Michael Sergius Graf von der Schulenburg
BIOGRAFIE
Der Autor ist ehemaliger Assistant Secretary-General der Vereinten Nationen und hat in vielen Konfliktregionen der Erde gearbeitet; unter anderem in Langzeitmissionen in Afghanistan, Haiti, Pakistan, Iran, Irak und Sierra Leone, aber auch in Syrien, Somalia, Zentralasien, auf dem Balkan und in der Sahel-Region.
19.11.2023 aktualisiert am 19.11.2023 - 21:40 Uhr
Ukrainian Presidency
In seiner Analyse, die ebenfalls auf der Website der Berliner Zeitung erschienen ist, stellt Alexander Dubowy demgegenüber die Sinnhaftigkeit einer schnellen Friedenslösung infrage und erklärt, warum Russland diesen Krieg in die Länge ziehen will. Seine Analyse finden Sie hier.
Dies ist eine detaillierte Rekonstruktion der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen im März 2022 und der damit verbundenen Vermittlungsversuche des damaligen israelischen Premierministers, Naftali Bennett, unterstützt von Präsident Erdogan und Altbundeskanzler Schröder. Sie wurde von General a.D. H. Kujat und Prof. H. Funke erstellt, zwei der Initiatoren des kürzlich vorgestellten Friedensplans für die Ukraine. Und es ist auch im Zusammenhang mit deren Friedensplan, dass diese Rekonstruktion so überaus wichtig ist. Sie lehrt uns, dass wir es uns kein wiederholtes Mal leisten dürfen, Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen zu verzögern. Die menschliche und militärische Lage in der Ukraine könnte sich dramatisch verschlechtern, mit der zusätzlichen Gefahr, dass es zu einer weiteren Eskalation des Krieges führen könnte. Wir brauchen eine diplomatische Lösung dieses grausamen Krieges - und zwar jetzt!
Michael von der Schulenburg
Eine detaillierte Rekonstruktion durch Hajo Funke und Harald Kujat.
Berlin, den 12. Oktober 2023
Im März 2022 hatte es im Zuge von Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Seite ernsthafte Chancen gegeben, den Krieg zu beenden. Die Verhandlungsbereitschaft der Ukraine endete Ende März (vor der Entdeckung der Verbrechen von Butscha) auf Druck einiger Staaten des Westens, den Krieg fortzusetzen statt, wie dies der ukrainische Präsident Selenskyj wollte, ihn zu beenden.
Die Verhandlungen waren Anfang März 2022 durch den israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett vermittelt worden.
Naftali Bennett hatte ab der ersten Märzwoche 2022 Vermittlungsbemühungen unternommen. In einem Videointerview vom 4. Februar 2023 mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum sprach er erstmals ausführlich über den Ablauf und das Ende der Verhandlungen. Dieses Videointerview ist Grundlage eines detaillierten Berichts in der Berliner Zeitung vom 6. Februar 2023: "Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Israelischer Ex-Premier sprach erstmals über seine Verhandlungen mit Putin und Selenskyj. Der Waffenstillstand war angeblich zum Greifen nahe."
"Am 5. März 2022 war Bennett auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau geflogen. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet. (...) Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen Nato-Beitritt zu verzichten - eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. (...) Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbass und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen." (ebd.)
Bennett: "Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten großes Interesse an einem Waffenstillstand hatten (...).
