FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer
Dienstag, 13.07.2021, 08:34
Am zweiten Prozesstag um den vereitelten Terroranschlag von München im Mai 2020 wurden neue erschreckende Details bekannt. So berichtete eine Polizeibeamtin, dass der beschuldigte Afghane Ali Reza K. während der Fahrt vom Polizeirevier in die Haftanstalt sein Bedauern über das fehlgeschlagene Blutbad äußerte - und dabei lachte!
Außerdem kam ans Licht, dass der heute 26-Jährige bereits im Jahr 2019 zum Messer gegriffen hatte und einen Menschen umbringen wollte. Damals war er in einem Münchner Jugendhaus der Caritas untergebracht.
Der offenbar psychisch schwerkranke Zuwanderer, der mehrfach in Fachkliniken behandelt worden war, wollte am 10. Mai 2020 mit einem PS-starken Auto in die Fußgängerzone zwischen Stachus und Marienplatz rasen und möglichst viele Menschen töten. Das Vorhaben scheiterte, weil es ihm nicht gelang, ein Tatfahrzeug zu kapern. Der mit einem Messer bewaffnete Mann hatte vier Autofahrer an einer roten Ampel abgepasst und versucht, gewaltsam in die Fahrzeuge einzudringen. Zivilpolizisten, die zufällig in der Nähe waren, konnten den Angreifer überwältigen.
An diesem Montag sagte eine 41 Jahre alte Polizeiobermeisterin aus, die den Beschuldigten gemeinsam mit einem Kollegen am Tattag vom Polizeirevier in die Haftanstalt gebracht hatte. Die Fahrt führte am Stachus vorbei. Dort habe Ali Reza K. aus dem Fenster geblickt, an die Scheibe geklopft und gesagt: "Da wollte ich reinfahren!" Dann folgte der unfassbare Satz: "Schade, dass es nicht geklappt hat!" Dabei, so die Polizistin vor Gericht, habe der Beschuldigte "gelächelt".
Ihr 35-jähriger Kollege, der mit im Streifenwagen saß, ergänzte, der Afghane habe unmissverständlich von einem "Terroranschlag" gesprochen, bei dem er "möglichst viele Menschen in den Tod reißen wollte". Man habe gemerkt, wie enttäuscht er war, "dass es nicht geklappt hat". Der Polizist: "Er erzählte, als sei das alles ganz normal, als würde er übers Kaffeetrinken sprechen." Der Beschuldigte habe völlig ruhig und "klar im Kopf" gewirkt. Laut den Ermittlungen stand er während der Tat nicht unter dem Einfluss von Drogen, Alkohol oder Medikamenten.
Dass jemand seine mörderischen Absichten so offen zugibt, ein Scheitern des Blutbads in der Münchner Innenstadt bedauert und dabei auch noch lächelt - auf die beiden Beamten im Streifenwagen wirkte dieses Gebaren zutiefst verstörend. Die Polizistin: "Das war mir unheimlich!"
Unheimlich mutet auch die Szene an, als der Vorsitzende Richter mit einiger Mühe ein fest verschnürtes Päckchen öffnet und einen langen Gegenstand herauszieht: Asservat Nummer ÜL 50002/2021 - das Tatmesser! Damit soll Ali Reza K. versucht haben, ein Auto in seine Gewalt zu bringen, welches er dann als "rollende Waffe" einsetzen wollte. Das Küchenmesser - schwarzer Griff, 20 Zentimeter lange Klinge, einseitig geschliffen - wird vom Richter begutachtet. Nach dem Abtasten der Klinge stellt er fest: "Scharf" - und wendet sich an den Beschuldigten: "Herr K., erkennen Sie dieses Messer wieder?" Der Afghane nickt.
Es ist die einzige nennenswerte Regung des Beschuldigten an diesem Tag. Mit starrer Mine verfolgt der 1,67 Meter große Mann die Ausführungen von Zeugen, Richtern, dem Oberstaatsanwalt und dem psychiatrischen Sachverständigen Matthias Hollweg. Kein Räuspern, kein Drehen des Kopfes, kein Mundwinkelzucken, kein erkennbares Arbeiten der Gesichtsmuskulatur. Nur das regelmäßige Schließen der Augenlider spricht gegen den Eindruck, im Gerichtssaal säße ein Roboter.
Dass der Beschuldigte offenkundig psychisch schwerkrank ist und seit längerem unter Wahnvorstellungen leidet, bestätigen am zweiten Verhandlungstag mehrere Zeugen, allen voran der ehemalige Leiter eines Caritas-Jugendhauses in München. In der Einrichtung war Ali Reza K. ab Herbst 2019 für mehrere Monate untergebracht, in einer therapeutischen Gruppe für schwer traumatisierte Flüchtlinge. "Das Klientel ist extrem schwierig", sagte der als Zeuge geladene Sozialpädagoge. "Und Ali Reza K. war der schwierigste Klient, den ich in 20 Jahren hatte."
Der frühere Chef des - mittlerweile geschlossenen - Heims erklärte, Ali Reza K. sei direkt aus der geschlossenen Psychiatrie in seine Einrichtung gekommen. "Wir haben gleich gesehen: Der ist völlig neben der Spur." Schon bei kleinsten Anlässen sei der Beschuldigte ausgerastet und gewalttätig geworden. Dann habe er den Fernseher im Gemeinschaftsraum zertrümmert oder Papiere verbrannt.
