Veröffentlicht am 16.02.2023 | Lesedauer: 6 Minuten
Von Frederik Schindler
Politikredakteur
Quelle: Bild BZ Exklusiv
Maryam H. wollte ein Leben führen, das für die meisten Frauen in diesem Land selbstverständlich ist. Sie löste sich aus ihrer in Afghanistan geschlossenen Zwangsehe und suchte sich ihren neuen Partner selbst aus. Sie widersetzte sich, als ihre Brüder ihre heranwachsende Tochter unter ein Kopftuch zwingen wollten. Sie traf sich mit Freundinnen, die kein Kopftuch trugen.
Manchmal legte sie ihre weite Kleidung ab und trug etwas eng Anliegendes, wenn ihre Brüder nicht dabei waren. Und einmal ging sie in eine Bar, rauchte Shisha, trank Alkohol, legte ihr Kopftuch ab.
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Maryam H. musste sterben, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Weil sie sich aus Zwang und Gewalt befreite. Und weil sie eigene Entscheidungen treffen wollte. Am 13. Juli 2021 wurde die 34-Jährige in Berlin von ihren Brüdern Yousuf und Mahdi H. erdrosselt.
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Die Männer, damals 25 und 22 Jahre alt, schnitten der Leiche nachträglich die Kehle auf, verbrachten sie in einem Rollkoffer im Zug nach Bayern und verscharrten sie dort nahe eines Schuttabladeplatzes in einem Erdloch. Durch die Tat wollten die Brüder ihre "Familienehre" wiederherstellen, die durch das Verhalten der Schwester vermeintlich verletzt worden war.
Davon ist die 22. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin überzeugt. Am Donnerstagnachmittag werden beide Angeklagte jeweils zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht folgt damit dem Antrag der Staatsanwältin Antonia Ernst.
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41 Tage hatte die Kammer unter Vorsitz von Richter Thomas Groß verhandelt. In einer akribischen Suche nach der Wahrheit wurden Gutachter gehört und zahlreiche Zeugen befragt. Darunter waren mehrere Freundinnen der Getöteten, ihr letzter Partner sowie ihre beiden Kinder. Sie schilderten eindrücklich, wie H. von ihren jüngeren Brüdern kontrolliert, beleidigt und geschlagen wurde; wie sie als Dienerin behandelt wurde und ihre Peiniger trotzdem verteidigte; wie sie zuletzt nach Drohungen der Brüder in Todesangst lebte. WELT begleitete den Prozess an mehreren Verhandlungstagen.
Auch der ältere Angeklagte Yousuf H. hatte sich zur Tat geäußert. Er stellte den Tod seiner Schwester nach vielen Monaten Beweisaufnahme als tragischen Unfall dar. In einem Gerangel habe er ihr den Hals zugedrückt, sie aber nicht töten wollen, sagte er in einer späten Einlassung Anfang September. Seinen jüngeren Bruder, der bei dem Streit nicht anwesend gewesen sei, habe er dann gezwungen, ihm bei der Verschleierung der Tat zu helfen.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese Behauptung konstruiert ist und es sich um einen vorsätzlichen Mord aus niedrigen Beweggründen handelt. In der Urteilsbegründung am Donnerstag benennt Richter Groß eindeutig das der zur Tat zugrunde liegende Motiv: "Sie haben ihr das Lebensrecht abgesprochen und sie allein deshalb getötet, weil Sie archaische Regeln über dieses Menschenrecht stellen", sagt er in Richtung der Verurteilten.
Der "vermeintliche Ehrverlust" und der dadurch entstandene "Schandfleck" durch die neue und außereheliche Beziehung ihrer Schwester habe "ausgelöscht, vernichtet" werden müssen. Der Entschluss zur Tötung sei entstanden, da die Angeklagten die patriarchalen Regeln ihrer Heimat übernommen hätten, nach denen das Verhalten der Schwester die Ehre der gesamten Familie beeinträchtigt habe.