Anfang März 2022 kontaktierte Präsident Selenskyj nicht nur Naftali Bennett, sondern auch den deutschen Altbundeskanzler Gerhard Schröder und bat ihn, seine engen persönlichen Verbindungen zu Putin zu nutzen, um zwischen Ukraine und Russland zu vermitteln, um Wege zu finden, wie dieser Krieg schnell beendet werden konnte. In einem am 21./22. Oktober dieses Jahres erschienenen Interview in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung sprach Schröder das erste Mal öffentlich über seine Rolle in den Bemühungen, die zu den Friedensverhandlungen am 29. März 2022 in Istanbul führten. Wie Bennett kam auch er zu dem Schluss, dass der Grund, warum diese Friedensverhandlungen nicht zum Ziel führten, darin lag, dass sich die Amerikaner querstellten. Wörtlich sagte er:
"Bei den Friedensverhandlungen im März 2022 in Istanbul mit Rustem Umjerow (damals Sicherheitsberater von Selenskyj, heute ukrainischer Verteidigungsminister) haben die Ukrainer keinen Frieden vereinbart, weil sie es nicht durften. Die mussten bei allem, was sie berieten, erst bei den Amerikanern nachfragen", und dann noch einmal: "Doch am Ende (der Friedensverhandlungen) passierte nichts. Mein Eindruck: es konnte nichts passieren, denn alles Weitere wurde in Washington entschieden. Das war fatal."
Bereits zuvor hatte sich der damalige türkische Außenminister, Mevlüt Cavusoglu, in ähnlicher Weise geäußert. In einem Interview mit der CNN-Türk am 20. April 2022 sagte er:
Während der vom türkischen Präsidenten Erdogan vermittelten Verhandlungen legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das zum Istanbuler Kommuniqué führte. Die Vorschläge der Ukraine wurden von der russischen Seite in einen Vertragsentwurf umgesetzt.
Vorschlag 1:
Die Ukraine erklärt sich selbst zu einem neutralen Staat und verspricht, blockfrei zu bleiben und auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten - im Gegenzug für internationale rechtliche Garantien. Zu den möglichen Garantiestaaten gehören Russland, Großbritannien, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel, aber auch andere Staaten wären willkommen, dem Vertrag beizutreten.
Vorschlag 2:
Diese internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine würden sich nicht auf die Krim, Sewastopol oder bestimmte Gebiete im Donbas erstrecken. Die Vertragsparteien müssten die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Partei diese Grenzen unterschiedlich versteht.
Vorschlag 3:
Die Ukraine verpflichtet sich, keiner Militärkoalition beizutreten und keine ausländischen Militärstützpunkte oder Truppenkontingente aufzunehmen. Jegliche internationale Militärübungen wären nur mit Zustimmung der Garantiestaaten möglich. Die Garantiestaaten bestätigen ihrerseits ihre Absicht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu fördern.
Vorschlag 4:
Die Ukraine und die Garantiestaaten kommen überein, dass (im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine oder einer Militäroperation gegen die Ukraine) jeder der Garantiestaaten nach dringenden und sofortigen gegenseitigen Konsultationen (die innerhalb von drei Tagen stattfinden müssen) über die Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (wie in Artikel 51 der UN-Charta anerkannt) (als Reaktion auf einen offiziellen Appell der Ukraine und auf dessen Grundlage) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten wird. Diese Hilfe wird durch die sofortige Durchführung der erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Maßnahmen erleichtert, einschließlich der Schließung des ukrainischen Luftraums, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und der Anwendung bewaffneter Gewalt mit dem Ziel, die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutralen Staat wiederherzustellen und dann zu erhalten.
Vorschlag 5:
Jeder derartige bewaffnete Angriff (jede militärische Operation überhaupt) und alle daraufhin ergriffenen Maßnahmen werden unverzüglich dem UN-Sicherheitsrat gemeldet. Diese Maßnahmen werden eingestellt, sobald der UN-Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat.
Vorschlag 6: Zum Schutz vor möglichen Provokationen wird das Abkommen den Mechanismus zur Erfüllung der Sicherheitsgarantien der Ukraine auf der Grundlage der Ergebnisse von Konsultationen zwischen der Ukraine und den Garantiestaaten regeln.
Vorschlag 7:
Der Vertrag gilt vorläufig ab dem Datum seiner Unterzeichnung durch die Ukraine und alle oder die meisten Garantiestaaten.
Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem (1) der dauerhaft neutrale Status der Ukraine in einem landesweiten Referendum gebilligt wurde, (2) die entsprechenden Änderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurden und (3) die Ratifizierung in den Parlamenten der Ukraine und der Garantiestaaten erfolgt ist.
