Analyse von Ulrich Reitz Abschieben ist nicht - Deutschland steckt im Islamisten-Teufelskreis fest

FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz

Dienstag, 30.04.2024, 17:52

Die Kalifat-Befürworter sind eine totalitäre Herausforderung für die Demokratie in Deutschland - auch für die Sicherheit integrierter Muslime. Das zeigt ihr neuer Schlachtruf. Und Abschiebungen sind keine Lösung. Das Erschreckende am Kalifat-Aufmarsch ist die Herkunft der Demonstrierenden

Joe Boateng, der Mann hinter der Hamburger Kalifat-Demo und gleichzeitiger Lehramtsstudent, wendet sich nun in einem Video direkt an die Bundesinnenministerin. Boateng erinnert Nancy Faeser an ihren Amtseid, Gerechtigkeit gegen jedermann walten zu lassen. Er belehrt sie darüber, dass sie geschworen hat, jedermann seine Grundrechte vorbehaltlos zu gewähren. Er erinnert die Ministerin daran, dass die Bundesrepublik als Staat wertneutral ist, woraus sich ableite, dass jeder hier seine Weltanschauung leben und nach außen kommunizieren könne.

"Mit Befremden beobachten wir einen Trend in Deutschland, dass politischen Gegnern nicht diskursiv begegnet wird, sondern mit Verächtlichmachung, mit Desinformationskampagnen und Verbotsforderungen." Die Kalifat-Muslime warnen Faeser davor, sie solle mit einer Kampagne bewegt werden, die Plattform "Muslim interaktiv" zu verbieten.

Die Islamisten werfen Deutschland vor, totalitär zu sein

Faeser ist nicht der einzige Adressat. Direkt angesprochen wird in dem Video gleichfalls Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul. Der CDU-Mann hatte vor dem Islamismus gewarnt und vor Bestrebungen, ein Kalifat in Deutschland zu errichten. Boateng macht daraus, Reul habe sich, "anstatt seinem Berufsethos gerecht zu werden, Zuversicht und Sicherheit zu vermitteln", dafür entschieden, "Angst und Schrecken zu verbreiten und von Ihnen (Faeser) eine Verbotsentscheidung einzufordern."

Die mehr als 1000 Menschen, die sich in Hamburg friedlich zu einem unfriedlichen Zweck versammelten, skandierten den neuen Schlachtruf der Bewegung. Es ist ein Wort, das einer Umwertung aller Werte gleichkommt. Es ist mehr als eine Täter-Opfer-Umkehr. Die Islamisten werfen Deutschland vor, totalitär zu sein, eine: "Wertediktatur".

In dieser Optik werden aus totalitären Islamisten - im Besitz der alleinigen Wahrheit, des Koran, der wörtlich zu befolgen ist - Befreiungskämpfer. Wie ihre Brüder und Schwestern im Nahen Osten, die sich gegen das Joch westlich-israelischer "Kolonialisierung" auflehnten, was nur zu heilen sei, wenn es durch eine islamische Ordnung ersetzt werde.

"Kalifat ist die Lösung": Sie wollen feinsten Totalitarismus

Mit anderen Worten: feinster Totalitarismus, den Murat Kayman, Mitgründer der liberalen Alhambra-Bewegung, so erklärt: "Ist doch klar: Wer von der Diktatur des eigenen Willens träumt und eine Gesellschaftsordnung herbeisehnt, in der alle so leben müssen, wie man selbst es für richtig hält, für den ist eine demokratische Gesellschaft natürlich eine Diktatur von Werten."

Die Propagandisten eines Kalifat-Staates litten nicht "an dem vermeintlichen Unrecht und einer angeblichen Unterdrückung ihrer Freiheit in Deutschland", sondern: "Sie leiden an der Freiheit all jener, die nicht so leben wollen, wie sie es für richtig halten." Deshalb stand auf den Plakaten in Hamburg: " Kalifat ist die Lösung."

Kalifat, so formuliert es der liberale Moslem Eren Güvercin, ist ein "religiöser Führerstaat", also das Gegenteil einer Demokratie, in der Religion Privatsache ist. Wegen dieser Vorstellung wurde die Organisation Hizb ut Tahrir vor 21 Jahren verboten, und zwar vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily, den sie bei den Sozialdemokraten nicht ohne Stolz den "Roten Sheriff" nannten.

Der Verfassungsschutz ist überzeugt, dass "Muslim Interaktiv" eine Nachfolge-Organisation sei. Darum werden auch die Forderungen an die Adresse von Faeser laut, diese Plattform und zwei weitere, "Generation Islam" und "Realität Islam" zu verbieten. Wären sie verboten, könnten sie nicht mehr, wie in Essen im November und jetzt in Hamburg und schon vor vier Jahren in Berlin ihre Anhänger auf den Straßen zu Demonstrationen pro Kalifat und contra Deutschland ("Staatsräson ist Mord") zusammentrommeln.

