auch da waren Gut und Böse eindeutig bestimmbar, trotzdem waren die Grünen dagegen, die Kurden mit Waffen auszurüsten. Am Ende geht es auch ihnen um die Sicherheit Europas - und damit die eigene Sicherheit.
Aber gibt es nicht irgendwo in dieser einst lustvoll streitenden Partei noch Menschen, die das anders sehen? Die der Meinung sind, dass die Grünen ihre Grundsätze verraten, sie zumindest missachten?
Münster, Mittwochabend, in einem Stadtteilhaus treffen sich die Grünen zur Kreismitgliederversammlung. Etwa 50 Menschen sind gekommen, die allgemeine Laune ist gut, von gedämpfter Stimmung keine Spur. Es geht, natürlich, auch um den Krieg, um die Frage, ob man der Ukraine mehr und schwere Waffen liefern sollte. Und auch hier finden die meisten: ja, sollte man.
"Welchen Frieden haben wir, wenn ein Land einfach vereinnahmt werden darf? Das ist kein Frieden, in dem ich leben will", so drückt es die Landtagskandidatin Dorothea Deppermann aus. Viele klingen hier ähnlich. Man wünschte zwar, es hätte andere Wege gegeben, den Krieg zu beenden, sehe aber, dass "Reden ohne Taten am Ende keinen Frieden" bringe, sagt ein Mitglied. Immer wieder gibt es an diesem Abend Lob für Habeck, ein Neumitglied bezeichnet ihn als "Vorbild".
Widerspruch? Gibt es in Münster nicht - weshalb manche fast entschuldigend betonen, dass es "sicher auch noch andere Meinungen in der Partei" gebe. Nur wo?
In Berlin zum Beispiel, wo der Altlinke Hans-Christian Ströbele am Mittwoch einen Tweet absetzt, der etwas stakkatoartig gerät, dafür umso klarer in der Ausrichtung ist. "Sind wir jetzt Kriegspartei", fragt Ströbele, ohne ein Fragezeichen zu setzen. Politiker und Medien des "NATO-Dt.", gemeint sein dürfte "Nato-Deutschland", hätten "Lieferung von Panzern erzwungen", schreibt Ströbele. Was sie denn so sicher mache, dass es "keine Eskalation zum Weltkrieg" gebe? "Schlimm" sei das.
Ströbele gehört zum Grünen-Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg, der als stramm links gilt. Doch selbst hier scheint er weitgehend allein zu stehen.
"Dieser Angriffskrieg ist ein krasser Völkerrechtsverstoß. Jedes Land der Welt hat das Recht, sich zu wehren", sagt Philip Hiersemenzel, Mitglied im Geschäftsführenden Ausschuss des Kreisverbands. "Nachdem nun alle diplomatischen Versuche gescheitert sind, bleibt halt nicht viel anderes als Waffenlieferungen."
Sehen das selbst hier alle so? "Es sind bestimmt nicht alle Leute innerhalb unserer Bezirksgruppe meiner Meinung", sagt Hiersemenzel. "Aber von den Leuten, mit denen ich rede, waren die meisten schon für die Lieferung schwerer Waffen."
Seine Kollegin Jenny Laube, ebenfalls Mitglied im Geschäftsführenden Ausschuss, sagt es so: "Auch bei mir fand in den letzten Wochen eine Evolution, ein Umdenken statt."
Das heißt?
"Nachdem wir durch Diplomatie und wirtschaftliche Sanktionen versucht haben, einen Stopp der Kriegshandlungen zu erreichen, ist die Lieferung der schweren Waffen die nächste Stufe der Unterstützung für die Ukraine. Ich frage mich, welches andere mildere Mittel aktuell noch existieren soll."
Für Baerbock, Habeck und die Grünenspitze sind das erfreuliche Töne. Es droht kein Aufruhr, schon gar keine Spaltung, zu eindeutig ist das Meinungsbild. Die andere Frage ist, ob es auch für die politische Kultur erfreulich ist.
Eher nicht.
Einer Demokratie tut es immer gut, wenn es unter den gemäßigten Kräften eine Meinungsvielfalt gibt, wenn Standpunkte, die von der Mehrheitsmeinung abweichen, innerhalb dieses gemäßigten Spektrums geäußert werden - und nicht nur an den Rändern artikuliert werden, von extremen Kräften. Das gilt vor allem für die großen Fragen.
Die Union würde gern noch mehr und schneller Waffen liefern, sie hat auch das Sondervermögen für die Bundeswehr mit Beifall aufgenommen, sie fällt in diesen Fragen als Opposition aus. Bleiben nur AfD und die Linkspartei. Die Linke allerdings wird gerade von Vorwürfen sexueller Übergriffe erschüttert und ist mit sich selbst beschäftigt. Außerdem heißt ihr prominentestes Mitglied weiterhin Sahra Wagenknecht, die auch in dieser Lage durch außerordentlich viel Verständnis für Russland auffällt. Eine seriöse Opposition gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung ist derzeit nicht in Sicht.
Das kann politisch gefährlich werden, gerade nach den vergangenen zwei Jahren der Pandemie. Populisten und Verschwörungsideologen haben die Zeit genutzt, um das Bild eines Parteiensystems zu zeichnen, in dem angeblich alle unter einer Decke steckten. Sie werden die Einmütigkeit zu nutzen versuchen, mit der sowohl die Waffenlieferungen als auch die Milliarden für die Bundeswehr gerade unterstützt werden. Seht her, so dürfte die Erzählung lauten: Schon wieder sind sie alle einer Meinung.
Am meisten Widerstand gibt es derzeit noch in der SPD - ausgerechnet in der Kanzlerpartei. Wollen die Genossen Olaf Scholz nicht weiter schwächen, müssen sie zumindest einigermaßen geschlossen bleiben.
Umso wichtiger wäre wenigstens ein bisschen Debatte bei den Grünen. Und tatsächlich, ganz unten an der Basis regt sich noch etwas. Zum Beispiel bei Claudia Laux aus Rheinland-Pfalz.
Sie sei Pazifistin, sagt Laux, und als solche lehne sie das Sondervermögen für die Bundeswehr ab - ebenso wie das Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Sie will über beides eine Urabstimmung. "Wir von der Basis wollen wissen, wie die Partei darüber denkt", sagt Laux. Gemeinsam mit einigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern will sie die Urabstimmung durchsetzen.
Einer der Initiatoren dieses Vorhabens ist Philipp Schmagold aus Schleswig-Holstein, ein Mann, der auf Grünen-Parteitagen eine Art Legende ist wegen seiner ständigen Anträge. Er sagt: "Wir sollten die 100 Extra-Milliarden nicht für die Rüstungsindustrie ausgeben, sondern brauchen das Geld für Klima- und Artenschutz, Energiewende, Soziales, Bildung, Gesundheit und zivile Krisenprävention."
Die Initiative sei flügelübergreifend, sagt er, jeden Tag kämen neue Sympathisantinnen und Sympathisanten dazu, am Donnerstagmittag hatten 1229 Mitglieder die Initiative im "Grünen Netz" online unterstützt.
Damit es zur Urabstimmung kommt, müssten knapp 6300 Mitglieder ihre Stimme abgeben. Zeit ist bis Mitte August.
Vielleicht ist doch noch etwas übrig von den Grünen, die man mal kannte.
Quelle: spiegel.de