Von Helmut W. Ganser
Brigadegeneral a. D.
03. September 2024, 18:39 Uhr
© Darrell Ames/Program Executive Office Missiles and Space/DVIDS
Der sicherheitspolitische Experte Helmut W. Ganser ist Brigadegeneral a. D. der Bundeswehr. Er war stellvertretender Leiter der Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium und militärpolitischer Berater der deutschen Ständigen Vertreter bei der Nato in Brüssel sowie bei den Vereinten Nationen in New York.
Die Diskussion über die Stationierung amerikanischer Raketen und Marschflugkörper in Deutschland nimmt Fahrt auf. Aber noch führen wir keine Strategiedebatte. Auf der einen Seite wird vereinfachend darauf hingewiesen, dass bislang eine Fähigkeitslücke bestehe und die Raketen gebraucht würden. Auf der anderen wird ebenso undifferenziert und übertrieben vor der Gefahr eines Atomkriegs auf deutschem Boden gewarnt, sogar behauptet, dass die Bundesrepublik nach der Stationierung einem Erstschlagsrisiko ausgesetzt sei - also ein Ziel für russische Nuklearwaffen werden könnte. In dieser Diskussion geht vieles auch begrifflich durcheinander. Zeit für eine Versachlichung.
Die Regierungen der USA und Deutschlands wollen, dass Raketen in der Bundesrepublik stationiert werden - aber offenbar aus einer anderen Motivation heraus. Die Beweggründe des Kabinetts von Olaf Scholz auf der einen und der US-Regierung unter Joe Biden auf der anderen Seite laufen auf merkwürdige Weise auseinander. Während die Stationierungsabsicht in Deutschland mit der Reaktion auf die russischen Raketen verteidigt wird, insbesondere die Iskander-Flugkörper, die in Kaliningrad stehen, geht es den Vereinigten Staaten spätestens seit 2017 um eine neue militärische Fähigkeit, unabhängig vom aktuellen russischen Raketenpotenzial.
Bereits gut fünf Jahre vor der russischen Invasion in die Ukraine begannen die US-Streitkräfte mit der Aufstellung von gänzlich neuen Task-Forces, die über bodengestützte Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von bis zu 3.000 Kilometer verfügen. Es geht offenbar um neue Fähigkeiten zur Bekämpfung von operativen und strategischen Zielen in der Tiefe des gegnerischen Raums, sowohl in Asien als auch in Europa.
Im Fokus der deutschen Debatte steht dennoch das russische Raketenarsenal. Und Russland besitzt in der Tat ein bedrohlich großes und breit gefächertes Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern. Eine Reihe dieser Waffensysteme kann sowohl mit konventionellen als auch mit atomaren Sprengköpfen eingesetzt werden. Diese russischen Fähigkeiten schlicht zu spiegeln, indem Nato-Staaten als Gegengewicht vergleichbare landgestützte Raketensysteme in Europa aufstellen, klingt auf den ersten Blick plausibel, ist dennoch zweifelhaft.
Bei Mittelstreckensystemen verbieten sich symmetrische Kräftevergleiche wie bei Panzern oder Kampfflugzeugen. Eine profunde Strategiedebatte sollte sich darauf konzentrieren, wie die russische Raketenbedrohung am wirkungsvollsten neutralisiert werden kann. Das von einigen akademischen Militärexperten vertretene Argument, dass russische Kurz- und Mittelstreckensysteme mit in Deutschland stationierten Raketen ins Fadenkreuz genommen und zerstört werden sollen, bevor mit ihnen auf Nato-Gebiet gefeuert wird, ist abwegig.
Diese Vorstellung lädt zum Präventivschlag geradezu ein. Man stelle sich eine ernste Krise vor, etwa mit aufmarschierten Truppen beiderseits der Grenzen zwischen Nato und Russland. Die Seite, die ihre Raketen zuerst auf die Raketen der anderen Seite abfeuert, noch bevor sie ihre Basen verlassen haben, könnte sich bei solchen Einsatzkonzepten einen Vorteil ausrechnen. Eine fatale Situation für die Krisenstabilität und diplomatische Bemühungen zur Abwendung eines Krieges in einer brenzligen Lage. Der Bedrohung durch die mobilen russischen Raketensysteme kann nicht symmetrisch begegnet werden. Eine sinnvollere Antwort wäre eine weiter verdichtete Raketenabwehr im Rahmen der Nato.
