Von Stefan Beutelsbacher
EU-Korrespondent in Brüssel
Stand: 08.11.2023 | Lesedauer: 5 Minuten
Quelle: dpa
Es fielen große Worte. Und der Moment war auch historisch. Am Mittwoch empfahl die EU-Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine - fast genau zehn Jahre, nachdem Hunderttausende Menschen auf dem Maidan-Platz in Kiew für europäische Werte demonstriert, dabei ihr Leben riskiert hatten. Nun kommt ihr Land der EU tatsächlich einen Schritt näher. Doch einige in Brüssel meinen: bloß auf dem Papier.
Die Aussicht auf einen EU-Beitritt dürfte Präsident Wolodymyr Selenskyj und den Ukrainern in ihrem Kampf gegen Russland Hoffnung geben. Eines Tages, so die Verheißung, warten Stabilität und Wohlstand. Der Staat wäre politisch endgültig an den Westen gebunden. Und er bekäme Zugang zu Fördermitteln und dem europäischen Binnenmarkt, einem Wirtschaftsraum mit Millionen Unternehmen und Verbrauchern.
"Seit zehn Jahren kämpfen die Ukrainer für einen EU-Beitritt", sagte die Chefin der Kommission, Ursula von der Leyen, in Brüssel. "Sie sind dabei, ihr Land zu reformieren, selbst jetzt, mitten im Krieg." Und überall gebe es Fortschritte: beim Vorgehen gegen Korruption, bei der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit, bei dem Versuch, die Ukraine aus dem Griff von Oligarchen zu befreien. Deshalb, so von der Leyen, empfehle die Kommission die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen.
Im Dezember wollen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten das Thema besprechen. Sollten sie der Empfehlung der Kommission zustimmen, könnten erstmals in der Geschichte der Union Aufnahmegespräche mit einem Land im Krieg geführt werden.
Was die Kommission am Mittwoch vorgeschlagen hat, mag ein politisch wichtiges Signal sein. Doch es ist riskant. Weil die Ukraine wohl noch lange nicht die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt. Weil die EU selbst noch gar nicht für die Aufnahme des Landes bereit scheint und sich zunächst reformieren müsste. Und weil es Unruhe unter den Staaten geben könnte, die nun leer ausgegangen sind.
Auch Moldau und Bosnien-Herzegowina dürfen zwar auf einen Beginn von Beitrittsverhandlungen hoffen. Und Georgien soll immerhin den Status eines Kandidaten erhalten, das ist der erste Schritt des Aufnahmeprozesses. Doch andere Länder des westlichen Balkans kommen kaum voran. Serbien, Montenegro und Nordmazedonien etwa stecken seit zehn Jahren in Verhandlungen fest.
Wie realistisch ist es also, dass die Ukraine bald ein Mitglied der EU wird? "Der Staat ist noch weit von einem Beitritt entfernt", sagt ein Beamter der Kommission zu WELT. "Viel weiter, als die EU es zugibt." Es sei eine rein politische Entscheidung, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu empfehlen. Die "Fortschritte" des Landes, von denen gesprochen werde, ließen sich kaum mit harten Daten belegen. Etwa im Bereich der Korruptionsbekämpfung. Wie genau es darum stehe, meint der Mann, könne man jetzt, mitten im Krieg, gar nicht seriös ermitteln.
Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sende ein wichtiges Zeichen an die Menschen in der Ukraine, sagt Katarina Barley, Europaabgeordnete der SPD und Vize-Präsidentin des EU-Parlaments. "Dabei muss aber klar sein, dass die Verhandlungen ihre Zeit benötigen." Die für einen Beitritt notwendigen Kriterien, so Barley, müsse die Ukraine erfüllen. "Hier dürfen keine Abkürzungen genommen werden."
Doch selbst wenn die Ukraine eines Tages alle Kriterien erfüllt, gäbe es ein Problem: Die EU scheint schlecht auf das Land vorbereitet zu sein. Das gab auch von der Leyen am Mittwoch in Brüssel zu. "Wir müssen uns fragen, was ein Beitritt für unsere Strukturen bedeuten würde", sagte sie. Es seien wohl einige Veränderungen nötig. Welche genau, behielt die Kommissionschefin für sich. Aber offensichtlich ist zum Beispiel, dass ein Beitritt der Ukraine den europäischen Haushalt, so wie er derzeit strukturiert ist, überfordern dürfte.
In den vergangenen Jahren sprach kaum jemand in Brüssel über eine Erweiterung. 2004 traten zehn Länder der EU bei, 2007 Rumänien und Bulgarien, 2013 Kroatien. Dann war zunächst Schluss. Erst seit Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 spielt das Thema wieder eine Rolle. Noch im selben Monat bat Kiew um die EU-Mitgliedschaft, kurz darauf folgten Georgien und Moldau. Und schon im Frühling erhielten die Ukraine und Moldau den Status eines Kandidaten - so schnell ging es in der Geschichte der EU noch nie.
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Zu der politischen Unterstützung kommt noch eine finanzielle hinzu. Die Kommission will bis Ende Dezember neue Mittel für die Ukraine auf den Weg bringen: 50 Milliarden Euro in den kommenden vier Jahren, davon 33 Milliarden an Krediten und 17 Milliarden an Zuschüssen, die nicht zurückgezahlt werden müssen.
Ein anderer wichtiger Verbündeter hingegen scheint sich langsam abzuwenden. US-Präsident Joe Biden plant zwar ebenfalls ein Hilfspaket. Er will der Ukraine weitere 61 Milliarden Dollar zur Verfügung stellen. Doch die Republikaner blockieren das Vorhaben. Vor allem Ex-Präsident Donald Trump, der 2024 seine Wiederwahl anstrebt, kritisiert die finanzielle Unterstützung scharf. Gewinnt er das Rennen um das Weiße Haus, dürften die Hoffnungen der Ukraine noch stärker auf Europa ruhen.
Doch ein Beitritt vor dem Ende des russischen Feldzugs gilt als ausgeschlossen, denn sonst würde die EU offiziell Kriegspartei. Wie lange es danach dauern wird, kann niemand vorhersagen. Die Türkei wurde im Jahr 1999 EU-Kandidat - und war wohl noch nie weiter von einer Mitgliedschaft entfernt als heute.