"Dringende humanitäre Gründe" Tausende abgelehnte Asylbewerber dürfen als "Härtefälle" legal in Deutschland bleiben

FOCUS-Online-Reporter Göran Schattauer

Freitag, 12.02.2021, 13:26

Seit 2005 können sich abgelehnte Asylbewerber an "Härtefall-Kommissionen" wenden, die alle Bundesländer eingerichtet haben. Recherchen von FOCUS Online ergaben: Weit mehr als 10.000 Ausländer erhielten auf diese Weise eine Aufenthaltserlaubnis. dpa/AdobeStock/iStock/Composing: Sascha Weingartz
Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in Deutschland.

Nach den Regeln der deutschen Asylpolitik müsste Mouctar Diallo längst wieder in Afrika sein. Der heute 21-Jährige war 2016 von der Elfenbeinküste als "unbegleiteter minderjähriger Flüchtling" nach Deutschland gekommen. Doch seine lebensgefährliche Odyssee über das Mittelmeer schien ihm nichts zu nützen, denn in der Bundesrepublik durfte er nicht dauerhaft bleiben. So sah es das Gesetz vor.

Afrikaner ohne Bleiberecht - für Kommission ein "Härtefall"

Als seine Abschiebung aus Thüringen drohte, griff Diallo nach dem letzten Strohhalm, der Menschen in solchen Situationen bleibt: Er wandte sich an die "Härtefallkommission" des Landes und präsentierte ihr einen dicken Aktenordner. Abgeheftet waren Briefe, in denen Menschen um Diallos Verbleib in Deutschland baten - sein Fußballtrainer, Mitspieler, Betreuer des Vereins, dazu Wirtschaftsleute und Politiker bis hinauf zum Oberbürgermeister von Gera.

Im August 2019 gaben die Kommission und das Thüringer Justizministerium grünes Licht: Mouctar Diallo, so hieß es, dürfe in Deutschland bleiben. "Ich bin so glücklich, dass alles gut ausgegangen ist, dass ich in Gera bleiben kann", zitierte ihn die örtliche Tageszeitung.

Mehr als 10.000 abgelehnte Asylbewerber doch anerkannt

Das Beispiel von Mouctar Diallo ist kein Einzelfall. In allen Bundesländern gibt es solche "Härtefallkommissionen" - und jedes Jahr wenden sich zahlreiche abgelehnte Asylbewerber an die Gremien. Wie viele von ihnen am Ende Erfolg haben und in Deutschland bleiben dürfen, konnte bislang niemand genau sagen, eine offizielle Statistik dazu existiert nicht.

Deshalb hat FOCUS Online in allen Bundesländern nachgefragt und um belastbare Zahlen gebeten. Das Ergebnis: Seit 2005 haben deutschlandweit mehr als 10.000 abgelehnte Asylbewerber aufgrund ihres Härtefall-Gesuchs doch noch eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.

Die tatsächliche Zahl dürfte sogar viel größer sein. Denn mehrere Länder konnten keine durchgehende Statistik für die vergangenen 16 Jahre bringen und meldeten stattdessen nur Zahlen für ausgewählte Zeiträume.

Sehr gute Chancen in Thüringen, Niedersachsen und Berlin

Dennoch lässt sich aus den Daten ein Trend ablesen. Demnach zeigen sich Thüringen, Niedersachsen und Berlin am empfänglichsten für die Bleibe-Bitten abgelehnter Asylbewerber.

Zwischen 2005 und 2020 erhielten in Thüringen 2124 Frauen, Kinder und Männer eine Aufenthaltserlaubnis über den Umweg der "Härtefallkommission". Ähnlich hoch, wenn nicht gar höher, dürften die Zahlen für den Gesamtzeitraum in Niedersachsen und Berlin ausfallen.

Allein zwischen 2015 und 2020 bekamen in Niedersachsen 1456 Personen eine nachträgliche Aufenthaltserlaubnis. In Berlin wurden von 2016 bis 2020 insgesamt 1106 Ausländer als "Härtefälle" anerkannt. Die kompletten Daten ab dem Jahr 2005 lagen in beiden Ländern zum Abfragezeitpunkt durch FOCUS Online nicht vor.

