Analyse von Ulrich Reitz Scholz und Baerbock treffen eine brisante Entscheidung - einfach so, am Volk vorbei

FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz

Montag, 22.07.2024, 21:24

Olaf Scholz und Annalena Baerbock wollen eine neue Raketen-Nachrüstung in Deutschland durchsetzen. Das aber könnte Deutschland ins Fadenkreuz von Putin rücken. Eine Debatte darüber gab es bislang nicht. Nun regt sich Widerstand gegen den Plan. Scholz und Baerbock treffen eine brisante Entscheidung - einfach so, am Volk vorbei

Deutschland stellt amerikanische Mittelstreckenraketen auf. Die auch mit Atomraketen beladen werden können. Das war das wohl überraschendste Ergebnis des letzten Nato-Gipfels. Bundeskanzler Olaf Scholz unterzeichnete eine entsprechende Verabredung. Die Bundesregierung stellt die neue Nato-Nachrüstung auf deutschem Boden - ab 2026 - als Normalfall dar, als das Schließen einer "Fähigkeitslücke", als nötige Reaktion auf eine Aufrüstung Russlands.

Die Frage ist aber: Kommen Olaf Scholz und seine Regierung damit durch?

Denn es handelt sich um eine klare Verharmlosung. Wenn amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland stationiert werden, verändert das Deutschlands Sicherheit. Es ist durchaus denkbar, dass die Bundesrepublik dadurch zum Angriffsziel Russlands wird - und zwar, weil Moskau durch Berlin seine Nuklearstrategie durchkreuzt sieht. Das ist unkomplizierter, als es klingt.

Deutschlands Wieder-Aufrüstung: Kommt Baerbock mit ihrer Version durch?

An der Spitze der einmaligen deutschen Wieder-Aufrüstung stehen die beiden für Deutschlands Sicherheit zuständigen Ampel-Minister: der Sozialdemokrat Boris Pistorius, der sich vorgenommen hat, Deutschland wieder "kriegstüchtig" zu machen. Und die Grüne Annalena Baerbock, die aktuell bei einer Konferenz der europäischen Außenminister in Brüssel erklärte, Russland habe die Zusammenarbeit mit dem Westen in der Abrüstung "kaputt gemacht".

Aber: Stimmt das überhaupt? Und: Kommt Baerbock mit dieser Version durch?

Während renommierte Militärstrategen wie Claudia Major und Carlo Masala die Nachrüstung im Sinne der Regierung als alternativlos verteidigen, regt sich Widerstand bei den Sozialdemokraten im Bundestag. Der erste, der große Bedenken öffentlich machte, ist nicht irgendjemand, sondern der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich.

Das ist brisant, denn Mützenichs Job ist es, für den sozialdemokratischen Bundeskanzler in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion die Mehrheiten zu organisieren.

Aus der Abrüstungspartei ist inzwischen eine Aufrüstungspartei geworden

Bemerkenswert ist die Haltung der Grünen. Denn bei der ersten Nachrüstung in Deutschland, Mitte der 80er-Jahre, standen sie noch auf der anderen Straßenseite - sie waren Teil der Friedensbewegung, die Zehntausende von Menschen gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland mobilisierte. Aus der Abrüstungspartei von damals ist inzwischen eine Aufrüstungspartei geworden.

Wobei eins geblieben ist: Die moralische Unbedingtheit, mit der damals Abrüstung als alternativlos verlangt wurde, entspricht jener, mit der Grüne heutige Aufrüstung verlangen.

Und keine andere Partei - mit Ausnahme von Teilen der westdeutschen Union - ist derart offensiv für die weitere Belieferung der von den Russen überfallenen Ukraine mit Waffen wie Baerbock und die Grünen im Parlament. Dazu gehört die "Erzählung", mit Wladimir Putin sei nicht zu "verhandeln".

Baerbock sagt, Putin habe die Abrüstung "kaputt gemacht"

Dazu passt, dass Baerbock die "Friedensmission" von Ungarns Regierungschef Viktor Orban völlig undiplomatisch als "Ego-Trip" abqualifizierte. Ungarn ist Mitglied der Nato und der Europäischen Union, Orban hatte zuerst mit Ukraines Selenskyj gesprochen, danach mit Russlands Putin, dann mit Chinas Präsident Xi Jinping, schließlich mit Joe Biden und abschließend mit Donald Trump. Dem Republikaner traut Orban zu, Frieden in der Ukraine zu stiften.

Baerbock sagt, Putin habe die Abrüstung "kaputt gemacht". In den vergangenen Jahren haben allerdings die Amerikaner wesentliche Abrüstungsvereinbarungen, die sie zuvor mit den Russen geschlossen hatten, gekündigt. Dazu zählt der ABM-Vertrag, der Open Sky Vertrag und der INF-Vertrag. Es geht um Luftinspektionen von Raketen und deren Aufstellung.

Baerbock gibt indessen ausschließlich Putin die Schuld für die nun beginnende Wiederaufrüstung. Putin habe das Arsenal, mit der er "unsere Freiheit in Europa bedroht, kontinuierlich ausgebaut". Und er habe schon seit Jahren "mit Abrüstungsverträgen" und "unserer gemeinsamen Friedensarchitektur gebrochen". Nötig seien "verstärkte Abschreckung" und "zusätzliche Abstandswaffen". Alles andere nennt die Grüne "verantwortungslos" und "auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml".

Eine weitreichende Entscheidung ist gefallen - ohne Debatte darüber

Baerbock - und mit ihr Scholz - haben allerdings ein Problem: Nicht nur Viktor Orban teilt nicht deren "Narrativ", sondern auch nicht Donald Trump, der der nächste US-Präsident werden kann. Naturgemäß ist auch nicht klar, ob Trump die zwischen Biden und Scholz und der Nato vereinbarte Nachrüstung mit atomwaffenfähigen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden mitträgt.

Auch, wie die derzeit wahrscheinlichste demokratische Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris über die brisante, aber komplexe Materie denkt, ist nicht bekannt. Abgesehen davon, dass erst in einigen Wochen, Ende August, feststehen wird, ob Harris tatsächlich für die Demokraten den altersschwachen Joe Biden ersetzen soll.

Mit anderen Worten: Mit der Nachrüstung mit US-Raketen ist eine für Deutschland bedeutende, in ihren strategischen Sicherheitsaspekten weitreichende Entscheidung gefallen - und das in einer Zeit größter außenpolitischer Verunsicherung und eines heißen Kriegs an der Nahtstelle zwischen Ost und West. Und das: ohne Debatte darüber.

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