Ukraine und ihr Bandera-Kult: "Illiberale Tendenzen wachsen immer stärker"

Artikel von Nicolas Butylin

15.10.2024 o 4 Minuten Lesezeit

Als Marta Havryshko erste Morddrohungen bekommt, ist eine rote Linie für sie überschritten. Die im Westen der Ukraine geborene Historikerin fühlt sich in ihrer eigenen Heimat nicht mehr sicher - sie flieht jedoch nicht vor russischen Bomben, sondern vor dem Hass, dem sie in der Ukraine ausgesetzt ist. Havryshko vertritt nämlich die Ansicht, die ukrainische Gesellschaft wie auch der alliierte Westen verharmlosen die ukrainische Kollaboration während der Nazi-Herrschaft in Europa.

In der westukrainischen Großstadt Lwiw versammeln sich jedes Jahr zum 1. Januar Hunderte von Menschen, um Stepan Bandera, dem Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, zu ehren.
© Depositphotos/imago

"Die Ukraine beschönigt heute Symboliken der Nazi-Kollaborateure", sagt Havryshko im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Schon während ihrer Geschichtsausbildung in den 1990er Jahren an der Iwan-Franko-Universität in Lwiw habe man ihr gelehrt, dass es die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) war, die die Flamme der ukrainischen Unabhängigkeit am Leben hielt. Anführer waren während des Zweiten Weltkrieges Andrij Melnyk und Stepan Bandera. "Dass jene mit der Wehrmacht zusammengearbeitet haben, wird jedoch verschwiegen und unter den Teppich gekehrt", kritisiert Havryshko, "auch in der aktuellen ukrainischen Geschichtswissenschaft".

"Es sind nicht Wladimir Putin oder Wladimir Solowjow, die gerade in der ganzen Ukraine Straßen und Plätze nach Melnyk, Bandera oder Schuchewytsch (Befehlshaber der Ukrainischen Aufstandsarmee UPA) benennen. Die Ukraine gießt gerade Öl in das eigene identitätspolitische Feuer und begünstigt so russische Propagandanarrative", erklärt die Historikerin. "Natürlich bauscht die Kreml-Propaganda den Einfluss der extremen Rechten in der Ukraine auf, um die Invasion zu rechtfertigen", sagt Havryshko. "Aber das bedeutet doch nicht automatisch, dass es in der Ukraine überhaupt kein Problem mit rechtsextremen Tendenzen im Militär gibt."

Der Umgang mit der eigenen Geschichte nehme in der kriegsgebeutelten Ukraine groteske Züge an.

"Einerseits besucht Präsident Wolodymyr Selenskyj an jedem Jahrestag des Massakers von Babyn Jar die Menora-Gedenkstätte. Fast zeitgleich heroisieren Militäreinheiten der ukrainischen Streitkräfte, Nazi-Divisionen wie etwa die Waffen-SS-Division Galizien", so Havryshko. Sie nennt ein konkretes Beispiel, bei dem während einer Ausstellung im Museum der Geschichte Kiews, Parallelen zwischen Mitgliedern der 3. Sturmbrigade der ukrainischen Streitkräfte und Mitgliedern der Waffen-SS-Division gezogen werden. "Ich wiederhole mich: Es ist nicht Russland, das hier frei von jedweder Realität ein Äquivalent in die Welt setzt."

Havryshko wird von ihren ukrainischen Kritikern - darunter auch ehemalige Kollegen und Studenten - wiederum als "Kremlagentin" bezichtigt. Ukrainische Medien würden das kontroverse Thema nicht aufgreifen, da es laut Havryshko, "derzeit nicht ins Narrativ passt". Es herrsche eine vergiftete Stimmung, wenn man in akademischen oder politischen Kreisen über die "Schandflecke" der ukrainischen Geschichte spreche. Einige ehemalige Geschichtsstudenten forderten beispielsweise das ukrainische Bildungsministerium auf, "Maßnahmen" gegen Havryshko zu ergreifen, da die "Rhetorik" der Historikerin auf ihren sozialen Netzwerken "staatsfeindlich" sei. Immer wieder wird Havryshko auch eine "Verräterin" genannt.

Laut Havryshko sei die Ignoranz der ukrainischen Geschichtswissenschaft auf den Kampf gegen die russische Besatzung zurückzuführen. "Die ukrainische Bevölkerung betrachtet die russische Aggression als eine existentielle und derzeit größte Bedrohung für unseren Staat", sagt die Historikerin. Ein kritisches Reflektieren der eigenen Geschichte falle in dem Zusammenhang unter den Tisch. "Man ignoriert es, hofft, dass man sich irgendwie arrangiert", so Havryshko.

Doch diese Rechnung werde auf lange Sicht nicht aufgehen. "Der Westen wird die illiberalen Tendenzen, die in der Ukraine mit jedem Kriegsjahr immer stärker werden, erkennen", mutmaßt die Historikerin. Sie sehe jetzt schon, wie die differenzierte Sichtweise des Wolhynien-Massakers von 1943 die polnisch-ukrainischen Beziehungen belaste. Nachdem die Ukraine eine Exhumierung der Opfer wiederholt abgelehnt hatte, folgte prompt die scharfe Kritik aus Warschau. Kiew solle die historischen Verbrechen der UPA-Armee klar benennen, so die polnische Forderung. Außenminister Radoslaw Sikorski knüpfte eine Annäherung in der Wolhynien-Frage sogar an einen EU-Beitritt der Ukraine.

Und wie reagiert Havryshko auf die vielen Dissonanzen? "Es ist historisch belegt, dass Mitglieder der Waffen-SS-Division Galizien, die Teil der verbrecherischen Nazi-Kriegsmaschinerie waren, einen Eid auf Hitler schworen. Es waren Nazi-Kollaborateure - das können keine modernen ukrainischen Helden für mich sein", sagt die Historikerin. Als sie sich in einem Facebook-Post ähnlich äußerte, soll sie von militanten Bandera-Verehrern ihre ersten Morddrohungen erhalten haben.

Doch auf Facebook und X, ehemals Twitter, veröffentlicht Havryshko weiterhin Posts über rechtsextreme und antisemitische Vorfälle in der ukrainischen Politik, in Militär und Gesellschaft. Sie äußert sich zu Jugendlichen, die "White Pride"-Shirts in der Innenstadt von Lwiw tragen, schreibt über die Instrumentalisierung des Holocausts im aktuellen Krieg gegen Russland und ordnet das Thema Homophobie innerhalb der ukrainischen Armee kritisch ein.

An die lokale Polizei oder andere Sicherheitsbehörden in der Ukraine will sich Havryshko nicht wenden. "Die Behörden in der Ukraine sind gerade voll im Kriegsmodus. Ich bin mir nicht sicher, ob sich der SBU da für meine Sicherheit interessiert." Unter anderem deshalb lebt Havryshko in den Vereinigten Staaten und lehrt dort im Bundesstaat Massachusetts an der Clark Universität. In den USA sei der akademische Diskurs über den Holocaust und Antisemitismus nicht so politisch verfärbt, sagt sie.


Quelle: Berliner Zeitung