Ukraine-Konflikt "Die Nato hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt"

Veröffentlicht am 30.01.2022 | Lesedauer: 7 Minuten

Von Dominik Kalus

Warnt den Westen: John J. Mearsheimer
Quelle: Archiv Maersheimer

John J. Mearsheimer gilt als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Politiktheoretiker. 2001 erschien sein Buch "The Tragedy of Great Power Politics", das in vielen Universitäten weltweit auf dem Lehrplan steht. Derzeit ist er Professor für Internationale Politik an der University of Chicago. Vor seiner akademischen Karriere war er fünf Jahre lang Offizier der US-Luftwaffe.

Der Konflikt um die Ukraine schaukelt sich gefährlich hoch. Das liegt primär am Westen, der die russischen Interessen fehlinterpretiert hat, sagt der Realpolitikkenner John Mearsheimer. Im Interview spricht er darüber, was Putin wirklich will und wie die Lage schnell zu entspannen wäre.

Die Lage in der Ukraine spitzt sich zunehmend zu. Diplomatische Versuche, den Konflikt zu entschärfen, blieben bislang erfolglos. Stattdessen lassen beide Seiten ihr militärisches Abschreckungspotenzial sprechen: Wladimir Putin lässt weiter Kriegsgerät an die ukrainische Grenze bringen, und die Nato reagiert mit Truppenverlegungen in östliche Mitgliedstaaten. Wie konnte es so weit kommen, und was ist jetzt zu tun? Anruf bei dem amerikanischen Politikprofessor John J. Mearsheimer.

WELT: Herr Mearsheimer, Russland fordert vom Westen Garantien, dass die Ukraine nie zur Nato gehören wird. Können Sie das verstehen?

John J. Mearsheimer: Absolut. Russland möchte kein westliches Bollwerk vor seiner Haustür, was aus Russlands Perspektive vollkommen logisch ist. Ich verstehe nicht, warum so viele im Westen diese simple Tatsache nicht begreifen können. Wir in den USA haben die Monroe-Doktrin, die eindeutig besagt, dass keine andere Großmacht eine Militärallianz mit einem Land aus der westlichen Hemisphäre eingehen und dort Truppen stationieren darf. Die Russen haben ihre eigene Version dieser Doktrin und versuchen, sie jetzt durchzusetzen. Die aktuelle Krise ist eine direkte Folge der närrischen Entscheidung der USA und ihrer Verbündeten, die Ukraine in die Nato bringen zu wollen.

WELT: Aber es ist doch die souveräne Entscheidung der Ukraine, näher an die Nato und an den Westen zu rücken...

Mearsheimer: Nur weil die Ukraine das möchte, heißt das nicht, dass die Mitgliedstaaten ihr das erlauben sollten. Außerdem wäre die Ukraine töricht, der Nato beizutreten. Wenn du neben einer Großmacht wohnst, egal ob neben den USA, Russland oder China, kannst du nicht einfach alles tun, was dir außenpolitisch in den Sinn kommt. Sondern du musst berücksichtigen, welche Bedenken dein Nachbar hat - und zwar zu deiner eigenen Sicherheit. Wenn du einen Gorilla ärgerst, wird er dir schreckliche Sachen antun, so einfach ist das. Das Ergebnis der Annäherungsversuche ist, dass die Ukraine die Krim verloren hat und in einen Krieg mit Russland verwickelt ist.

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WELT: Wieso hat Russland Bedenken? Die Nato bedroht doch niemanden.

Mearsheimer: Stellen wir uns vor, in 20 Jahren geht China mit Kanada eine Militärallianz ein und platziert an der amerikanischen Grenze Raketen - die USA wären außer sich und würden alles daransetzen, das zu verhindern. Keine Großmacht will eine andere Großmacht vor seiner Haustür haben, und erst recht nicht, wenn sie wie im Falle Russlands im Kalten Krieg der gefährliche Rivale deines Vorgängerstaates war. Im Westen denkt man vielleicht so, dass die Nato niemanden bedroht, aber was wir denken, ist nicht entscheidend. Russland sieht die Nato nicht als freundliche Allianz.

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WELT: Warum hat Russland dann die ersten beiden Osterweiterungen 1999 und 2004 geschehen lassen? Es ist ja nicht so, als wäre eine Grenze zwischen Russland und Nato-Staaten etwas Neues.

Mearsheimer: Russland war damals zu schwach, um sie zu verhindern. Aber das heißt nicht, dass die russische Führung das gut gefunden hätte, im Gegenteil, sie war tief unglücklich darüber. Der Westen ist zweimal davongekommen, aber beim dritten Mal, als 2008 plötzlich die Ukraine und Georgien zur Nato kommen sollten, hat Russland nicht länger zugesehen. Noch im selben Jahr gab es Krieg in Georgien und sechs Jahre später in der Ukraine. Die Nato hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.

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WELT: Es war aber Russland, das die Souveränität eines anderen Staates verletzt, die Ukraine destabilisiert und die Krim annektiert hat, nicht die Nato.

