Verwaltungsgerichte "Etwa vier von fünf Abgelehnten klagen"

Von Marcel Leubecher
Politikredakteur

Stand: 29.04.2024 | Lesedauer: 5 Minuten

Asyl- und ausländerrechtliche Verfahren machen inzwischen die Mehrheit der Verfahren an Verwaltungsgerichten aus. Viele Fälle seien Klagen gegen abgelehnte Asylgesuche, erklärt der Bundesvorsitzende der Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller. Welche Folgen erwartet er durch die EU-Asylreform?

Zwei Asylbewerber vor dem Verwaltungsgericht in Düsseldorf
Quelle: picture alliance / dpa

Am Montag werden Europas Innenminister im EU-Rat die Asylreform absegnen. Dann beginnt auch für die deutschen Verwaltungsgerichte eine Zeit der Einarbeitung in die neuen Rechtsgrundlagen.

Der Vorsitzende des Bundes der Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, schildert im Gespräch mit WELT AM SONNTAG, vor welchen Herausforderungen seine Kollegen durch die Zuwanderungslage und die neuen EU-Regelungen stehen. Sein Verband begrüße "die Einigung auf die EU-Asylreform ausdrücklich", sagt Seegmüller. "Wir sehen aber nicht, dass den deutschen Verwaltungsgerichten deswegen die Arbeit ausgehen wird. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass wir in ähnlichem Umfang wie bisher mit asylrechtlichen Verfahren befasst sein werden." Hinzu kämen "Implementierungsaufwände, weil wir uns schulen und uns mit dem neuen Recht vertraut machen müssen".

Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht
Quelle: Marlene Gawrisch/WELT

Seegmüller, der auch Richter am Bundesverwaltungsgericht sowie Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin ist, schildert den Ist-Zustand: "Asylgerichtliche Verfahren machen ungefähr die Hälfte unserer gesamten Arbeit aus. Im langjährigen Mittel werden jährlich ungefähr 100.000 Verfahren bei uns eingeleitet, die nicht den Asylbereich betreffen. Hinzu kommen derzeit jährlich etwa 100.000 Asylverfahren." Und: "Ein substanzieller Teil der derzeit jährlich ungefähr 100.000 Fälle aus dem Nicht-Asylbereich sind ausländerrechtliche Streitigkeiten."

In diesen Verfahren werde zum Beispiel über die Erteilung von Aufenthaltstiteln im Bereich der Erwerbsmigration oder des Familiennachzugs oder um die Rechtmäßigkeit von Ausweisungsentscheidungen gestritten. Das heißt: "Insgesamt entfallen von den Verfahren, die die Verwaltungsgerichte bearbeiten, deutlich mehr als die Hälfte auf Migrationsklagen, wenn man den Asylbereich und die ausländerrechtlichen Verfahren zusammennimmt."

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Gegenstand der asylgerichtlichen Verfahren seien vor allem ablehnende Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). "Dass sich jemand mit der Ablehnung der Behörde abfindet, kommt eher selten vor. Etwa vier von fünf Abgelehnten klagen dagegen, und das teilweise mit Erfolg." Manche Bescheide seien von vornherein fehlerbehaftet. Manche Bescheide werden es erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens. Dies sei der Fall, wenn sich nach der - im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßigen - Entscheidung des BAMF während des gerichtlichen Verfahrens die Tatsachenlage zugunsten des Klägers ändere und neue Fluchtgründe entstünden. So sei es etwa nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gewesen.

Wie viel Arbeit die Gerichte mit asylgerichtlichen Verfahren haben, hänge "vom Ausmaß der Zuwanderung" nach Deutschland ab. "Falls die neuen Grenzverfahren tatsächlich zu häufigeren Rückführungen direkt aus den Erst-Ankunftsstaaten führen und in der Folge weniger nicht schutzberechtigte Migranten nach Europa einreisen und dann weiter nach Deutschland ziehen, würde das unsere Arbeitsbelastung reduzieren."

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Die Belastung der Verwaltungsgerichte mit asylgerichtlichen Verfahren sei proportional zur Zahl der vom Bundesamt für Migration entschiedenen Fälle. "Wenn das BAMF jährlich beispielsweise über 200.000 Asylverfahren entscheidet, und rund die Hälfte der Antragsteller anerkennt, kommen etwa 100.000 Klagen auf die Verwaltungsgerichte zu, in denen dann etwa zu prüfen ist, ob doch ein Anspruch auf subsidiären Schutz oder Flüchtlingsschutz besteht." Letzteres sei oft auch dann zu untersuchen, "wenn dem Antragsteller subsidiärer Schutz gewährt wurde, weil dieser, anders als der Flüchtlingsschutz, keinen Rechtsanspruch auf privilegierten Familiennachzug vermittelt".

