Von Ibrahim Naber
Chefreporter
Stand: 14.11.2023 | Lesedauer: 7 Minuten
Quelle: Elie Kayrouz
Umgeben von Bergen im nordlibanesischen Akkar, wenige Kilometer von der Grenze zu Syrien entfernt, betritt an einem Oktobermorgen Mohamad Kanjo den Friedhof seines Heimatdorfes. Kreuz und quer stehen Grabsteine auf der Lichtung, beschriftet auf Arabisch, an manchen wuchert das Gras meterhoch. "Da vorne liegt sie", sagt der 61-Jährige, streckt den linken Arm aus und eilt mit kurzen Schritten zu der Stelle. Am Grab spricht er mit geschlossenen Augen ein Gebet, dann legt er ein Bild seiner Tochter Zeina ab, gedruckt auf einen Stein. Es zeigt die brünette Frau mit einem Lachen. Den Mann neben ihr hat Mohamad Kanjo vom Foto getilgt, weggekratzt mit einem Küchenmesser.
Der stämmige Bartträger, dessen Anblick der Vater nicht mehr erträgt, ist Ibrahim Al-Ghazal. Der 34 Jahre alte Libanese ist durch Interpol weltweit zur Fahndung ausgeschrieben. Er soll 2021 seine damalige Ehefrau Zeina Kanjo, ein bekanntes libanesisches Model, ermordet und sich ins Ausland abgesetzt haben. Seine Flucht verlief über zwei Jahre quer durch Europa, getarnt als vermeintlicher Flüchtling. Nach Recherchen von WELT AM SONNTAG führen die Spuren Al-Ghazals mittlerweile nach Deutschland.
Quelle: Elie Kayrouz
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Interne Behördendokumente, die dieser Zeitung vorliegen, zeigen: Al-Ghazal hat mehrere Staaten hinters Licht geführt und die Schwachstellen des europäischen Asylsystems ausgenutzt. Aber es waren die Bundesbehörden, die den Schwindel am spätesten erkannt haben.
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Diese Fehler haben nun folgenschwere Konsequenzen: Al-Ghazal hält sich hierzulande auf freiem Fuß auf, und der deutsche Staat wird ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht nach Beirut ausliefern. Mehr noch: Das Bundeskriminalamt warnt in einer Mail an das Auswärtige Amt davor, dass der Fall die diplomatischen Beziehungen zum Libanon erheblich belasten könnte und die Zusammenarbeit bei anderen Verfahren gefährde.
Im Beiruter Stadtviertel Ain El-Mraiseh leben viele Menschen, denen es trotz der schweren Wirtschaftskrise im Land noch relativ gut geht. Zu ihnen gehörte vor Jahren auch Zeina Kanjo, eine junge Frau, geboren 1987, die sich aus ärmlichen Verhältnissen durch ihre Arbeit als Model hochgearbeitet hatte. 2020 wurde sie zur "Miss Elegant" im Libanon gekürt, reiste zu einer Modenschau nach Ägypten.
Quelle: Elie Kayrouz
Am 30. Januar 2021 traf sich Kanjo in ihrer Wohnung mit Ehemann Al-Ghazal. Das Paar soll gemeinsam zu Abend gegessen und Wasserpfeife geraucht haben. "Dann hat er sie umgebracht. Er hat seine Hand auf ihren Mund gepresst und ließ sie ersticken", sagt Anwalt Ashraf Mousawi beim Gespräch mit WELT AM SONNTAG in seinem Beiruter Büro. Er ist ein bekannter Jurist im Land und hat schon Dutzende Fälle von Morden an Frauen vor Gericht begleitet. Während der Corona-Pandemie seien diese Verbrechen durch Ehemänner im Libanon rasant angestiegen. Bis heute vertritt Mousawi die Familie Kanjo, weil er Al-Ghazal zur Rechenschaft ziehen will. Laut des Anwalts hatte der mutmaßliche Mord eine Vorgeschichte. "Bereits zwei Wochen vor ihrem Tod beauftragte mich Frau Kanjo, weil sie Streit mit Herrn Ghazal wegen eines Autos hatte. Es ging um Geld. Ich habe sie damals noch gewarnt, dass dieser Mann gefährlich sei und ihr Leben bedrohen könnte."
Die Mutter von Zeina Kanjo, Fatima, sagt, dass sich das Paar 2020 kennenlernte. Mittlerweise sei klar, dass Al-Ghazal ihre Tochter über Monate ausgenutzt habe. "Er nahm ihr das Telefon und verpfändete ihr Auto. Er hat ihr alles weggenommen und sie dann umgebracht." Sie habe Al-Ghazal wie einen Sohn behandelt, aber er habe die Familie getäuscht. "Möge Gott ihm nie verzeihen", sagt die Mutter.
Nur Stunden nach Kanjos Tod setzte sich Al-Ghazal von Beirut nach Istanbul ab. Ob er das Flugticket bereits vor dem Tatabend gebucht hatte, wie Anwalt Mousawi es darstellt, kann WELT AM SONNTAG nicht verifizieren. Fest steht: Im Libanon kam es nach dem Tod des Models zu einem öffentlichen Aufschrei. In einer bekannten Talkshow wurde eine Tonaufnahme abgespielt, die aus einem Telefonat zwischen Al-Ghazal und einer Freundin Kanjos kurz nach seiner Flucht stammen soll. Darin scheint er die Tat einzuräumen: "Ich wollte das nicht (...) Sie sollte nicht sterben. Als sie angefangen hat zu schreien, habe ich ich nur meine Hand auf ihren Mund gelegt."
