Gericht stärkt Rechte von Flüchtlingen in Deutschland

Stand: 03.05.2021 | Lesedauer: 2 Minuten

Flüchtlinge aus Griechenland kommen am Flughafen Hannover an (Symbolbild)
Quelle: dpa/Julian Stratenschulte

Lebt ein Flüchtling in einem EU-Land in prekären Verhältnissen, kann er nach einer illegalen Einreise nach Deutschland trotzdem die vollen Sozialleistungen erhalten. Migrationspolitische Interessen müssten hinter der staatlichen Leistungspflicht zurückstehen, entschied ein Gericht.

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat die Rechte von Flüchtlingen gestärkt, die zwar von einem anderen EU-Land bereits anerkannt wurden, aber dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind. Das Gericht sprach einer aus Nigeria geflüchteten Frau in einem am Montag veröffentlichen Urteil ungekürzte Asylleistungen zu, weil die Frau sich in Italien für ihren Lebensunterhalt prostituieren musste oder bettelte (Az.: L 8 AY 33/16).

Die Stadt Göttingen hatte die Leistungen mit dem Argument gekürzt, die in Italien bereits als Flüchtling anerkannte alleinerziehende Mutter sei nur nach Deutschland eingereist, um hier finanzielle Leistungen zu beziehen. Außerdem habe sie durch den Gang ins Kirchenasyl ihre Abschiebung sabotiert. Die inzwischen geduldete Frau hielt dem entgegen, sie sei in Italien ohne festen Wohnsitz gewesen, habe Angst um Leib und Leben gehabt und in Deutschland auf Hilfe gehofft.

Das Gericht entschied, dass bei materieller Not staatliche Leistungen zwar ein Motiv der Einreise sein könnten, dies aber nicht immer zu einer Leistungseinschränkung führen müsse. Dies gelte bei einer extremen materiellen Notlage, die der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichkomme.

Wenn ein Flüchtling in einem EU-Mitgliedstaat völlig auf sich allein gestellt sei und für längere Zeit auf der Straße leben müsse, müssten migrationspolitische Interessen auch bei einer illegalen Einreise hinter der staatlichen Leistungspflicht zurückstehen. Die Revision zum Bundessozialgericht wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

Kürzlich hatten die Oberverwaltungsgerichte in Münster und Lüneburg im Fall von bereits in Griechenland anerkannten Flüchtlingen entschieden, dass diese wegen der Lage nicht nach dort abgeschoben werden dürften. Für sie bestehe die ernsthafte Gefahr, dass sie dort ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") nicht befriedigen könnten.


Quelle: welt.de vom 03.05.2021

Nach Urteil zu NPD-Plakat : Verfassungsgericht erklärt Richter in Asylverfahren für ungeeignet

Von Marlene Grunert

-Aktualisiert am 09.07.2021-13:00

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 5. November 2019 in Karlsruhe
Bild: dpa

Ein Richter am Verwaltungsgericht Gießen nutzte ein Urteil zu einem NPD-Plakat zu Bemerkungen über Migration. Ein Kläger in einem Asylverfahren stellte deshalb einen Befangenheitsantrag - ohne Erfolg. Die Karlsruher Richter gaben ihm nun Recht.

Im August 2019 sorgte ein Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen für Aufruhr, das nun auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt hat. Ein Richter hatte damals über ein NPD-Wahlplakat zu urteilen, auf dem stand: "Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt". Er entschied, dass der Slogan nicht volksverhetzend sei - und nutzte die Gelegenheit für ausführliche politische Bemerkungen.

Marlene Grunert

Redakteurin in der Politik.

In einem späteren Asylverfahren beantragte ein Kläger aus Afghanistan, den Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, was das Verwaltungsgericht zurückwies. Der Mann zog daraufhin vor das Bundesverfassungsgericht, das ihm nun Recht gab und seine Beschwerde als "offensichtlich begründet" bewertete.

In dem früheren Urteil hatte der Gießener Richter etwa geschrieben, die Einwanderung stelle "naturgemäß eine Gefahr für kulturelle Werte an dem Ort dar, an dem die Einwanderung" stattfinde. Die bestehende "Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben" sei "nicht von der Hand zu weisen". Weiter hieß es: Die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014/2015 habe zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt habe als auch geeignet sei, "auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu führen."

"Offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich"

Die Gießener Richter erkannten darin keinen Anlass, um an der Unparteilichkeit ihres Kollegen zu zweifeln - eine Einschätzung, die das Bundesverfassungsgericht nun als "offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich" bewertete. Die Äußerungen des Richters seien "offensichtlich geeignet", Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu begründen, so die Verfassungsrichter.

In "hervorgehobenem Maße" gelte das auch für die Passagen, in denen der Verwaltungsrichter ausgeführt habe, bei der Wendung "Migration tötet" handele es sich um eine empirisch zu beweisende Tatsache. Er zählte in dem Urteil Einzelfälle von Asylsuchenden auf, die im Nachhinein wegen Mordes oder anderer schwerer Straftaten verurteilt worden seien.

Im Karlsruher Beschluss heißt es dazu: "Damit verengt das Verwaltungsgericht den weitergreifenden Begriff der Migration auf die Gruppe der Asylsuchenden - die indes auf dem zu beurteilenden Wahlplakat keine Erwähnung fand - und stellt aus dieser Gruppe die später mit schweren Straftaten straffällig gewordenen Personen als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration dar."

Um den rechtlichen Charakter des NPD-Slogans ging es in Karlsruhe nicht; auch dem Kläger war es nicht darum gegangen. Er pochte vielmehr auf sein Recht auf einen gesetzlichen Richter. Es garantiert auch Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.


Quelle: FAZ vom 09.07.2021