Gerade habe das Bundesamt für Justiz die neue Richterstatistik vorgelegt: Rund 2300 Richterinnen und Richter arbeiteten inzwischen an den Verwaltungsgerichten "in der ersten Instanz, also ohne die Oberverwaltungsgerichte und das Bundesverwaltungsgericht", so Seegmüller. "An dieser Stelle muss ich die Justizverwaltungen in den Ländern ausdrücklich loben, dass sie während der Flüchtlingskrise die Zeichen der Zeit erkannt und seit 2015 die Verwaltungsgerichte mit 600 Stellen substanziell verstärkt haben." Die Justizverwaltungen sollten diese Unterstützung fortführen und nicht die Anzahl der Stellen wieder verringern. Angesichts der vielen anhängigen Verfahren und der anstehenden großen Zahl von Pensionierungen "brauchen wir jede Frau und jeden Mann".

"Könnte man als europäisches Asylgesetzbuch bezeichnen"

Ob das neue EU-Gesetzeswerk die Bezeichnung "historisch" verdient, die der Bundeskanzler verwendet hat, das werde die Zukunft zeigen, sagt Seegmüller. Neu sei jedenfalls, dass die EU-Verordnungen "unmittelbar geltendes Recht" bedeuten und "nicht mehr der Umsetzung in nationales Recht" bedürfen, wie dies bei den bisherigen Richtlinien der Fall ist. "Anstelle des etwas sperrigen Namens Gemeinsames Europäisches Asylsystem könnte man die neuen Regelungen auch als europäisches Asylgesetzbuch bezeichnen."

Das Asylgesetz, welches das bisherige europäische Richtlinienrecht in nationales Recht umgesetzt habe, bedürfe wahrscheinlich einer grundlegenden Überarbeitung. "Bis die neuen Regelungen zur Anwendung kommen, haben wir nun eine Übergangsfrist von zwei Jahren, in denen wir uns auf diese einstellen können. Bis etwa Mitte 2026 werden wir noch nach dem bisherigen Recht entscheiden."

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Danach müssten das BAMF als Rechtsanwender auf der Behördenebene und die dessen Entscheidungen kontrollierenden Verwaltungsgerichte das neue Recht anwenden. Das Bundesamt arbeite bereits daran, seine Abläufe an das neue europäische Verfahren und eventuelle ergänzende neue nationale Regelungen anzupassen. "Parallel dazu werden sich auch die Verwaltungsgerichte mit dem neuen Recht vertraut machen, und zwar sowohl mit den materiell-rechtlichen Bestimmungen als auch mit den Verfahrensvorschriften, damit ein nahtloser Übergang vom alten in das neue Recht gewährleistet ist."

Nun gewährt die Bundesrepublik Migranten unabhängig von der EU-Asylreform vielerlei Klagemöglichkeiten: Zunächst gegen die Überstellung in das für sie zuständige EU-Land, später gegen die inhaltliche Ablehnung ihrer Anträge; und falls es tatsächlich zu einem Abschiebungsversuch kommt, auch dagegen. Jahre später schließlich, falls sie Arbeit gefunden haben und Deutsch lernen, können sie ihren Rechtsanspruch auf Einbürgerung einklagen.

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Auf die Frage, ob es eine Besonderheit des deutschen Rechtsstaates sei, dass unerlaubt eingereiste Migranten, die Asylanträge stellen, an so vielen Stellen klagen dürfen, sagt Seegmüller: "Dass der Rechtsschutz in anderen demokratischen Rechtsstaaten geringer ist, nehme ich nicht wahr. Er mag anders sein. Jedes nationale Recht hat natürlich seine Eigenheiten."

Den Umfang des Rechtsschutzes in Deutschland bestimme Art. 19 Abs. 4 GG. "Er gibt eindeutig vor, dass Rechtsschutz gegen jeden Akt hoheitlicher Gewalt gegeben ist und die gerichtliche Kontrolle eine vollständige tatsächliche und rechtliche Kontrolle der Hoheitsakte sein muss. Diesen sicherzustellen, ist Aufgabe der Verwaltungsgerichte."


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