Es ist wie Hase und Igel, wobei der Hase leider die Demokratie ist

Sie dürften auch nicht in diesen wirklich gut gemachten Videos auf ihren Plattformen in den sozialen Medien Werbung für diese Art von Islam machen - Werbung bei jungen Moslems, die sich so etwas in wachsender Schar anschauen.

Sicher, relativ schnell gäbe es Nachfolge-Plattformen, aber dann müsste die Bundesinnenministerin die eben auch sofort wieder verbieten. Es ist ein bisschen wie Hase und Igel, wobei der Hase leider die Demokratie ist.

Bislang findet die Bundesinnenminister das Islamisten-Treiben vor allem "schwer erträglich". Und der Bundesjustizminister Marco Buschmann glaubt an diese Lösung: "Wem ein Kalifat lieber sein sollte als der Staat des Grundgesetzes, dem steht es frei, auszuwandern." Dahinter steckt ein gefährliches Missverständnis.

Denn das Problem erwächst erst daraus, dass die Kalifatis von ihrer Freiheit, das Land zu verlassen, keinen Gebrauch machen wollen. Sie wollen vielmehr bleiben - und uns, die Demokraten, dazu bringen, nach ihrer religiösen Fasson selig zu werden. Wir müssten nur erkennen, dass Allah recht hat. Weigern wir uns, werden wir gezwungen, die entsprechende Drohung wurde in Hamburg so öffentlich wie unmissverständlich herausgeschrien.

Es gibt hier nichts abzuschieben

"Diese Kalifatsanhänger tanzen unserem Rechtsstaat auf der Nase herum und sind auch für deutsche Muslime eine Gefahr." Die sehr konkret sein kann - wer für das wirbt, was doch eigentlich Ziel jeglicher Integration von Moslems sein sollte, einen Demokratie-kompatiblen Reform-Islam, der lebt gefährlich.

Menschen wie Mouhanad Khorchide, der Professor in Münster ist, oder der Islamexperte Ahmad Mansour müssen von der Polizei vor ihren radikalen Glaubensbrüdern geschützt werden. Khorchide hatte schon im Januar 2015 der Bundeskanzlerin Angela Merkel widersprochen, die behauptet hatte, die salafistischen Anschläge von Paris hätten nichts mit dem Islam zu tun. Seyran Ates, die in Berlin eine Moschee für Frauen und Männer aufgemacht hat, lebt unter dem 24-Stunden-Schutz der Polizei - seit sieben Jahren.

Wie komplex das Islamisten-Problem ist, bringt FDP-Mitglied Eren Güvercin auf diesen Punkt: Es handelt sich bei den allermeisten der Kalifat-Freunde nicht um Geflüchtete, sondern: deutsche Staatsbürger. Kinder und Kindeskinder von Einwanderern, auch solche, die der deutsche Staat einst als billige Arbeitskräfte "anwarb". In Deutschland geboren, auf deutsche Schulen gegangen, danach auf deutsche Universitäten. Es gibt hier nichts abzuschieben. Und es handelt sich nicht nur um ein Integrations-, sondern auch ein Bildungsversagen.

Hier schließt sich ein Kreis - ein Teufelskreis

Islam-Experte Güvercin sagt, Deutschland habe "das Problem verschlafen". Die islamistischen Plattformen, um die es jetzt geht, sind seit mehr als fünf Jahren "on". Weshalb lässt man sie gewähren? Und wenn das deutsche Versammlungsrecht Demonstrationen erlaubt, bei denen ein Putsch gegen die Demokratie gepredigt wird und auf denen Demokraten mit düsteren Gewaltdrohungen belegt werden, weshalb ändert man dann nicht das Versammlungsrecht?

Bundesinnenministerin Faeser hat in die Kameras gesagt, Verbote islamistischer Organisationen kündige man nicht öffentlich an. Das ist offenkundig falsch: Das Verbot des Palästinenser-Netzwerks Samidoun hatte Faeser vorher angekündigt.

Güvercin fragt, weshalb unbescholtene Muslime in Deutschland "im Stich gelassen" würden. Übrigens auch von den muslimischen Verbänden in Deutschland: "Muslimische Verbände, die sich als Religionsgemeinschaft bezeichnen, haben kein einziges Wort dazu (den Islamisten-Demos) verloren. Das ist ein Skandal."

Mehr als das, es ist auch gefährlich: Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan und seine Religionsbehörde Diyanet "gestalten das muslimische Leben in Deutschland mehr als wir deutschen Muslime und unsere Bundesregierung", so Güvercin.

Hier schließt sich ein Kreis. Ein Teufelskreis. Bei Einbürgerungen, darauf weist der bekannte Medienanwalt Ralf Höcker hin, werde nicht geprüft, ob man auf solchen Veranstaltungen wie in Hamburg eine islamistische Gesinnung gezeigt habe.


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