NRW gab in drei Jahren 790 Ausländern grünes Licht

Dasselbe gilt für Nordrhein-Westfalen, wo man lediglich die Bilanz für den Zeitraum 2017 bis 2019 vorlegen konnte. Schon in diesen drei Jahren erhielten in NRW 790 abschiebepflichtige Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung. In Bayern waren es seit Gründung der Härtefallkommission im Jahr 2006 insgesamt 1015 Personen.

Das Bundesland mit den wenigsten genehmigten Härtefall-Anträgen ist Bremen. Dort bekamen seit 2006 gerade mal 171 Ausländer die Erlaubnis, in Deutschland bleiben zu dürfen. Zum Vergleich: Sachsen meldet seit 2005 insgesamt 676 Positiv-Bescheide, Hessen 614, Sachsen-Anhalt 394 und Brandenburg 359. Die restlichen sechs Bundesländer kommen zusammen auf rund 1300 Genehmigungen, wobei die Daten-Auswertung meistens nur wenige Jahre berücksichtigt.

Aufenthaltsgesetz von 2005 ermöglicht "letzten Strohhalm"

Dass abgelehnte Asylbewerber überhaupt die Chance erhalten, legal in Deutschland zu bleiben, liegt an einem Passus im Aufenthaltsgesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat. Den Bundesländern wurde dort erstmals die Möglichkeit eingeräumt, "Härtefallkommissionen" zu bilden, die sich mit den konkreten Einzelschicksalen der Antragsteller befassen.

Kommen die Mitglieder des Gremiums zum Schluss, dass "dringende humanitäre oder persönliche Gründe" für einen Verbleib in Deutschland vorliegen, reichen sie den Fall an die obersten Landesbehörden weiter, in der Regel das Innen- oder Justizministerium. Dort kann laut Gesetz angeordnet werden, dass einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer ohne Duldungs-Status doch noch "eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird".

Dass nicht jeder Antrag von Erfolg gekrönt ist, zeigen Zahlen aus Hessen. Dort lehnte das zuständige Innenministerium bislang 40 Ersuchen mit 91 betroffenen Personen ab.

In Kommissionen sitzen Politiker, Ärzte, Kirchenleute

Auch wenn sich die "Härtefallkommissionen" mit politisch wichtigen und teilweise hochbrisanten Themen befassen - wer glaubt, dass dort nur Politiker sitzen, der irrt. In den Gremien arbeiten Vertreter von Kirchen, Sozial- und Flüchtlingsverbänden, der Ärzteschaft, der Kommunen und diverser Behörden zusammen.

Zu den Gründen, die einen weiteren Aufenthalt des Ausländers hierzulande rechtfertigen können, zählen unter anderem:

Absolutes No-Go: "Straftaten von erheblichem Gewicht"

Konkret überprüfen die Mitglieder der Kommissionen, ob der Antragsteller gut Deutsch spricht, welche Schul- oder Berufsausbildung er hat, wir stark seine sozialen Bindungen sind. Beleuchtet wird zudem die Frage, ob der Ausländer an seiner Identitätsklärung und Passbeschaffung mitgewirkt hat,

"Wichtig ist in der Regel auch, dass die betroffenen Personen selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können", erklärt das Innenministerium Bayern gegenüber FOCUS Online. Zwei Ausschlusskriterien sind sogar explizit im Aufenthaltsgesetz (Paragraf 23 a) niedergeschrieben. Ein positiver Bescheid komme demnach nicht in Betracht, "wenn der Ausländer Straftaten von erheblichem Gewicht begangen hat oder wenn ein Rückführungstermin bereits konkret feststeht".

Junger Afrikaner: Leben in Deutschland "wie ein Traum"

Der mittlerweile 21 Jahre alte Mouctar Diallo hat die Thüringer "Härtefallkommission" überzeugt. Er spricht gut Deutsch, lebt in einer eigenen Wohnung, macht eine Ausbildung zum Stahlbetonbauer, spielt nebenbei Fußball im Verein und trainiert selbst Jugendliche. Seine Integration, sagt Diallo, habe er "auf dem Fußballplatz gemacht". Sein Leben in Deutschland sei "wie ein Traum".


Quelle: focus.de vom 12.02.2021