An ein normales Leben ist für die Opfer nicht zu denken: Gut anderthalb Jahre nach der Vergewaltigung einer Camperin in der Siegaue bei Bonn können die junge Frau und ihr Freund nach eigenen Angaben nur schwer ihren Alltag meistern. Der Täter, der das Paar aus Süddeutschland in jener Nacht überfiel, ist zwar verurteilt worden. Doch der Bundesgerichtshof (BGH) hat das Urteil teilweise aufgehoben.
Die Richter verlesen im Revisionsprozess bedrückende persönliche Erklärungen der Opfer, in denen diese ausführlich berichten, wie es ihnen in den vergangenen Monaten ergangen ist. Demnach leiden beide nach wie vor stark unter den Geschehnissen, haben Angstzustände, mussten ihr Studium unterbrechen und finden keine Ruhe. "Stellen Sie sich vor, Sie versuchen ans Ufer zu schwimmen, und jedes Mal, wenn Sie fast da sind, kommt eine Welle und zieht Sie zurück" - so beschreibt die junge Frau ihre vergeblichen Versuche, wieder Fuß zu fassen. Als sie von der BGH-Entscheidung erfahren habe, sei sie fassungslos gewesen: "Wenn ich heulen und kotzen gleichzeitig könnte, so hätte ich das getan."
Das Paar habe nach der ersten Verurteilung versucht, mit der Sache abzuschließen. "Aber das war eine Illusion", zitiert die "Bild"-Zeitung die junge Frau. "Die Augenringe, die ich bekommen hatte, verschwinden nicht mehr. Die Leichtigkeit, mit der ich durch das Leben ging, war verschwunden." Heute sei ihr Verstand in vielerlei Hinsicht wirr, sagte die 25-Jährige: "Ich bin mit dem Alltag gnadenlos überfordert."
Der Vorsitzende Richter Klaus Reinhoff, rekapituliert aus dem erstinstanzlichen Urteil, was sich in der Tatnacht ereignete: Mit einer Astsäge durchschlug der Angeklagte das Zelt der damals 23-Jährigen und ihres 26 Jahre alten Freundes. Er bedrohte sie mit dem machetenähnlichen Werkzeug, forderte Geld und zwang die Studentin nach draußen, wo er sie vergewaltigte. In dem Prozess vor einem Jahr bestritt der Mann die Tat, doch DNA-Spuren überführten ihn.
Im Revisionsprozess wird ein neues psychiatrisches Gutachten ausschlaggebend dafür sein, ob die Strafe verringert wird.
Der Angeklagte, der im ersten Prozess aufbrausend und aggressiv aufgetreten war, hält sich zum Auftakt des Revisionsprozesses mit Äußerungen weitgehend zurück. Er trägt wieder Hand- und Fußfesseln und wird von zwei Justizbediensteten bewacht.
Eine Strafe habe eine klare Bestimmung: Sie soll ein gerechter Schuldausgleich sein. Gleich mehrfach sagte Richter Klaus Reinhoff am Freitagmittag diesen Satz. Es wirkte beinahe so, als wolle er den Zuschauern im Saal deutlich machen, warum ein Gericht oftmals anders entscheiden muss, als es die Öffentlichkeit erwartet.
Kurz zuvor hatte der Vorsitzende das neue Urteil im Fall der Vergewaltigung in der Bonner Siegaue verkündet. Statt elfeinhalb Jahren muss Erix X. nur zehn Jahre in Haft. Dass eine Empörung über die niedriger ausgefallene Strafe ausblieb, hatte vor allem mit der besonnen vorgetragenen Begründung des Richters zu tun.
Wie in den Prozesstagen zuvor, wurde der 32-jährige X. mit Fesseln an Händen und Füßen in den Gerichtssaal geführt.
In der Nacht zum 2. April 2017 war Eric X. über die Bonner Siegaue geschlendert und hatte dabei ein campendes Pärchen entdeckt. Mit einer Astsäge schlitzte er das Zelt auf, erbeutete zunächst sechs Euro und eine Musikbox und vergewaltigte anschließend die Studentin. Das Bonner Landgericht verurteilte ihn wegen besonders schwerer Vergewaltigung und besonders schwerer räuberischer Erpressung im vergangenen Jahr zu elfeinhalb Jahren Haft.
Der Bundesgerichtshof hob das Urteil teilweise auf. Die Karlsruher Richter waren der Meinung, dass die Persönlichkeitsstörung und die seelische Abartigkeit, die ihm ein erster Gutachter bescheinigt hatte, nicht ausreichend gewürdigt worden sei. Im neu angesetzten Verfahren kam eine zweite Gutachterin zu dem Schluss, dass X. zwar dissoziale und psychopathische Züge aufweise, von einer Persönlichkeitsstörung aber könne keine Rede sein. X. sei ein "psychisch gesunder Mann", befand sie.
Richter Reinhoff zeichnete nun ein beinahe vernichtendes Charakterbild des Angeklagten. Eric X. sei ein Mann, der in der Lage sei, "seine Interessen rücksichtslos durchzusetzen und ohne Reue zu leben". Er habe sein Opfer in dieser Nacht gedemütigt, weil er sie als "bitch" beschimpfte und sie in Anwesenheit ihres Freundes vergewaltigte. "Durch die Art der Tatbegehung haben Sie jegliche Empathie für andere vermissen lassen", sagte Reinhoff mit ruhiger Stimme. "Sie haben das Leben zweier Menschen nachhaltig geschädigt."
Staatsanwaltschaft und Nebenklage hatten in ihren Plädoyers die Bestätigung der erstinstanzlichen Haftstrafe gefordert. In der Höhe aber wollte Richter Reinhoff nicht folgen. Auf der Suche nach einem gerechten Urteil habe die Kammer strafmildernde Umstände berücksichtigen müssen: Die Tat habe der Mann aus Ghana spontan begangen, "aus einer momentanen Laune heraus". X. habe nicht erwartet, dass Frauen hierzulande einfach in der Öffentlichkeit zelten, da dies in seiner Heimat unüblich sei.
Die Beute im Wert von 125 Euro sei als gering einzustufen. Zudem sei X. Ersttäter, als Ausländer ohne nennenswerte Deutschkenntnisse besonders "haftempfindlich", auch sein schlechter Gesundheitszustand sei in die Strafbemessung eingeflossen. Dass X. die Tat bis heute leugne, könne ihm wiederum nicht zu seinem Nachtteil ausgelegt werden. "Das ist sein gutes Recht als Angeklagter."
Nebenklage-Vertreterin Gudrun Roth zeigte sich von dem Urteil kaum überrascht. "Wir leben - Gott sei Dank - in einem Rechtsstaat. Dem Opfer hilft die Strafe ohnehin nicht." Verteidiger Martin Mörsdorf lobte die Begründung des Richters. "Wir haben sehr viele kluge Worte gehört", sagte er. Dennoch hätte er sich gewünscht, dass sein Mandant schon im ersten Prozess gestanden und sich bei den Opfern entschuldigt hätte. "Auf diese Weise hätten wir das alles deutlich verkürzen können."
X. hatte sich in seinem letzten Wort als gläubiger Christ bezeichnet. Das wollte Reinhoff so nicht stehen lassen. "Wie lässt sich eine solche Tat mit dem christlichen Glauben und dem Grundsatz der Nächstenliebe in Einklang bringen", fragte er den Angeklagten.