Ukraine Das autoritäre Gebaren des Wolodymyr Selenskyj

Von
Pavel Lokshin
Freier Korrespondent für Russland

Stand: 24.10.2025 Lesedauer: 5 Minuten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj konsolidiert seine Macht. Wer ihm im Weg steht, muss weichen - zuletzt der frei gewählte Bürgermeister der Stadt Odessa. Damit sendet Selenskyj ein deutliches Signal an andere Widersacher.

Wolodymyr Selenskyj
Quelle: Julia Demaree Nikhinson/AP/dpa

Die ukrainische Hafenstadt Odessa erlebte dieser Tage, je nach Perspektive, einen Befreiungsschlag oder einen Skandal. In der vergangenen Woche ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj Hennadij Truchanow absetzen, den Bürgermeister der drittgrößten Stadt des Landes am Schwarzen Meer. An die Stelle der zivilen Verwaltung tritt jetzt die Militärverwaltung unter Serhij Lysak. Der Offizier des Inlandsgeheimdienstes SBU leitete zuvor die Militäradministration der frontnahen Oblast Dnipro. Odessa und das Umland sind regelmäßig Ziel russischer Drohnen- und Raketenangriffe, zuletzt in der Nacht auf Mittwoch.

Selenskyjs Begründung ist vage wie knapp. Odessa verdiene "besseren Schutz und Unterstützung". "Zu viele Fragen" zur Sicherheit von Odessa seien "zu lange unbeantwortet geblieben". Selenskyjs Vorgehen ist dabei eigenartig: Die Absetzung des Bürgermeisters folgte auf die Aberkennung dessen ukrainischer Staatsbürgerschaft per Dekret. Die Begründung: Truchanow soll auch den russischen Pass besitzen. Und da die ukrainische Gesetzgebung keine doppelte Staatsangehörigkeit zulässt, scheidet er als Nicht-Staatsbürger automatisch aus dem Amt. Obwohl Truchanow beteuert, nie den russischen Pass besessen zu haben.

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Für manche Aktivisten in Odessa war die Absetzung des 60-jährigen Bürgermeisters ein Grund zum Feiern. Sie gingen mit Plakaten auf die Straße, die verhießen, Truchanow sei ein Teufel. Der Ex-Bürgermeister war Berufsoffizier in der Sowjetarmee und in den Neunzigerjahren Gründer einer Sicherheitsfirma. Vielen Kritikern gilt er als prorussisch, kriminell und korrupt. Seit zwei Jahrzehnten ist er in der Politik tätig, wobei er Parteien und politische Loyalitäten ohne Bedenken wechselt. Vor dem Euromaidan unterstützte er Wiktor Janukowytsch, den ukrainischen Ex-Präsidenten, der später geschasst wurde und mittlerweile in Russland lebt.

Für die inzwischen verbotene "Partei der Regionen" von Janukowytsch saß Truchanow zwei Jahre lang im Parlament, der Rada in Kiew. Nach dem Euromaidan wechselte er die Seiten und wurde Unterstützer des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko. 2014 wurde er erstmalig zum Bürgermeister von Odessa gewählt. Truchanow geriet auf russische Sanktionslisten, sein Name tauchte in den Panama Papers auf, gegen ihn wurde ermittelt. Truchanows zwielichtige Biografie ist nicht untypisch für ukrainische Regionalfürsten. Rechtmäßig gewählt wurde er trotzdem.

Hennadij Truchanow
Quelle: ---/Ukrinform/dpa

Dass der fragwürdige Bürgermeister Truchanow ohne Gerichtsverfahren abgesetzt wird, ist ein Symptom des neuen politischen Stils von Selenskyj. Sein innenpolitisches Vorgehen driftet zunehmend ins Autoritäre ab. Nach den Parlamentswahlen vor fünf Jahren trat er sein Amt als Präsident der Ukraine mit dem Sieg seiner Partei "Diener des Volkes" an. Seitdem versucht Selenskyj, die Großstädte der Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Bei den Lokalwahlen im Jahr 2020 sind die "Diener des Volkes" krachend gescheitert. Selbst in Selenskyjs Heimatstadt Krywyj Rih verlor Selenskyjs Bürgermeisterkandidat die Wahlen. Und in Odessa wurde Truchanow wiedergewählt.

Zu dieser Zeit war in der Ukraine noch die Rede davon, dass Städte und Gemeinden mehr Autonomie bekommen sollten. Das war eine der großen Errungenschaften des Euromaidan, eine Gemeindereform war in vollem Gange. Diese sah vor, die Staatsmacht zu dezentralisieren und das Steueraufkommen zugunsten der Kommunen umzuverteilen. Die EU und vor allem Deutschland unterstützten diese Reformen, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel lobte sie sogar persönlich. Doch seit der russischen Großinvasion werde dieser Kurs häufig durch die "militärische Hyperzentralisierung" blockiert, so der Ukraine-Experte Konstantin Skorkin von der US-Denkfabrik Carnegie.

"Gestank des Autoritarismus"

Dazu kommt, dass Selenskyj eine immer höhere Machtkonzentration anvisiert hat. Vor allem in der Hauptstadt Kiew tobt ein Machtkampf zwischen dem ukrainischen Präsidenten und dem selbstbewussten Bürgermeister Vitali Klitschko. Letzterer spricht offen vom "Gestank des Autoritarismus", der im Land zu spüren sei.

Die Absetzung Truchanows ist eine Warnung an Klitschko und auch an andere widerspenstige Bürgermeister. Wegen des Kriegszustandes bleiben sie über ihre übliche Amtsdauer hinaus an der Macht - genau wie Selenskyj selbst.

Um noch mehr Macht zu konsolidieren, dürften Selenskyjs Methoden kurzfristig taugen. Doch die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit bleibt. Selenskyjs Parteikollege Alexander Slawskij aus dem Stadtrat von Odessa merkt im Gespräch mit der Zeitung "Ukrainska Prawda" an, dass die "Entfernung" Truchanows die einzige Chance sei, das ukrainische "Machtmonopol" umzusetzen. Denn der Bürgermeister habe über Odessa wie ein feudaler Herrscher verfügt und die Idee der Gemeindeautonomie "vergewaltigt".

Trotz möglicher Verfehlungen Truchanows bleibt nicht abschließend geklärt, ob er wirklich jene russische Staatsbürgerschaft besaß, die ihn offiziell aus dem Amt katapultierte. Das Foto eines auf Truchanow ausgestellten russischen Reisepasses, das der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU präsentierte, ist nach Einschätzung des russischen Exilmediums "The Insider" eine Fälschung.

Das allein ist kein Beleg dafür, dass Truchanow die russische Staatsbürgerschaft weder besaß noch besitzt. Dieser Verdacht wurde schon zehn Jahre zuvor bei seinen politischen Gegnern und in den Medien zum Thema. Doch die Ermittlungen des SBU liefen damals ins Leere. Selenskyj muss sich nun die Frage gefallen lassen, wieso er dreieinhalb Kriegsjahre lang einen russischen Bürgermeister in Odessa tolerierte, wenn Truchanow tatsächlich russischer Staatsbürger gewesen sein sollte.

Diese Frage - wie auch die nach der Aberkennung der ukrainischen Staatsbürgerschaft - sollte in einem Rechtsstaat nicht der Geheimdienst, sondern ein Gericht klären. Der abgesetzte Bürgermeister Truchanow will die Entscheidung Selenskyjs notfalls vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anfechten.


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