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Zwei Wochen nach Kanjos Tod versandte die internationale Polizeiorganisation Interpol ein weltweites Fahndungsschreiben zu Ibrahim Al-Ghazal, eine sogenannte "Red Notice". Darin heißt es, der Mordverdächtige sei in die Türkei geflohen und untergetaucht.
Aus vertraulichen Behördendokumenten geht hervor: Im Herbst 2021 beantragte Al-Ghazal erstmals Asyl in Europa, in den Niederlanden - unter falscher Identität. Er gab sich als Syrer aus, neun Jahre älter als er tatsächlich ist. Tarnname: Rabih Mcheik. So reiste Ghazal am 26. September 2022 aus den Niederlanden nach Deutschland weiter. Dort geriet er in eine Kontrolle der Bundespolizei. Doch die Beamten ließen ihn laufen, offensichtlich, weil ihnen keine Informationen zur wahren Identität vorlagen. So konnte Al-Ghazal Ende 2022 auch in Deutschland Asyl beantragen - ebenfalls als Rabih Mcheik.
Quelle: Instagram
Erst, als der Libanese kurz darauf nach Schweden weiterreiste, flog er auf. Die schwedische Polizei habe ihn festgenommen und seine amtlichen Dokumente angefordert, sagt Anwalt Mousawi. "Sie haben seinen echten Namen herausgefunden und so entdeckt, dass Interpol nach ihm fahndet." Nach Al-Ghazals Enttarnung und Inhaftierung forderten libanesische Behörden seine Auslieferung, aber Schweden lehnte dies aus rechtlichen Gründen ab. Denn im Libanon droht Verbrechern noch die Todesstrafe - zumindest auf dem Papier. Tatsächlich wird sie selbst bei schwersten Delikten seit vielen Jahren nicht mehr angewendet. Doch Ghazal rettete genau dieser Paragraph.
Quelle: Elie Kayrouz
Das Schreiben enthält auch eine Einschätzung des BKA-Verbindungsbeamten in Beirut. Diesem ist klar, welche Dimension der Fall hat. Er befürchtet, dass libanesische Behörden die Zusammenarbeit bei Terrorverfahren künftig verweigern könnten, sollte herauskommen, dass Al-Ghazal bald in "Deutschland residiert und nicht ausgeliefert werden kann". Schweden dürfte froh sein, schreibt der Beamte, den "schwarzen Peter an Deutschland" abzugeben. Denn die Schweden hätten aufgrund der "Koran-Misshandlungen in ihrem Land derzeit ein denkbar schlechtes Standing" im Nahen Osten.
Nach Informationen von WELT AM SONNTAG ist Ibrahim Al-Ghazal seit August 2023 tatsächlich zurück in Deutschland, und zwar auf freiem Fuß. Seine Aufenthaltsgestattung ist erloschen, aber er hat weiterhin Anspruch auf staatliche Leistungen.
Eine Auslieferung muss er aufgrund der Todesstrafe im Libanon vorerst auch hier nicht befürchten. Eine solche sei grundsätzlich "nur möglich, wenn zugesichert wird, dass weder die Todesstrafe verhängt noch die Todesstrafe vollstreckt wird", erklärt Professor Kay Hailbronner, Experte für Asylrecht an der Uni Konstanz. Laut ihm habe auch der mutmaßliche Mord an Kanjo für den Libanesen hierzulande keine Konsequenzen. Denn das deutsche Strafrecht finde keine Anwendung auf eine Straftat, die im Ausland begangen wurde, sofern sie keine "internationalen Rechtsgüter betrifft oder einen direkten Bezug zum Inland aufweist (zum Beispiel deutsche Bürger als Opfer)." Auch eine Anklage nach dem Weltrechtsprinzip, was zum Beispiel bei Kriegsverbrechen greift, ist unrealistisch.
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Anwalt Mousawi kann das kaum fassen. Er hält die deutsche Gesetzgebung für "lächerlich". Es könne nicht angehen, dass Schwerverbrecher in Europa Schutz fänden. "Wenn Ghazal Erfolg haben wird und er bei euch einfach vor der Strafe davonlaufen kann (....), dann wird in Zukunft jeder Mörder nach Deutschland, Schweden und Europa reisen." Vater Mohamad Kanjo fordert die deutsche Regierung auf, Al-Ghazal "zu verhaften. Ich wünsche mir, dass sie ihn daran hindern, das Land zu verlassen."
Juristen sagen, dass Al-Ghazals bislang festgestellte Straftaten in Deutschland - das unerlaubte Einreisen, der Identitätsbetrug und ein laufendes Verfahren wegen Diebstahls - zu wenig für eine Haftstrafe seien. Mohamad Kanjo will die Hoffnung aber nicht aufgeben, den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter hinter Gittern zu bringen. Er wolle bis zum Lebensende eine Deutschlandfahne auf dem Dach der Familie hissen, sagt der Vater, sollte Al-Ghazal hierzulande doch noch belangt werden. Den Wunsch von Zeina Kanjos Eltern nach Gerechtigkeit wird der deutsche Rechtsstaat wohl nicht erfüllen können.