Veröffentlicht am 25.11.2020 | Lesedauer: 5 Minuten
Von Joachim Wagner
Als ein elfjähriger Schüler an der Christian-Morgenstern-Grundschule in Berlin-Spandau hörte, dass seine Eltern mit Sanktionen rechnen müssten, wenn sie zum üblichen Jahresgespräch nicht erscheinen, drohte er seiner Lehrerin Anfang November mit Enthauptung: "Wenn das passiert, ... mache ich mit dir das Gleiche wie der Junge mit dem Lehrer in Paris."
Fünf Lehrern an anderen Schulen erging es ähnlich, berichtete die Berliner Schulbehörde später. Und auch die Schweigeminute im Gedenken an den ermordeten französischen Lehrer Samuel Paty hat an der Spree eine kleine Zahl muslimischer Schüler gestört. Der Lehrer habe bekommen, was er verdient habe. "Der gehörte hingerichtet. Er hat den Propheten beleidigt", erklärten sie laut "Tagesspiegel".
Die Morddrohungen und Störungen veranschaulichen, wie stark der konservative Islam den Schulalltag auch hierzulande beeinflusst. Zwar hat die Enthauptung Patys durch einen Islamisten auch in den meisten deutschen Schulen eine Welle der Solidarität ausgelöst, gleichzeitig aber schüren einzelne Reaktionen muslimischer Schüler die Sorge, dass auch bei uns eine Gefahr lauert, wenn Pädagogen religiöse Gefühle von Muslimen verletzen.
In Deutschland herrschen noch lange nicht Verhältnisse wie in Frankreich, allerdings haben die Besuche von 21 Schulen in Hamburg, Berlin, Dortmund, Hanau, Nürnberg und etwa 100 Interviews mit 70 Lehrern und muslimischen Schülern für das Buch "Die Macht der Moschee" zu der Erkenntnis geführt: Der politische Islam hat sich in einem Teil unserer Schullandschaft längst zu einem pädagogischen Problem entwickelt.
Gleichzeitig ist es bestrebt, angeblich negative Einflüsse von Christentum, Judentum oder durch die sexuelle Freiheit zu beschränken. Immer wieder fallen muslimische Väter und Mütter als Religionswächter durch hartnäckige Beschwerden und anmaßende Forderungen auf, welche den Lehrkräften mitunter harte Abwehrkämpfe abverlangen.
Weil Muslime in Schul- und Elternversammlungen eine große Minderheit oder sogar die Mehrheit stellen, bestimmen sie die Schulpolitik bei religiösen Themen wie Fasten oder öffentlichem Beten mit. Im Albrecht-Dürer-Gymnasium in Berlin-Neukölln hat diese Mehrheit bereits einmal durchgesetzt, dass eine Klassenreise wegen des Ramadans verschoben wurde.
Hinzu kommt - und das ist bedeutender -,
Religiöse, kulturelle und ethnische Konflikte brechen eher selten direkt im Unterricht auf, dieser ist nach Einschätzung von Pädagogen zu 90 Prozent religionsfrei. Schauplatz der Auseinandersetzungen ist der Schulhof.
Auch das Fasten und Kopftuchtragen im Kindesalter sowie das kompromisslose Durchsetzen von Halal- und Haram-Regeln im Schulalltag bezeichnen die befragten Lehrer als Problem.
Hinter Begegnungen mit dem Christentum fürchten einige muslimische Eltern manchmal die Verführungskünste des Teufels. Nach einem Besuch des Frankfurter Architekturmuseums, das in einem früheren Karmeliterkloster untergebracht ist, beschwerten sich einige Mütter bei Ingrid König, ehemals Leiterin einer Grundschule in Frankfurt-Griesheim, über einen "vermeintlichen christlichen Missionierungsversuch", der ihre Kinder verschmutzt habe.
Eine besondere pädagogische Herausforderung sind antisemitische Ressentiments vor allem arabischer Jugendlicher. In einer Kreuzberger Grundschule weigerten sich arabische Schüler, den Film "Schindlers Liste" zu sehen.
Empirischen Studien zufolge besuchen zwischen 20 und 60 Prozent der muslimischen Jugendlichen auf Wunsch der Eltern Koranschulen. Nicht wenige dieser Eltern entstammen ihrerseits einem religiös-konservativen Milieu, rund 40 Prozent der Muslime werden diesem zugerechnet. Die meisten Koranschulen sind Bastionen der Gegenerziehung, in denen der Gehorsam gegenüber dem Propheten und Glauben ohne kritische Reflexion vermittelt werden.
Viele Lehrerinnen und Lehrer der weltlichen Schulen können nur schwer ertragen, wenn muslimische Mädchen bereits in der ersten und zweiten Klasse ein Kopftuch tragen. Oder Grundschulkinder im Ramadan fasten, obwohl der Koran religiöse Kleidung oder das Fasten erst ab der Pubertät empfiehlt. Die meisten Pädagogen nehmen solches Verhalten allerdings hin.
Banu Graf, Leiterin einer Grundschule in Hamburg-Harburg, ist eine Ausnahme: Sie hat einem Mädchen in der zweiten Klasse das Tragen eines Kopftuches untersagt. "Schule muss ein religionsfreier Ort sein", sagt sie. Nach wochenlangem Streit hat der Vater seine Tochter von der Schule genommen.
Nicht wenige Rektoren wünschen sich, dass die muslimischen Verbände klar Stellung beziehen. Das gilt nicht nur bei der Frage des Kopftuches, sondern etwa auch beim Ritual des Fastens. Dieses belastet den Schulalltag, verschlechtert die Leistungen und schadet der Gesundheit der Kinder, wie Ärzte und Pädagogen wahrnehmen.
Dennoch bleibt eine klare Stellungnahme von offizieller muslimischer Seite aus. "Weder die Eltern noch die Schulen sollten Druck ausüben, dass ein Kind fastet oder Fasten bricht", erklärt Bekir Alboga, Generalsekretär des türkisch-islamischen Verbands Ditib.
Wird sich nach dem Mord an dem französischen Lehrer Paty diese Haltung ändern? Bisher spricht wenig dafür. Immerhin hat das Entsetzen über die Tat, so Udo Beckmann, der Vorsitzende des Pädagogenverbands VBE, die "Sensibilität für den Umgang mit dem Thema Islam noch einmal verstärkt".
Quelle: welt vom 25.11.2020