Mearsheimer: Ja, aber als Reaktion. Viele argumentieren jetzt, Russlands Verhalten in der Ukraine zeige, dass die Osterweiterung richtig war. Aber damit verdrehen sie die Sachlage. Bis 2014 hat niemand Russland als Aggressor gesehen, den man in Schach halten muss. Der Westen wollte eigentlich nur eines: Osteuropa in eine nie dagewesene Zone des Friedens verwandeln. Westliche Politiker sind in eine unerwartete Krise gestolpert, weil sie nicht verstanden haben, dass Putin nach anderen Regeln spielt - denen der Machtpolitik, während wir dachten, die Machtpolitik sei mit der Sowjetunion begraben worden. Diese außerordentlich naive Annahme hat die aktuelle Krise herbeigeführt, deren Ende nicht abzusehen ist.

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WELT: Derzeit befürchten viele, Putin will sich noch mehr von der Ukraine holen und vielleicht sogar in die baltischen Staaten einmarschieren. Ist das realistisch?

Mearsheimer: Putin wird oft als ein neuer Hitler gesehen. Nach dieser Logik wäre jedes Zugeständnis eine Wiederholung der fatalen Appeasement-Politik gegen Nazi-Deutschland Ende der 1930er-Jahre. Aber dieser Vergleich ist lächerlich. Außerdem gibt es keinen Hinweis, dass Russland neue Gebiete erobern will. Wenn die jüngste Geschichte eines gezeigt hat, dann das: Andere Länder zu besetzen führt fast immer zum Desaster. Egal, ob man sich die Erfahrungen der USA in Afghanistan, im Irak oder in Vietnam ansieht oder die der Sowjetunion in Afghanistan; ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten der Sowjetunion während des Kalten Krieges, in Osteuropa Ordnung zu bewahren. Putin und seine Berater sind schlau genug, das zu verstehen. Putin möchte kein neues russisches Großreich oder die Wiederauferstehung der Sowjetunion. Sondern hauptsächlich verhindern, dass die Ukraine der Nato beitritt.

WELT: Putin ist vielleicht kein zweiter Hitler, aber er ist doch ziemlich eindeutig ein Autokrat, der gnadenlos gegen die Opposition vorgeht und nicht vor Attentaten zurückschreckt.

Mearsheimer: Ob Putin ein Autokrat ist oder nicht, hat wenig mit der Krise um die Ukraine zu tun. Es geht hier nicht um Werte oder Ideologie oder Regierungsformen, sondern um Geopolitik. Es ist verstörend, dass das so viele Menschen im Westen nicht verstehen.

WELT: Viele fordern jetzt, der Ukraine Waffen zu liefern, um den Preis einer Invasion für Putin zu erhöhen.

Mearsheimer: Das wäre ein riesiger Fehler und würde eine schlechte Situation nur noch schlimmer machen. Die Waffenlieferungen und militärische Kooperation sind ja genau der Grund, warum sich die Krise aufgeheizt hat in den vergangenen Monaten. Die Russen interpretieren das als Versuch, aus der Ukraine einen De-facto-Nato-Staat zu machen. Außerdem, wenn wir mehr Waffen liefern, wird Russland gleichermaßen seine Unterstützung für die Separatisten in der Ostukraine und die Truppenpräsenz an der Grenze hochfahren. Und in diesem Wettrüsten wird Russland immer die Oberhand haben. Nur zur Erinnerung, wir haben es hier mit einer Großmacht zu tun, die Tausende nukleare Sprengkörper besitzt. Wenn überhaupt, sollten die USA und ihre Verbündeten daran arbeiten, diese Krise zu entschärfen, anstatt noch mehr Öl ins Feuer gießen.

WELT: Wie könnte man das erreichen?

Mearsheimer: Die einfachste Lösung wäre eine schriftliche Garantie der USA, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Aber das wird nicht passieren. Westliche Entscheidungsträger fühlen sich dem liberalen Mantra verpflichtet, die Ukraine habe so etwas wie ein Recht auf eine Nato-Mitgliedschaft. Außerdem sind Bidens Zustimmungswerte im Keller, jedes Zugeständnis an Putin würde seinem Ansehen in der amerikanischen Öffentlichkeit weiter schaden. Und man darf nicht vergessen: China verfolgt zweifelsohne ganz genau, was in der Ukraine passiert. Wenn die USA in der Ukraine-Frage einlenken, könnte es China ermutigen, noch aggressiver gegen Taiwan vorzugehen. Die USA stecken also in einer ziemlich verzwickten Situation, die sie selbst geschaffen haben. Und die Leidtragenden dieser närrischen westlichen Politik sind die Ukrainer. Russland wird die Ukraine schwer bestrafen, und zwar so lange, bis es bekommt, was es will.

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WELT: Gibt es keinen Weg, aus der Eskalationsspirale herauszukommen?

Das Beste für alle Seiten wäre in meinen Augen eine neutrale Ukraine, eine Pufferzone, so wie Österreich oder Finnland im Kalten Krieg oder eben die Ukraine von 1991 bis 2013. Eine Ukraine, die weder zum Westen gehört noch zu nah mit Russland zusammenarbeitet und mit beiden Seiten gute Beziehungen pflegt. Das wäre auch deswegen eine gute Lösung für alle Beteiligten, weil dann sowohl die USA als auch Russland Zugeständnisse machen müssten. So könnten beide Seiten ihr Gesicht bewahren. Aber davon scheinen wir weit entfernt zu sein.


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