Stand: 14.04.2020
Von Tim Röhn
Ausgerechnet jetzt, da die Überfahrten aus Afrika wieder zunehmen, stellen Staaten die Rettung von Migranten und Flüchtlingen auf dem Mittelmeer ein. Als Grund geben sie die Furcht vor Covid-19 an. Die Folge sind dramatische Zustände im zentralen Mittelmeer.
Mit aufgeregter Stimme berichtet eine Frau von der Lage an Bord eines Bootes im Meer zwischen Afrika und Europa. "Wir sind nicht okay, wir sind nicht okay", ruft sie und erzählt von einem sieben Jahre alten Kind, das mit dabei und krank sei, von mehreren bewusstlosen Menschen und der Tatsache, dass sie schwanger sei. Man habe gehört, dass Rettung kommen solle, "aber wir können niemanden sehen".
Es ist der verzweifelte Hilferuf einer Frau, die an der libyschen Küste ein Boot bestiegen hat, um von dort in die Europäische Union zu gelangen - ein hochriskantes Unterfangen, das seit Jahren regelmäßig in Katastrophen mit vielen Toten endet.
Um auf die Lage der Frau und der 46 anderen Insassen des Bootes aufmerksam zu machen, veröffentlichten die Aktivisten der internationalen Initiative "Alarm Phone" am Wochenende Ausschnitte des Telefonats mit ihr.
Im Angesicht der Covid-19-Krise verhallen sie sogar fast gänzlich unerhört. Seit Tagen sind Boote mit Migranten im zentralen Mittelmeer zwischen Libyen in Nordafrika und den ersten Anlaufpunkten in der Europäischen Union unterwegs - die italienischen Inseln Sizilien und Lampedusa sowie Malta. Mindestens vier Boote gerieten in Turbulenzen.
Zwei davon erreichten schließlich eigenständig die italienische Küste. Eines - jenes, auf dem die verzweifelt um Hilfe bittende Frau saß - wurde dabei von der "Aita Mari" entdeckt, dem Rettungsschiff einer spanischen Nichtregierungsorganisation, das sich auf dem Weg von Sizilien nach Spanien befand. Es besitzt weder die nötige personelle noch logistische Ausstattung für Rettungen auf hoher See.
55 Menschen, die sich wiederum an Bord des vierten Bootes befinden sollen, wurden bislang nicht gerettet. Am Sonntagmittag war der telefonische Kontakt abgebrochen, seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr. Die Besatzung eines Frachtschiffs hatte das Boot am Montagabend zwar entdeckt, konnte aber aufgrund der Größe des Ozean-Riesen nach eigenen Angaben nicht einschreiten.
Britta Rabe arbeitet seit fünf Jahren beim "Alarm Phone", sprach immer wieder mit Menschen, die sich in Lebensgefahr auf offenem Meer befinden. "Die Situation in diesen Tagen ist die schlimmste, die ich in all den Jahren erlebt habe", sagte Rabe am Dienstag im Gespräch mit WELT: "Die Küstenwachen in Italien, Malta und Libyen retten nicht mehr. Niemand, der in Seenot gerät, erhält Hilfe." Und die Boote, sie legen trotzdem in Libyen ab. Insgesamt kamen nach Angaben des "Alarm Phone" in der vergangenen Woche ohne fremde Hilfe Hunderte Menschen an der italienischen Küste an.
Wie jeden Frühling nimmt das Drama im Mittelmeer in diesen Tagen und Wochen Fahrt auf. Bei gutem Wetter schicken Schmuggler ihre menschliche Ware wieder vermehrt aufs Meer, so wie in der vergangenen Woche. Als ein Boot am Donnerstag in maltesische Gewässer eingefahren war, sei den Insassen zufolge ein Schiff der Küstenwache aufgetaucht, man sei attackiert worden. Demnach seien Beamte auf das Migrantenboot gestiegen, hätten den Motor zerstört und seien dann wieder verschwunden.
Der Vorfall löste international Empörung aus. Wenig später holten die Malteser die Menschen dann doch an Land. Im Anschluss stellten sie dann klar, dass kein weiteres Boot akzeptiert werde. Italien äußerte sich ähnlich. Grund dafür sei die Coronavirus-Pandemie.
Und in der Tat: Zwar ließen Italien und Malta Flugzeuge und Helikopter aufsteigen, um Migrantenboote zu sichten. Auch ein von der EU-Grenzschutzbehörde Frontex gecharterter Privatjet beteiligte sich an der Suche. Aber der Hilferufe des "Alarm Phone" und anderer Helfer zum Trotz blieben die staatlichen Rettungsschiffe in den Häfen.
Auch was bereits Gerettete angeht, so zeigen Italien und Malta Härte. Das Schiff "Alan Kurdi" der deutschen Nichtregierungsorganisation "Sea-Eye", das vor einer Woche 150 Migranten vor Libyen aufnahm, findet bislang ebenso wenig einen Hafen zum Anlegen wie die spanische "Aita Mari". Crews und Gerettete wurden von den Behörden mit Lebensmitteln versorgt, aber an Land darf bislang niemand gehen.
Wie so oft in den vergangenen Jahren ist es eine festgefahrene Situation, und in der aktuellen Situation sorgt die Furcht vor Covid-19-Infektionen für zusätzliche Härte bei den Regierungen, die ihre Häfen öffnen könnten. Ein "Sea-Eye"-Sprecher teilte WELT jedoch mit, die Schiffsärztin sage, dass nach neun Tagen auf dem Schiff niemand Symptome zeige, und die Crew ohnehin schon drei Wochen zusammen unterwegs sei. "Mit jedem Tag", so der Aktivist, "wird Covid-19 ein unwahrscheinlicheres Szenario an Bord".
Quelle: welt.de vom 14.04.2020