Im Gegensatz zur atomaren Nachrüstung des westlichen Bündnisses im Kalten Krieg, bekannt geworden als "Nato-Doppelbeschluss", ist die amerikanisch-deutsche Erklärung zu den Stationierungsplänen für Mittelstreckensysteme nicht mit einem Rüstungskontrollvorschlag an Russland verknüpft. Die Machthaber im Kreml werden auf amerikanische Raketen in Deutschland mit dem Aufstellen einer noch größeren Zahl nuklearfähiger Mittelstreckenraketen reagieren, insbesondere in Kaliningrad und in Belarus.
Ein Ansatz, der auf eine gemeinsame Rüstungskontrolle zwischen dem Westen und Russland setzt, mag angesichts des Angriffskriegs in der Ukraine als sinnlos erscheinen. Andererseits hat die Nato in der Gipfelerklärung von Washington im Juli 2024 ihre Bereitschaft zur Rüstungskontrolle und Abrüstung bekräftigt. Wo es um die gesamteuropäische Sicherheit geht, sollten spezifische Gesprächskanäle mit Russland offen gehalten und genutzt werden. Es steht zu viel auf dem Spiel.
Unstrittig ist, dass die Nato-Streitkräfte aus militärstrategischer Sicht, unabhängig von der russischen Raketenbedrohung, weitreichende Waffensysteme brauchen, um in einem möglichen Krieg gegen Russland in der Tiefe des Gegners wirken zu können, etwa gegen Reservestreitkräfte, Kommandozentralen, logistische Einrichtungen und Verkehrsknotenpunkte. Die Nato-Staaten verfügen dazu bereits über abstandsfähige luftgestützte Marschflugkörper, wie beispielsweise den deutschen Taurus und die britischen und französischen Storm-Shadow- sowie Scalp-Systeme.
Die F-35-Kampfflugzeuge mehrerer Nato-Partner, über die in wenigen Jahren auch die Luftwaffe verfügen wird, besitzen ebenfalls die Fähigkeit, tief in das Territorium des Gegners einzudringen.
Zudem haben die US Luftwaffe und Marine ein großes Potential an Abstandswaffen wie Tomahawk-Marschflugkörper auf U-Booten. Der Anspruch der amerikanischen Heeresführung, nunmehr auch über Mittelstreckensysteme zu verfügen, ist bereits vor Jahren von führenden Air Force Generalen als "dumm, duplizierend und zu teuer" kritisiert worden.
Ob es für den Kampf in der Tiefe eines Aggressors zusätzlicher bodengestützter Raketensysteme bedarf, muss im Einzelnen überzeugend begründet und mit den Risiken für Deutschland abgewogen werden. Denn es muss einkalkuliert werden, dass die landgestützten amerikanischen Raketenwerfer bei ihren Bewegungen auf den Straßen und in ihren Stellungen im dicht besiedelten Deutschland Hochwertziele für russische Angriffe und auch für infiltrierte Spezialkräfte oder Saboteure darstellen.
Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach dem Einfluss der Bundesregierung auf den Einsatz der amerikanischen Raketen, die vermutlich der Nato unterstellt werden müssen.
In der Wahrnehmung Russlands werden die zielgenauen Raketensysteme der USA auf deutschem Boden, obwohl sie konventionelle Sprengköpfe tragen, als strategische Waffen betrachtet, also in den Zusammenhang der großen Atomwaffen eingeordnet.
In Russland wird dies analog zur Kubasituation 1962 betrachtet, als die Sowjetunion atomare Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert hatte. Unabhängig davon, ob die amerikanischen Atomzielplaner tatsächlich solche Kalküle hegen würden, dürfte die beabsichtigte Raketenstationierung die strategische Stabilität zwischen den atomaren Supermächten vermindern. Stabilisierende Rüstungskontrollansätze bei den großen Atomwaffen dürften in noch weitere Ferne gerückt werden.
Diese und weitere Punkte sollten in einer Strategiedebatte, sowohl auf Expertenebene als auch in Medien und der Zivilgesellschaft thematisiert werden. Längst hätte die Bundesregierung diese Diskussion proaktiv führen sollen. Ob eine offene Debatte angesichts der eingetretenen sicherheitspolitischen Polarisierung und Lagermentalität noch möglich ist, bleibt abzuwarten.
Ohne diesen Austausch von Argumenten geht es nicht. Den Versuch, geräuscharm weitreichende US-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren, ist bereits Bundeskanzler Helmut Schmidt zum Verhängnis geworden. Eine Regierungserklärung durch Olaf Scholz wäre nun vielleicht der erste Schritt, die Debatte in die richtige Richtung zu lenken. Auch das gehört zur Zeitenwende dazu.