Am 27. September 2019 sei es zu einem besonders dramatischen Zwischenfall gekommen. Bei einem Spaziergang sei Ali Reza K. mit einem Nachbarn des Jugendhauses in Streit geraten, habe sich das Hemd vom Leib gerissen und wollte auf ihn zustürmen. "Daraus ist ein Mordgedanke entstanden", so der Zeuge. Ali Reza K. habe gesagt: "Wenn ich den wiedersehe, bringe ich ihn um!" Tatsächlich griff der Afghane tags darauf in der Küche des Jugendhauses ein langes Messer, mit dem er den Nachbarn töten wollte. Ein anderer Jugendlicher aus Afghanistan konnte ihn im letzten Moment zurückhalten. "Anschließend war Ali Reza K. noch fünf bis sechs Tage im Dauermodus: Den Nachbarn bringe ich um!"
Natürlich habe die Einrichtung die Polizei eingeschaltet, so der Ex-Chef. Doch dort habe man gesagt: "Das reicht nicht aus, um den Mann in eine psychiatrische Klinik zwangseinweisen zu lassen." Dafür habe Ali Reza K. schließlich selbst gesorgt, berichtet der Zeuge: Anfang Oktober 2019 fing er den Fahrer ab, der immer Medikamente in die Einrichtung bringt - und schnappte sich zahlreiche Arzneimittel. In seinem Zimmer schluckte er seine komplette Monatsration Tabletten. Er brach zusammen und wurde in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen.
Der Sozialpädagoge der Caritas erklärte vor Gericht, dass Ali Reza K. innerhalb der Einrichtung als "extrem schwieriger Fall" bekannt war und von einer Ärztin sogar als "Pulverfass" bezeichnet wurde. Auch der Polizei war der Afghane ein Begriff, nicht nur wegen des Beinahe-Messerangriffs auf einen Nachbarn des Jugendhauses. Am 21. März 2020 erschien Ali Reza K. auf einer Münchner Polizeidienststelle und wollte die Entführung seiner Schwester durch die italienische Mafia anzeigen. Er sei durch ein Youtube-Video aufgefordert worden, "einen Terroranschlag in Deutschland zu begehen", behauptete er auf dem Revier. Tue er das nicht, würde seine in den Niederlanden lebende Schwester "von der Mafia entführt".
Die Polizisten zweifelten an der Darstellung des Mannes, der auf sie einen verwirrten Eindruck machte. Sie befanden: "Nach erster Einschätzung des Sachverhalts besteht aktuell keine Gefährdung, weder für die Schwester des Betroffenen noch für die öffentliche Sicherheit."
Diese Auffassung mag im konkreten Zusammenhang angemessen und richtig gewesen sein - in der Rückschau, unter Berücksichtigung aller jetzt verfügbaren Informationen, wirkt sie befremdlich. Die Münchner Rechtsanwältin Ruth Beer, die Ali Reza K. als Pflichtverteidigerin vertritt, sagte zu FOCUS Online: "Es ist tragisch, dass niemand die von Ali Reza K. ausgehende Gefahr erkannt hat, weder die Polizei noch die Behörden oder erfahrene Psychiatrie-Ärzte."
Die Juristin will sich nicht anmaßen, Vorwürfe gegen bestimmte Ämter oder Verantwortliche zu erheben. Allerdings hält sie es für "äußerst bedenklich", dass ihr Mandant trotz der Fülle an Auffälligkeiten und Warnhinweisen "offenbar nicht als Person eingestuft wurde, die sich und andere Menschen massiv gefährden könnte".
Dass mit Ali Reza K. etwas nicht stimmte, war freilich vielen Weggefährten klar, die ihn aus Begegnungen etwa im Heim kannten. Ein Landsmann aus Afghanistan berichtete im Prozess, Ali Reza K. habe immer wieder geäußert, die Mafia würde ihn "verfolgen" und habe seine "Familie getötet". Der Zeuge: "Der war in einer anderen Welt." Er beschrieb den Beschuldigten als Einzelgänger, der ständig Angstgefühle äußerte und Wert darauf legte, ein Messer bei sich zu tragen - "um sich zu verteidigen".
Ob die Stichwaffe allein für den Selbstschutz gedacht war, darf bezweifelt werden, denn schon vor dem - letztlich gescheiterten - Terrorangriff drohte er damit, das Messer gegen einen anderen Menschen einzusetzen. Konkret betroffen war ein junger Serbe, der Ali Reza K. ein Auto verkauft hatte. Als es im Nachhinein zu Streitigkeiten kam, drohte der Afghane am Telefon: "Wenn Du nochmal zu mir kommst, dann steche ich Dich ab!"
Ali Reza K. war 2011 nach Deutschland gekommen. Als Grund für seine Flucht gab er Gewalt innerhalb seiner Familie an. So sei er vom Vater "grün und blau geschlagen" worden und habe deswegen schon zwei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Der Afghane wurde zwar nicht als Flüchtling anerkannt, musste Deutschland aber aufgrund des Abschiebestopps nach Afghanistan auch nicht verlassen. Zwar prüfen die Behörden aktuell, ob demnächst eine Abschiebung möglich wäre, doch das hängt vom Ausgang des Gerichtsprozesses ab. Denn im Raum steht die dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Fachklinik.
Am Ende des zweiten Prozesstages zeigt der Beschuldigte doch noch eine menschliche Regung - als der Richter ihn zur beschlagnahmten Tatwaffe fragt. "Brauchen Sie das Messer noch?", will er wissen. Ali Reza K. schüttelt kurz den Kopf. Und lacht.
Quelle: focus.de vom 13.07.2021