Ein solcher Ehrbegriff sei insbesondere für Frauen "sehr stark einengend", so der Richter weiter. "Keuschheit vor der Ehe, rein bleiben, nicht selbst denken. Sich den familiären Regeln uneingeschränkt unterwerfen." Der Maryam H. zugefügte Halsschnitt mache das Blut in diesem Weltbild "halal" (nach islamischem Recht zulässig) und stelle eine "Reinigung der befleckten Ehre" dar, sagt Groß mit Bezug auf eine im Verfahren als Sachverständige gehörte Islamwissenschaftlerin. H.s Lebensgefährte Farrokh K. hatte bei seiner Zeugenaussage im vergangenen Jahr gesagt, dass H. von ihren Brüdern "wie ein Schaf geschlachtet" worden sei.
Der Vorsitzende Richter zeichnet in der Urteilsbegründung eindrücklich das Leben von Maryam H. in Berlin nach. Die Afghanin habe ein "Doppelleben" geführt: einerseits mit alten Regeln, dem Tragen des Kopftuchs und Pflegen von Zurückhaltung. Andererseits mit dem Erleben einer Beziehung auf Augenhöhe. "Mit Zuwendung, mit Anerkennung als gleichberechtigter Frau." H. habe sich nicht von Familie und Glauben abgewendet, aber sich "ein wenig der hiesigen modernen aufgeklärten Welt zugewendet", so Groß. "Sie hat neu entdeckt, dass man selbstbewusst, selbstständig, selbstbestimmt leben kann."
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Die Angeklagten hingegen lebten ganz anders, wie die Beweisaufnahme zeigte. Yousuf H. führte Beziehungen zu verheirateten Frauen; Mahdi H. trank Alkohol, rauchte, konsumierte Marihuana. Ihre Schwester wollten sie allerdings zu einem ihren Vorstellungen nach "ehrbaren Verhalten" zwingen - durch engmaschige Überwachung, Gewalt und Drohungen.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass sie dies schließlich als gescheitert betrachteten. "Sie lockten sie unter Ausführung eines gemeinsamen Tatplans unter einem Vorwand zum Tatort und führten in gemeinschaftlichem Zusammenwirken und in Tötungsabsicht handelnd den Tod der Schwester herbei", stellt der Richter fest. "Die Liebe führte sie in den Tod. Ihr neuer Partner hat die Frau, die er liebte, verloren. Und zwar sinnlos, ehrlos, verdammenswert."
Hinweise, dass auch die in Afghanistan lebende Familie in den Tatplan eingebunden war, konnten während des Prozesses nicht mit Sicherheit aufgeklärt werden. Davon hatte unter anderem der Lebenspartner des Opfers gesprochen. Das Gericht geht davon aus, dass es entweder einen Auftrag des Familienrats gegeben hat oder die Tötung aus "vorauseilendem Gehorsam" gegenüber der Herkunftsfamilie vollzogen wurde. Aus Sicht des Gerichts spricht für eine Billigung durch die Familie, dass kein Verwandter an der Beerdigung von Maryam H. teilgenommen hatte - auch nicht ihr in Berlin lebender Onkel. Auch gegenüber H.s Kindern hatte es aus der Familie keinerlei Beileidsbekundungen gegeben.
Zum Abschluss seines Vortrags wendet sich der Richter mit deutlichen Worten an die Angeklagten. "Sie haben sie nur getötet, weil sie sich nicht weiter Ihren archaischen Ehrvorstellungen unterwerfen wollte. Sie haben sich als Brüder aufgerufen gefühlt, über Leben und Tod Ihrer Schwester zu entscheiden", sagt er. "Das ist zutiefst verabscheuungswürdig, das sind niedrige Beweggründe, das ist Mord. Und deshalb müssen Sie lebenslang in Haft."
Der Mord an Maryam H. ist kein Einzelfall. In den Jahren 2021 und 2022 wurden in Deutschland mindestens 26 Personen Opfer von versuchten und vollendeten sogenannten Ehrenmorden. Dies geht aus einer Untersuchung der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hervor.
Häufig gehen den Tötungen langjährige Gewalt und Kontrolle voraus, oft geht es vor der Tat um vollzogene, geplante oder seitens des Ehemanns befürchtete Trennungen. Terre-des-Femmes-Referentin Myria Böhmecke sagte WELT: "Der selbstbestimmte Weg in ein Stück persönliche Freiheit kann für Frauen tödlich enden."