Von Markus Becker, Brüssel
24.02.2023, 17.49 Uhr
Foto: Olivier Hoslet / EPA
Bei den Verhandlungen über das zehnte EU-Sanktionspaket gegen Russland ist es zu einem heftigen Streit zwischen Polen und den anderen 26 Mitgliedsländern gekommen. Als am Donnerstagabend eine Einigung bereits sicher schien, erhob Warschau Einspruch - angeblich weil das Paket "zu leicht und zu schwach" sei, wie der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Freitag in Kiew sagte.
Morawiecki wolle damit ein "klares Zeichen" der Unterstützung für die Ukraine senden, behauptete sein Sprecher Piotr Muller. Die meisten anderen EU-Länder werfen Polen dagegen egoistische Motive vor:
Einige andere EU-Länder, allen voran Italien, könnten die russischen Lieferungen kaum auf die Schnelle kompensieren, hieß es am Rande der Verhandlungen in Brüssel. Sie wären dann wohl gezwungen, synthetischen Kautschuk - der beispielsweise für die Herstellung von Autoreifen genutzt wird - unter anderem in Polen einzukaufen. Etwa bei Synthos, Europas Marktführer auf diesem Gebiet.
Ursprünglich war nach Angaben von Diplomaten angedacht, die Kautschuk-Frage auf das elfte Sanktionspaket zu verschieben, zusammen mit anderen strittigen Themen wie dem Import von Diamanten und Brennstoff für Atomkraftwerke. Über alles andere seinen sich die Mitgliedsländer am Donnerstagabend bereits einig gewesen - alle bis auf Polen. Denn Warschau habe plötzlich widersprochen und eine "ultraharte rote Linie" gesetzt, wie ein Diplomat es ausdrückte.
Das Kalkül Warschaus sei es offenbar, den bestehenden Zeitdruck als Hebel einzusetzen. Denn die anderen Mitgliedsländer wollen das Sanktionspaket unbedingt noch am Freitag, dem Jahrestag der russischen Invasion, auf den Weg bringen. "Wenn uns das nicht gelingt, würden wir nach außen ein katastrophales Bild abgeben", sagt etwa Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. "Wenn ein elf Milliarden Euro schweres Sanktionspaket wegen Kautschuk-Importen nicht zustande käme, wäre das lächerlich."
Diplomaten mehrerer anderer Länder bestätigten unabhängig voneinander, dass im Ausschuss der Botschafter Empörung über Polens Last-minute-Manöver herrschte - es wurde als Erpressungsversuch gewertet. Bei der schwedischen Regierung, die derzeit die rotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat, gibt man sich dennoch optimistisch: Man sei kurz vor einer Einigung, hieß es am Freitagnachmittag.
Das zehnte Sanktionspaket der EU enthält Exportbeschränkungen im Umfang von elf Milliarden Euro. Außerdem sollen die Guthaben von drei Banken und mehreren Unternehmen eingefroren werden, darunter iranische Unternehmen, die verdächtigt werden, Drohnen an Russland zu liefern.
Polens Regierung sieht sich derzeit offenbar in einer starken Position. Erst am Dienstag und Mittwoch hatte US-Präsident Joe Biden Warschau besucht und unter anderem Führer der neun osteuropäischen Nato-Staaten sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg getroffen. Auch bei der Unterstützung der Ukraine inszeniert sich Polens Regierung gern als Avantgarde - auch wenn ihre Taten nicht immer mit der Rhetorik mithalten.