Vorschlag 8:
Der Wunsch der Parteien, die Fragen im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol zu lösen, wird für einen Zeitraum von 15 Jahren in bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland eingebracht. Die Ukraine und Russland verpflichten sich außerdem, diese Fragen nicht mit militärischen Mitteln zu lösen und die diplomatischen Lösungsbemühungen fortzusetzen.
Vorschlag 9:
Die Parteien setzen ihre Konsultationen (unter Einbeziehung anderer Garantiestaaten) fort, um die Bestimmungen eines Vertrags über Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Modalitäten der Waffenruhe, den Rückzug von Truppen und anderen paramilitärischen Verbänden und die Öffnung und Gewährleistung sicher funktionierender humanitärer Korridore auf kontinuierlicher Basis sowie den Austausch von Leichen und die Freilassung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten vorzubereiten und zu vereinbaren.
Vorschlag 10:
Die Parteien halten es für möglich, ein Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands abzuhalten, um einen Vertrag zu unterzeichnen und/oder politische Beschlüsse zu anderen ungelösten Fragen zu fassen.
Die Tatsache der Unterstützung der Verhandlungen durch westliche Politiker ergibt sich aus der Abfolge der Telefonate und Treffen in der Zeit von Anfang März bis mindestens Mitte März.
Adam Schultz/White House
Michael von der Schulenburg, der ehemalige UN Assistant Secretary-General (ASG) in UN-Friedensmissionen, schreibt, dass
"Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen - und dass obwohl die Nato bereits an 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen nicht zu unterstützen." (ebd.)
Nach von der Schulenburg hatte es sich bei den russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen um eine historisch einmalige Besonderheit gehandelt, die nur dadurch möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und die "gleiche Sprache sprechen".
Am 28. März erklärte Putin, als ein Zeichen des guten Willens, die Bereitschaft, Truppen aus dem Raum Charkow und dem Raum Kiew abzuziehen; dies geschah offenkundig bereits vor dieser öffentlichen Erklärung.
Am 29. März 2022 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Haltung wichtiger westlicher Bündnispartner verhärtet. Sie formulierten im Gegensatz zum Vorgehen von Bennett und Erdogan Vorbedingungen für Verhandlungen, : "Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung ( ) zu ermöglichen." (Petra Erler: Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte (in: "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin", 1. September 2023)
Die Washington Post berichtete am 5. April, dass in der Nato die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: "Für einige in der Nato ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa." Selenskyj solle "so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist."
Am 9. April 2022 traf Boris Johnson unangemeldet in Kiew ein und erklärte dem ukrainischen Präsidenten, dass der Westen nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Laut britischem Guardian vom 28. April hatte Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj "angewiesen", "keine Zugeständnisse an Putin zu machen".
Darüber berichtete die Ukrainska Pravda am 5. Mai 2022 in zwei Beiträgen ausführlich:
Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramovich/Medinsky nach den Ergebnissen von Istanbul auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens in groben Zügen geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.
Johnson brachte zwei einfache Botschaften mit nach Kiew. Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist; man sollte Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautet, dass selbst wenn die Ukraine bereit ist, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, dass es der kollektive Westen aber nicht ist: "Wir können [ein Abkommen] mit Ihnen [der Ukraine] unterzeichnen, aber nicht mit ihm. Er wird sowieso alle über den Tisch ziehen", fasste einer der engen Mitarbeiter Selenskyjs den Kern des Besuchs von Johnson zusammen. Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur die Abneigung, sich auf Abkommen mit Russland einzulassen. Johnson vertrat den Standpunkt, dass der kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen, nun das Gefühl hat, dass Putin nicht wirklich so mächtig ist, wie sie es sich zuvor vorgestellt hatten.
Ukrainian Presidency
Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt.
Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: "Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen." Die britische Außenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der "Sieg der Ukraine (...) für uns alle eine strategische Notwendigkeit" sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse.
Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich zu schwächen. Laut New York Times geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf über die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges.
Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der Nato-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April 2022 gab der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor.
Die amerikanische Zeitschrift Responsible Statecraft schrieb am 2. September 2022:
"Hat Boris Johnson geholfen, ein Friedensabkommen in der Ukraine zu verhindern?" Einem kürzlich in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienenen Artikel zufolge haben Kiew und Moskau möglicherweise bereits im April eine vorläufige Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen.
"Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im März 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben", schreiben Fiona Hill und Angela Stent. "Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Region Donbas und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine Nato-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten.
Die Entscheidung, das Abkommen scheitern zu lassen, fiel mit Johnsons Besuch in Kiew im April zusammen, bei dem er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj drängte, die Gespräche mit Russland aus zwei wesentlichen Gründen abzubrechen: Mit Putin kann man nicht verhandeln, und der
Der Autor stellt in seinem Beitrag Fragen, die im weiteren Verlauf des Krieges immer größere Bedeutung gewonnen haben:
"Diese offensichtliche Enthüllung wirft einige wichtige Fragen auf: Warum wollten die westlichen Führer Kiew davon abhalten, ein offenbar gutes Verhandlungsergebnis mit Moskau zu unterzeichnen? Betrachten sie den Konflikt als einen Stellvertreterkrieg mit Russland? Und vor allem: Was wäre nötig, um wieder zu einem Verhandlungsergebnis zurückzukehren?"
Yevgeny Yepanchintsev/Imago
In seiner Ankündigung der Teilmobilmachung erklärte Putin am 21. September 2022:
"Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äußerten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. Diese Vorschläge betrafen vor allem die Gewährleistung der Sicherheit und Interessen Russlands. Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach der Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichtezumachen."
Anlässlich des Besuchs einer afrikanischen Friedensdelegation am 17. Juni 2023 zeigte Putin die in Istanbul ad referendum akzeptierte und paraphierte Vereinbarung demonstrativ in die Kameras.
Anhand der öffentlich zugängigen Berichte und Dokumente ist nicht nur nachvollziehbar, dass es im März 2022 eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft sowohl der Ukraine als auch Russlands gab. Offensichtlich einigten sich die Verhandlungspartner sogar ad referendum auf einen Vertragsentwurf. Selenskyj und Putin waren zu einem bilateralen Treffen bereit, bei dem das Verhandlungsergebnis finalisiert werden sollte. Die Tatsache, dass die wesentlichen Verhandlungsergebnisse auf einem Vorschlag der Ukraine beruhten, Selenskyj diese noch am 27. März 2022 gegenüber russischen Journalisten sehr positiv bewertete und sich bereits zuvor in ähnlicher Weise geäußert hatte, belegt, dass der Ausgang der Istanbuler Verhandlungen durchaus den ukrainischen Interessen entsprach.
Umso schwerer wiegt die westliche Intervention, die ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte. Die Verantwortung Russlands für den völkerrechtswidrigen Angriff wird nicht dadurch relativiert, dass die Verantwortung für die in der Folge entstandenen schwerwiegenden Konsequenzen für die Ukraine und deren westliche Unterstützer auch den Staaten zuzurechnen ist, die die Fortsetzung des Krieges verlangt haben.
Der Krieg hat nun ein Stadium erreicht, in dem eine weitere gefährliche Eskalation und eine Ausweitung der Kampfhandlungen nur durch einen Waffenstillstand verhindert werden kann, der vielleicht zum letzten Mal eine friedliche Lösung durch Verhandlungen ermöglicht.
Es gibt Friedensvorschläge von China, der Afrikanischen Union, Brasilien, Mexiko, Indonesien, einen auf Einladung des Vatikans entwickelten Vorschlag sowie einen von deutschen Experten vorgeschlagenen Weg zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Der Verlauf des Krieges seit den gescheiterten Istanbul-Verhandlungen und der gegenwärtig äußerst kritische Zeitpunkt sollten den verantwortlichen Staaten Anlass genug für ein Umdenken sein.
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Quelle: Berliner Zeitung